Text
Nr. 279
Vermerk des Staatssekretärs Pünder über eine Unterredung mit dem Reichsernährungsminister wegen der Agrarpolitik. 10. April 1931
Auf Wunsch des Herrn Reichsernährungsministers Schiele hatte ich mit diesem heute eine 1½stündige Aussprache über die Erledigung seiner Kabinettsvorlage durch das Reichskabinett1. Er entwickelte mir zunächst, zum Teil anhand von Zuschriften und Zeitungsartikeln2, seine mittlerweile unhaltbar[1012] gewordene Lage, wenn nicht jetzt sofort dem Ermächtigungsgesetz3 vom Reichskabinett Inhalt gegeben werde. Auf seine Frage, wie wohl der Herr Reichskanzler zu den Dingen stehe und wie ich die Stimmung des Reichskabinetts beurteile, entwickelte ich ihm die Lage etwa wie folgt:
In der letzten Kabinettssitzung vor Ostern4, die nach Auffassung des Herrn Reichskanzlers leider zu plötzlich und in Abwesenheit nächstbeteiligter Minister hätte veranstaltet werden müssen, seien ja keine positiven Beschlüsse gefaßt worden; vielmehr habe der Herr Reichskanzler abschließend festgestellt, daß die in Aussicht genommenen Kabinettsbeschlüsse durch ein besonderes Rundschreiben der Reichskanzlei den Kabinettsmitgliedern mitgeteilt werden sollten. Für die Absendung dieses Briefes sei der heutige Tag in Aussicht genommen mit der Maßgabe, daß die Kabinettsbeschlüsse alsdann mit Ablauf des kommenden Montag als gefaßt gelten sollten5. Der Herr Reichskanzler stehe auch noch heute zu dieser Linie. Was den sachlichen Inhalt eines solchen Rundschreibens aber angehe, müsse ich ihm erklären, daß mir hinsichtlich der Schweinezölle – was ja der wichtigste Punkt der Vorlage und des Kabinettsbeschlusses sei – die Erwirkung eines Zollsatzes von 40 RM ausgeschlossen erscheine. Ich hielte es für zweifellos, daß gegen einen solchen Zollsatz von 40 RM seitens der Herren Reichsminister Curtius, Dietrich und Stegerwald sofort Einspruch eingelegt werde, so daß alsdann nach der Geschäftsordnung der Reichsregierung eine Kabinettssitzung angesetzt werden müßte. Da somit in der entscheidenden Frage ein ihn, den Ernährungsminister, befriedigender Beschluß nicht zu erwarten sei, schlüge ich ihm vor, auf ein solches Rundschreiben heute überhaupt zu verzichten und eine erneute Aussprache in der ersten Kabinettssitzung nach den Osterferien in Aussicht zu nehmen. Hinzu komme noch, daß nach einer hier soeben vom Herrn Reichskanzler eingegangenen Nachricht dem Herrn Reichsaußenminister im Zusammenhang mit der Frage der deutsch-österreichischen Zollunion überhaupt in diesem Augenblick ein Beschluß über Schweinezölle sehr inopportun erscheine6.
- 4
S. Dok. Nr. 277, P. 1.
- 5
Der von Pünder abgezeichnete Entw. des Rundschreibens enthielt folgende Bestimmungen:
1. Die Zölle für lebende Schweine werden auf 36 RM je dz heraufgesetzt. Die Mehrheit der RMM sei am 31.3.31 bereit gewesen, diese Zölle gemäß Antrag des REM auf 40 RM zu erhöhen. Dieser Zoll solle nach einer Einigung zwischen REM und RFM als beschlossen gelten. Ebenso werde der Zollsatz für Schweinefleisch heraufgesetzt.
2. Erhöhung des Zolls für Gänse auf 2,10 RM je Stück für die Zeit vom 16. 10. bis 31. 3.
3. a) Haferzollerhöhung auf 16 RM, b) Erbsenzollerhöhung auf 20 RM, c) Erhöhung des Zolls für Bohnen und sortierte Linsen auf 8 RM, für Futterbohnen, Lupinen und Wicken auf 5 RM.
Der REM habe die Anträge auf Zollerhöhungen für Korbweiden und Reifenstäbe zurückgestellt. Wegen der Einfuhrscheine werde sich der REM mit dem RFM ins Benehmen setzen; ebenso werde er mit dem AA wegen der Zusicherung eines Veterinärkontingents von 7000 Rindern an Rumänien Verbindung aufnehmen. Der RK werde wegen der Aufhebung der Zwischenzölle für Speck und Schmalz die endgültige Entscheidung treffen, sobald er vom REM befriedigende Mitteilungen über die Senkung der Preisspanne für Schweinefleisch erhalten habe. Diese Beschlüsse der RReg. sollten mit Ablauf des 13.4.31 als angenommen gelten (Entw. und Abschrift des Reinkonzepts in R 43 I/2426, Bl. 322–326).
- 6
Einem Vermerk des ORegR Pukaß zufolge hatte der RK bereits am 8.4.31 die Rkei telefonisch aus Badenweiler über eine Unterhaltung mit dem RAM unterrichtet. MinDir. Ritter werde ihn, den RK, am 9.4.31 aufsuchen, um ihm noch nähere Ausführungen über die Auswirkung der Erhöhung der Zollsätze auf die dt. Handelsverträge zu machen. Daher müsse das Rundschreiben möglicherweise noch einigen Modifikationen unterzogen werden (R 43 I/2426, Bl. 321).
