Text
Innenpolitische Lage.
Der Reichskanzler führte aus2, daß die Reichsregierung durchaus föderalistisch eingestellt sei. Die Reichsregierung habe diesen Standpunkt schon häufig betont.
Nach seiner Auffassung sei das Urteil des Staatsgerichtshofs in der Frage der Einsetzung eines Reichskommissars für das Land Preußen3 bedauerlich. Er als Reichskommissar für das Land Preußen habe sich gezwungen gesehen, eine Reihe von Vereinfachungsmaßnahmen in Preußen durchzuführen. Diese Maßnahmen lägen durchaus im Zuge der Verwaltungsreform.
Gegen die Personalverklammerung Preußens mit dem Reiche habe eine Anzahl von Ländern Einspruch erhoben4. Angeblich sei durch diese Verklammerung eine Verschiebung der Gleichgewichtslage der Länder eingetreten. Diese Auffassung sei durchaus irrig. Die Vertretung Preußens im Reichsrat stehe nach der Entscheidung des Staatsgerichtshofs der alten preußischen Regierung zu.
Im übrigen stehe die Reichsregierung der Mehrzahl der Wünsche, welche die Länder geäußert hätten5, nicht ablehnend gegenüber. Was die Reichsreform anlange, so sei das Reich durchaus bereit, die Länder an der endgültigen Gestaltung des Entwurfs zu beteiligen, bevor der Entwurf den gesetzgebenden Körperschaften zugeleitet werde. Die Länder müßten sich jedoch dafür bereit erklären, jede Erörterung des Problems Reich–Preußen im Sinne eines Angriffs auf die Reichsregierung im Reichsrat zu unterlassen.
Für die Lösung der Frage der Reichsreform sehe er nur 2 Möglichkeiten:[921] entweder werde die Reichsreform unter einer Reichskanzlerschaft Hitlers oder unter seiner eigenen Reichskanzlerschaft durchgeführt werden. Er glaube allerdings nicht, daß der Herr Reichspräsident Hitler zum Reichskanzler ernennen werde. Immerhin bitte er die Länder zu bedenken, ob unter einer Reichskanzlerschaft Hitlers die Reichsreform für die Länder vorteilhafter ausfallen werde.
Ministerpräsident Dr. Held betonte, daß die Länder keinerlei Verpflichtungen eingehen könnten, Angriffe auf die Reichsregierung einzustellen, wenn sie nicht wüßten, welche Ziele die Reichsregierung in bezug auf die Reichsreform verfolge. Er glaube nicht, daß die Reichsregierung berechtigt sei, Teile der Reichsreform vorweg zu regeln. Die Reichsregierung habe bei ihren inzwischen in Preußen getroffenen Maßnahmen nicht einmal die Begründung des Urteils des Staatsgerichtshofs abgewartet. Es sei nach seiner Auffassung rechtlich unzulässig, sämtliche Funktionen einer Landesregierung einem Reichskommissar zu übertragen. Es sei auch verfassungswidrig, wenn der Reichskommissar ein Ministerium aufhebe, wie das in Preußen geschehen sei6. Im übrigen sei einer Regierung die Vertretung eines Landes im Reichsrat nicht möglich, wenn ihr der Apparat nicht zur Verfügung stehe. Der Dualismus Reich–Preußen habe keinen Notstand im Sinne des Art. 48 der Reichsverfassung begründet. Es frage sich, ob die Reichsregierung überhaupt noch in der Lage sei, eine Reichsreform durchzuführen, die nicht auf Art. 48 der Reichsverfassung beruhe. Die Reichsregierung müsse den festen Willen haben, mit den Parteien des Reichstags zu einem Arrangement zu kommen. Die meisten Parteien des Reichstags seien nach seiner festen Überzeugung durchaus guten Willens, zu einem modus vivendi mit der Regierung zu kommen7.
