Text
Politische Lage.
Der Reichskanzler teilte mit, daß der Präsident des aufgelösten Reichstages ihm in Erwiderung des in der Nachmittagssitzung beschlossenen Schreibens die Beschlüsse des Reichstags über die Annahme der kommunistischen Anträge[562] Nr. 44 (Mißtrauensvotum gegen die Reichsregierung) und 118 und 119 (Ablehnung der Notverordnung vom 4. September und der Verordnung der Reichsregierung vom 5. September) mitgeteilt habe1.
Staatssekretär Planck teilte mit, daß der Abgeordnete Löbe ihn fernmündlich von der Einberufung des Überwachungsausschusses2 auf Dienstag, den 13. September vormittags 11 Uhr, unterrichtet und gebeten habe, daß der Herr Reichskanzler zu der Sitzung erscheinen möge, damit der Ausschuß Gelegenheit habe, nicht nur die Auffassung des Reichstags, sondern auch die Auffassung der Reichsregierung kennenzulernen. Der Abgeordnete Löbe habe hinzugesetzt, daß sich der Herr Reichskanzler für den Fall, daß er nicht selbst erscheinen wolle, ja auch vertreten lassen könne.
Das Kabinett beschloß, den Herrn Reichsminister des Innern und den Herrn Reichsminister der Justiz mit der Vertretung der Reichsregierung im Überwachungsausschuß zu beauftragen3.
Der Reichsminister des Innern berichtete kurz über den Verlauf der von ihm um 7 Uhr abgehaltenen Pressebesprechung. Er erwähnte insbesondere, daß besonders stark nach dem Termin für Neuwahlen gefragt worden sei. Er habe geantwortet, daß die Reichsregierung noch keine Entschließung darüber gefaßt habe, welchen Tag sie dem Herrn Reichspräsidenten für die Neuwahlen vorschlagen werde. Er habe in diesem Zusammenhang auch ferner darauf hingewiesen, daß ja von nationalsozialistischer Seite die Anrufung des Staatsgerichtshofs angekündigt worden sei zwecks Feststellung, ob der Reichstag rechtswirksam aufgelöst sei4. Man könne nicht an die Neuwahlen eines Reichstags herangehen, so lange der alte Reichstag behauptet, daß er noch nicht aufgelöst sei, denn es sei ein Unding, zwei Reichstage nebeneinander bestehen zu lassen.
Während der Sitzung wurde bekannt, daß die Zentrumsfraktion folgenden Beschluß veröffentlicht hat:
„Die Zentrumsfraktion des Reichstags besprach am Montagabend die durch die Auflösung des Reichstags geschaffene Lage. Die einmütige Auffassung der Zentrumsfraktion geht dahin, daß sie in der Auflösung des Reichstags eine schwere Schädigung von Volk und Wirtschaft sowie eine verhängnisvolle Verschärfung der innerpolitischen Spannungen und Gegensätze erblickt. Nach der Auffassung der Zentrumsfraktion hätte eine erneute Erschütterung des gesamten Volkslebens vermieden werden müssen und können. Die Zentrumsfraktion habe nichts unversucht gelassen, um alle positiven Möglichkeiten zu einer sachlichen Zusammenarbeit zwischen Reichsleitung und Volksvertretung auszuschöpfen.“
Reichskommissar Dr. Bracht teilte mit, daß er zuverlässig erfahren habe,[563] daß die ursprünglich für Dienstag5 in Aussicht genommene Vollsitzung des Reichstags abgesagt sei.
Der Reichskanzler stellte sodann die Frage zur Erörterung, wie man der Reichsregierung eine breitere Basis nach unten verschaffen könne6.
Mit dieser Frage werde sich das Kabinett in den nächsten Tagen eingehender befassen müssen. In Vorbesprechungen mit einzelnen Kabinettsmitgliedern sei bereits in Aussicht genommen, eine besondere Propagandastelle zu schaffen, die dem Reichspressechef unterstellt werden müsse. Man habe auch schon eine bestimmte Persönlichkeit zur Leitung dieser Propagandastelle ins Auge gefaßt, nämlich den dem Reichswehrministerium angehörigen Herrn Karmann.
Beschlüsse wurden nicht gefaßt. Die Besprechung soll in den nächsten Tagen fortgesetzt werden7.
Fußnoten
- 1
Vgl. Dok. Nr. 134, P. 1, dort auch Anm 9.
- 4
Bezieht sich offenbar auf die Erklärung Görings vor der Presse am späten Nachmittag des 12. 9.: „Die Abstimmung bestehe unter allen Umständen zu Recht, und das Ministerium Papen sei mit einer erdrückenden Mehrheit gestürzt worden. Einige Länderregierungen beabsichtigten, eine Entscheidung des Staatsgerichtshofs herbeizuführen. Bis dahin werde er sich jeder Amtshandlung enthalten.“ (Horkenbach 1932, S. 321; „VB“ vom 14. 9.).
- 5
13. 9.
- 6
Zur vorangegangenen Behandlung dieser Frage s. Anm 5 zu Dok. Nr. 121. – In einem vermutlich für die Dienatag (Dienst nationaler Tageszeitungen, Berlin) gefertigten „Informationsbericht“ vom 6. 9. (Unterschrift: Dertinger) hieß es hierzu u. a.: „Die Verhandlungen über die Bildung einer Papen- oder sogen. Präsidialpartei gehen noch immer weiter, haben aber nach der Absage der Deutschnationalen keine besonderen Erfolgsaussichten. Es wird an sich bei den Befürwortern dieser Parteigründung die Rechnung aufgemacht, daß es möglich sein würde, den Nationalsozialisten etwa 40 Mandate zu nehmen, den Deutschnationalen etwa 15 und aus dem Treibholz der Splitterparteien etwa 20 Mandate zu gewinnen und schließlich dem Zentrum etwa 10 Mandate abzunehmen. Man käme also auf etwa 85 Mandate. Man sieht aber inzwischen ein, daß damit auch noch nichts gewonnen ist, denn eine Mehrheitsbildung ist dann immer nur möglich entweder mit den Sozialdemokraten oder mit den Nationalsozialisten. Das Zentrum müßte unter allen Umständen mit von der Partie sein. Die Regierung Papen würde also ihre Lage in keiner Weise verbessern. Eine Erschwerung der Verhandlungen bildet außerdem die Tatsache, daß zwar der Stahlhelm grundsätzlich wohl mitmachen könnte, sich aber in einer inneren Krise wegen der jüdischen Verwandtschaft Düsterbergs befindet.“ (ZSg. 101/25, Bl. 263). Weitere Materialien hierzu (u. a. betr. Schaffung eines bürgerlichen „Reichsblocks“) in R 43 I/1008.
- 7
Vgl. dazu Dok. Nr. 141, P. 1, dort bes. Anm 10.