[1013] Herr Minister Schiele und ich haben uns alsdann über das zweckmäßige Vorgehen noch sehr lange auseinandergesetzt – übrigens in größter Harmonie und Offenheit – und kamen übereinstimmend zu folgendem Ergebnis:
Herr Minister Schiele verzichtet heute auf das in Aussicht genommene Kabinettsrundschreiben. Da es ihm höchstens einen Schweinezoll von 36 RM bringen könnte, würde der Brief ihm in keiner Weise nützen. Die drei Vertreter der Grünen Front, Brandes, Hermes und Fehr – also ohne Graf Kalckreuth – haben sich für kommenden Mittwoch bei Herrn Minister Schiele angesagt. Mit diesen drei Herren als den besonnensten Vertretern der Grünen Front, denen er sich sachlich und politisch gegenüber verpflichtet fühle, werde er die Sachlage in Ruhe durchsprechen und davon seine weiteren Entschließungen abhängig machen. (Auf Grund unserer heutigen vertraulichen Erörterungen nehme ich als bestimmt an, daß die Folge dieser Aussprache zu vieren nicht das Rücktrittsgesuch des Reichsministers Schiele sein wird.) Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Herr Minister Schiele für die dann in Aussicht zu nehmende Kabinettssitzung die Frage des Butterzolles sofort mit hineinzieht. Jedenfalls rechnet Herr Minister Schiele damit (und ich habe ihm dies zugesagt), daß die erneute Aussprache im vollbesetzten Ministerkreise über die Agrarfragen die erste nach den Osterferien des Reichskabinetts sein wird, also gegen Ende der am 25. d. Mts. endenden Woche, stattfinden wird7.
Im Laufe unserer langen Aussprache erwähnte Herr Minister Schiele auch einmal den Umstand, daß etwaige Schwierigkeiten zwischen ihm und dem Reichskabinett doch noch große politische Weiterungen im Gefolge haben könnten. Er mache nur darauf aufmerksam, daß Graf Westarp schon mehrfach als Wortführer der drei Rechtsgruppen (Wirtschaftspartei, Landvolkpartei und Christliche) habe auftreten können, also 65 Reichstagsstimmen vertrete8. Wenn ihm, dem Ernährungsminister, hinsichtlich des Zollermächtigungsgesetzes der Erfolg versagt bleibe, würden nach seiner Kenntnis der Dinge ganz bestimmt 65 Stimmen bei einer erneuten Ältestenratssitzung für einen Wiederzusammentritt[1014] des Reichstags eintreten. Dann würde die bisherige Minderheit, die die Einberufung des Reichstags fordere, zu einer Mehrheit werden. Auf diesen Umstand müsse er in aller Loyalität bereits heute den Herrn Reichskanzler aufmerksam machen, was ich zur Kenntnis nahm.
- 8
Zur politischen Zusammenarbeit zwischen dem REM und Graf Westarp vgl. die Aufzeichnung Pünders vom 21.4.31: „Heute vormittag rief mich Graf Westarp an und bat, einen Empfang seiner selbst sowie von etwa 8 Vertretern seiner politischen Freunde sowie des Landvolks und der Wirtschaftspartei vor der nächsten Kabinettssitzung, da die drei Gruppen den dringenden Wunsch hätten, dem Herrn Reichskanzler ihre Auffassungen über die agrarischen Hilfsmaßnahmen darzulegen. Da ich sofort merkte, daß dies der Empfang werden soll, den Herr Minister Schiele arrangieren möchte und von dem er mir schon vor einigen Tagen gesprochen hatte, erwiderte ich dem Grafen Westarp in aller Höflichkeit, aber auch Deutlichkeit, daß ich bereits von Herrn Minister Schiele gehört hätte, daß er, der Minister, eine solche Einwirkung auf den Herrn Reichskanzler durch die drei politischen Rechtsgruppen betreiben wolle. Herr Graf Westarp stimmte mir bei dieser (ihn vielleicht etwas verblüffenden) Antwort freimütig zu, bat aber seinerseits dringend, einen solchen Empfang möglichst am kommenden Donnerstag zu veranstalten“ (R 43 I/2547, Bl. 93). Westarp wurde vom RK am Freitag, dem 24. 4., allein empfangen. Die Unterredung „über innerpolitische Fragen, soweit sie in den nächsten Wochen im Kabinett zur Verhandlung stehen“, dauerte von 12.45 Uhr–14.00 Uhr (Nachl. Pünder Nr. 43, Bl. 200). Vgl. auch Brüning, Memoiren, S. 271.
Ferner war in unserer heutigen Besprechung die mehrfache Betonung des Herrn Ministers Schiele bemerkenswert, daß es vielleicht in diesem Augenblick zu einem Rücktritt seinerseits nicht komme, daß für ihn die Frage des Butterzolles aber absolut eine Kabinettsfrage sei; wenn ihm hierbei der Erfolg versagt bleibe, werde er unter allen Umständen seinen Rücktritt erklären.
Als abschließendes Ergebnis unserer heutigen Besprechung ist festzuhalten: daß das Kabinettsrundschreiben nicht herauszugehen braucht, und daß eine etwaige weitere Äußerung des Herrn Reichsernährungsministers nach seiner Aussprache mit der Grünen Front abzuwarten ist; ferner wäre jedenfalls die Aussprache über diese agrarpolitischen Fragen als Gegenstand der ersten Ministerbesprechung nach den Osterferien in Aussicht zu nehmen.
Pünder