Der Reichskanzler erwiderte, daß auch unter der Reichskanzlerschaft Dr. Brünings nur die Fiktion eines Parlamentarismus bestanden habe. Nicht unter ihm, Reichskanzler von Papen, sei der Artikel 48 zuerst angewendet worden, sondern schon weit früher. Brüning habe lediglich mit Hilfe des Art. 48 regiert. Die Fortführung seiner Politik wäre in dem Augenblick unmöglich geworden, als die Sozialdemokratie die entscheidende Machtposition in Preußen verloren hätte. Dann hätte die Sozialdemokratie auch kein Interesse mehr daran gehabt, die Politik Brünings im Reichstage zu tolerieren. Auch er, der Reichskanzler, sei der Auffassung, daß der Wille des Volkes wieder zur Geltung kommen müsse. Er könne jedoch die vielfach vertretene Auffassung nicht teilen, daß die Frage der Reichsreform jetzt nicht weiter verfolgt werden solle. Vielmehr lehre die Geschichte, daß alle Reformen gerade in Krisenzeiten durchgeführt werden müßten.
[922] Durch die Ernennung einiger Reichskommissare in Preußen zu Reichsministern ohne Portefeuille sei keineswegs ein Stück der Verfassungsreform, am allerwenigsten das Kernstück vorweg genommen worden. Der jetzt bestehende Zustand der praktischen Beseitigung des Dualismus Reich–Preußen müsse später legalisiert werden.
Was den Weg der Reichsreform anlange, so werde die Reichsregierung jeden legalen Weg gehen. Dieser Weg werde natürlich erschwert werden, wenn im Reichsrat sich eine scharfe Gegnerschaft gegen die Reichsregierung behaupte. Die Reichsregierung begrüße es durchaus, wenn der Reichsrat weiter arbeite8.
Ministerpräsident Dr. Held warf die Frage auf, ob die Verordnung vom 20. Juli über die Einsetzung eines Reichskommissars für das Land Preußen dann aufgehoben würde, wenn der Preußische Landtag einen Ministerpräsidenten wähle.
Der Reichskanzler erwiderte, daß mit einer Aufhebung der Verordnung jedenfalls dann nicht zu rechnen sein werde, wenn Kommunisten und Nationalsozialisten sich zur Wahl eines Ministerpräsidenten vereinigten.
Ministerpräsident Dr. Held führte aus, er sehe nunmehr klar, daß die Reichsregierung in Preußen kein Provisorium geschaffen habe. Es entstehe die Frage, ob die Reichsregierung auch im Reichsrat die Willensbildung an sich reißen wolle. Er vermisse eine genügende Fühlungnahme in allen Fragen mit den Vertretern der Länder.
Staatspräsident Dr. Bolz führte aus, daß das anfängliche Mißtrauen der Länder gegen die Maßnahmen der Reichsregierung durch die Stuttgarter Aussprache9 beseitigt worden sei. Dieses Mißtrauen sei aber in letzter Zeit erneut aufgewacht. Vielleicht sei es möglich, eine Zustimmung des Reichsrats zur Reichsreform zu erlangen. Der Reichstag werde der Reichsreform niemals mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zustimmen. Deshalb sei er der Auffassung, daß die Reichsreform zurückgestellt werden müsse. Die Reichsregierung müsse die Verfassung als das Grundgesetz jeden Staates peinlich genau anerkennen. Nach seiner Auffassung seien die Parteien des Reichstages durchaus bereit, die Führung im Reiche freiwillig der Reichsregierung zu überlassen. Sie dürften jedoch nicht, wie bisher, von der Reichsregierung von oben herab behandelt werden. Er habe das Gefühl, daß viele Leute den Konflikt der Reichsregierung mit dem Reichstag wollten. Eine derartige Einstellung halte er für außerordentlich gefährlich.
Das Problem einer parlamentarischen Untermauerung der Reichsregierung bestehe in einer Heranziehung der Nationalsozialisten. Er habe die Nationalsozialisten[923] in früheren Zeiten erbittert bekämpft, sehe jetzt aber keine andere Möglichkeit, als die Nationalsozialisten zu verantwortlicher Mitarbeit heranzuziehen.
Zu einem Verfassungsbruch werde er niemals die Hand reichen.
Der Reichskanzler richtete an den Staatspräsidenten Dr. Bolz die Frage, ob er mit einer Kanzlerschaft Hitlers einverstanden sein werde.
Staatspräsident Dr. Bolz erwiderte, daß er diese Frage nicht absolut verneinen wolle, obwohl auch er die Gefahren einer Kanzlerschaft Hitlers sehe. Immerhin habe der Herr Reichspräsident es in der Hand, Hitler jederzeit von seinem Posten als Reichskanzler abzuberufen.
Ministerpräsident Dr. Held führte aus, daß er an einen Erfolg der Verhandlungen mit den Nationalsozialisten glaube, wenn die Reichsregierung ernsthaft den Willen habe, die Nationalsozialisten an der Regierung zu beteiligen.
Ministerpräsident Schieck betonte, daß eine einheitliche Linie der Politik für die Reichsregierung und die Länderregierungen gefunden werden müsse. Den jetzigen Zustand in Preußen lehne der Reichsrat ab. Zwei Regierungen in einem Lande seien auf die Dauer unmöglich.
Nach seiner Auffassung sei es durchaus möglich, mit den Parteien des Reichstags zu einem Arrangement zu kommen. Ihm selbst sei es in Sachsen gelungen, die Regierung von den Parteien des Landtags vollkommen unabhängig zu machen. Er habe andererseits aber auch nie die Fühlung mit dem Parlament verloren. Ein sozialdemokratischer Abgeordneter habe ihm ausdrücklich zugestanden, daß er, der Ministerpräsident Schieck, den Parlamentarismus richtig verstehe und anwende.
Staatspräsident Dr. Schmitt führte aus, daß es möglich sein müsse, im Reichstag eine Tolerierungsmehrheit zu erreichen. Nach seiner Ansicht solle der Reichskommissar in Preußen möglichst bald verschwinden. Eine Reichsreform müsse in aller Ruhe durchgeführt werden. Zur Zeit seien andere Aufgaben nach seiner Auffassung viel dringlicher. Immerhin sei er bereit, an einer Reichs- und Verfassungsreform mitzuarbeiten, durch die der Reichsrat zum gleichberechtigten Faktor der Gesetzgebung gemacht werde.
Der Reichsminister des Innern betonte, daß kein Land vergewaltigt werden solle. Die Reichsregierung erblicke ein wichtiges Ziel der Reichsreform u. a. in der Neuordnung der Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern. Es müßten weit mehr Zuständigkeiten als bisher den Ländern übertragen werden. Die Fondswirtschaft des Reichs müsse aufhören.
Der Reichskanzler kam nochmals auf seinen ursprünglichen Vorschlag zurück, die Länder sollten bei der morgigen (12. 11.) Beratung im Reichsrat Zurückhaltung üben. Die Reichsregierung werde dann ihrerseits bereit sein, den Ländern gewisse Zusicherungen auf dem Gebiete der Reichsreform zu machen10.
[924] Es wurde sodann über den beiliegenden Entwurf eines Antrages11 für die Ausschüsse des Reichsrats eingehend verhandelt und im wesentlichen Einverständnis erzielt. Die endgültige Formulierung soll am Vormittag des 12. November in einer eingehenden Aussprache zwischen den Reichsministern des Innern und der Justiz und den Staats- beziehungsweise Ministerpräsidenten von Bayern, Sachsen, Baden und Württemberg gefunden werden12.
Die Sitzung der Ausschüsse des Reichsrats soll in der Weise zeitlich getrennt werden, daß am Vormittag nur Finanzfragen behandelt werden und die politische Aussprache auf den Nachmittag des 12. November verschoben wird.
Über die von den Ländern entworfenen 8 Punkte für eine Reichsreform13 wird der Reichsminister des Innern mit den Ländern weiter verhandeln14. Das Reichskabinett wird sich wahrscheinlich im Laufe der nächsten Woche (ab 14. November) mit diesen Fragen befassen15.
Fußnoten
- 2
Nach der bayer. Aufzeichnung (vgl. Anm 1) wurde der RK „einleitend vom bayerischen Ministerpräsidenten gebeten, sich über die vergangenen Ereignisse und den künftigen Weg der inneren Politik auszusprechen“. Er habe sich dazu bereit erklärt und auf die Stuttgarter Länderkonferenz vom 23.7.32 (Dok. Nr. 83) hingewiesen, „wo es allgemeine Meinung gewesen sei, der Schritt in Preußen sei geeignet, zu einer weiteren Reform zu führen“, und wo auch Übereinstimmung dahin bestanden habe, daß „der Dualismus Reich–Preußen beseitigt werden müsse“.
- 6
Das pr. Ministerium für Volkswohlfahrt, vgl. Dok. Nr. 181, P. 1 und 2.
- 7
Die bayer. Aufzeichnung (vgl. Anm 1) verzeichnet für diesen Zusammenhang folgende Ausführungen Helds: „Was gemacht worden sei, sei nicht rechtsbeständig. Primär fordere er Aufhebung oder doch ganz vorübergehende Dauer des jetzigen Zustandes. Scheine dies nicht möglich, so müsse er Gegenforderungen aufstellen. Die Reichsregierung müsse jedoch in erster Linie überlegen, ob sie den jetzigen Zustand nicht beseitigen könne, um dann den Versuch zu machen, die Beseitigung des Dualismus auf verfassungsmäßigem Wege zu erreichen. Er sei kein Gegner der Verfassungsreform, sehe aber keinen gangbaren Weg. Das Volk müsse maßgebend sein für die Willensbildung des Staates. Revolution von oben provoziere die von unten. Verbindung und Zusammenarbeit mit den Parteien des Reichstags sei unerläßlich. Aus diesem Motiv heraus habe er den Kampf in den letzten Tagen geführt, der kein persönlicher Kampf gewesen sei, sondern der Kampf um das Staatsprinzip.“
- 8
Nach der bayer. Aufzeichnung führte Papen an dieser Stelle noch weiter aus: „Die Reichsregierung habe die Rechte der Länder nicht antasten wollen. Er – der Kanzler – sei bereit zu verhandeln. Er gehe morgen, wenn sich ein Nachfolger zur Durchführung der nationalen Konzentration finde. Jetzt sei nichts mehr notwendig als Einigkeit. Der Reichspräsident habe die eingetretenen Mißverständnisse bedauert und ihr Zustandekommen nicht begriffen. Man solle sich doch nicht immer an die Öffentlichkeit wenden. Eine Vertrauensbasis zwischen dem Reich und den Ländern sei nötig; sie wiederherzustellen, Zweck der heutigen Unterhaltung. Daß die Maßnahmen in Preußen wieder rückgängig gemacht würden, sei unmöglich.“
- 9
Die Stuttgarter Länderkonferenz, vgl. oben Anm 2.
- 10
In der bayer. Aufzeichnung (vgl. oben Anm 1) ist noch folgende, anscheinend unmittelbar an diese Ausführungen des RK anschließende Auseinandersetzung wiedergegeben:
„Der bayerische Ministerpräsident lehnte auch nur den Schein eines Abkaufs ab. Im Reichsratsausschuß müsse zur Rechtswahrung eine Entschließung mit einer Begründung vorgelegt werden, die streng sachlich unsere Auffassung über die Rechtslage zur Geltung bringe. Im Plenum sollen keine weiteren Debatten stattfinden.
Reichskanzler Die ihm vorliegende Entschließung biete keine Grundlage zur Weiterarbeit.
Bayerischer Ministerpräsident: Sie sei das Minimum dessen, was gesagt werden müsse.
Reichskanzler Dann binden wir uns nicht an gewisse Dinge. Die Entschließung bedeutet eine Minderung der Autorität des Reichspräsidenten.
Der bayerische Ministerpräsident bedauert, daß dieser in die Debatte gezogen würde.
Der Reichsinnenminister weist darauf hin, daß die preußische Regierung in der vergangenen Woche ihre Funktionen im Reichsrat ungestört ausüben konnte.
Der Reichsjustizminister warnt, in der Entschließung ein Rechtsurteil zu fällen.
Der bayerische Ministerpräsident erklärt sich bereit, nur auf die faktische Darstellung einzugehen, mehr zu konzedieren sei er nicht in der Lage.“