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[Deutsche Reparationsleistungen.]
Der Reichskanzler bemerkte einleitend, daß in einigen Ententestaaten die Erkenntnis von der Undurchführbarkeit des Versailler Vertrages sichtlich wachse. Dieser Einsicht müßte nachgeholfen werden, insbesondere durch Erbringung des Nachweises, daß eine Leistungsfähigkeit Deutschlands, wie sie der Vertrag annehme, auch nicht im entferntesten Maße bestände. Es erscheine wünschenswert, innerhalb der Frist von vier Monaten, die in der Antwort der interalliierten Mächte auf die Bemerkungen der deutschen Delegation zu den Friedensbestimmungen gegeben sei3, unsere wirtschaftliche Lage im Gesamt-Zusammenhang darzulegen und einen möglichst niedrig zu haltenden positiven Vorschlag über die Höhe der zu leistenden Gesamtentschädigung zu machen. Eine mögliche Schädigung unserer Interessen durch einen solchen Vorschlag befürchte er nicht; es sei im Gegenteil zu befürchten, daß, wenn wir uns abwartend verhielten, die Gegner mit einer exorbitanten Forderung an uns herantreten würden4.
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Vgl. die Mantelnote und Antwort der Alliierten und Assoziierten Mächte vom 16.6.19 auf die dt. Gegenvorschläge in: Materialien, betreffend die Friedensverhandlungen. Teil IV, S. 39 f. Inzwischen war der VV am 10.1.20 in Kraft getreten; damit begannen die in ihm festgelegten Fristen zu laufen. Nach P. 5 des Protokolls zum VV sollte Dtld. z. B. innerhalb von vier Monaten nach der Ratifikation „den alliierten und assoziierten Mächten zur Beschleunigung der auf die Wiedergutmachung bezüglichen Arbeiten und damit zur Abkürzung der Untersuchung und rascheren Herbeiführung der Entscheidungen zweckdienliche Belege und Vorschläge zur Prüfung […] unterbreiten“.
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Eine dt. Gesamtschuld war im VV nicht direkt bestimmt worden. Ihre Festlegung sollte der nach Art. 233 VV mit weitgehenden Vollmachten ausgestatteten all. Repko überlassen werden, die die Ansprüche der Verbündeten zu prüfen und in einen Zahlungsplan einzuarbeiten hatte, nach dem die Abtragung der dt. Schuld innerhalb von 30 Jahren vom 1.5.21 ab erfolgen sollte. Als „Sicherstellung und Anerkenntnis seiner Schuld“ hatte Dtld. sofort eine erste Anzahlung von 20 Mrd GM in Form von auf den Inhaber lautenden, unverzinslichen Schuldverschreibungen zu leisten und der Repko zu übergeben. Der Betrag war bis spätestens 1.5.21 zahlbar, doch konnten mit der Summe die bis dahin getätigten Bar- und Sachleistungen sowie die gutschriftsfähigen Abtretungen verrechnet werden. Weitere 40 Mrd GM waren gleichfalls sofort in Form von Schuldverschreibungen zu leisten. Für diese Tranche waren kein Fälligkeitstermin und keine Anrechnungsmöglichkeit, dafür aber ein 1921 beginnender Schuldendienst bestimmt worden. Zusätzlich war eine zunächst zurückzubehaltende dritte Tranche von verzinslichen Schuldverschreibungen über 40 Mrd GM vorgesehen und ihre Ausgabe für den Fall vorbehalten worden, daß die Repko zu der Annahme einer entsprechenden dt. Zahlungsfähigkeit gelangen würde (Einzelheiten s. in § 12 c 1–3 der Anlage II nach Art. 244 VV). Ob mit diesen 100 Mrd GM bereits die dt. Gesamtschuld zu begleichen war, mußte zweifelhaft erscheinen, da § 16 der zit. Anlage II weiter bestimmte, daß auf die restliche Schuld ab 1.5.21 ein Zinssatz von 5% in Anrechnung zu bringen sei.
[635] Reichsminister Dr. Geßler hob hervor, daß die beteiligten Ressorts in den Fragen der Erfüllung des Friedensvertrages im engsten Zusammenhange und nach grundsätzlichen sachlichen Gesichtspunkten gearbeitet hätten5. Es liege an dem Verhalten der Entente, daß auch nach der Ratifizierung des Vertrages ein vernünftiges Verhandeln nicht möglich gewesen sei. So sei insbesondere die Behandlung des Unterstaatssekretärs Bergmann gelegentlich von Besprechungen über einzelne Vertragspunkte eine unwürdige gewesen6. Eine Möglichkeit zu grundsätzlichen Verhandlungen sei daher bisher nicht gegeben gewesen7.
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Nachdem der frz. Senat am 11.10.19 dem VV zugestimmt hatte, war deutscherseits damit gerechnet worden, daß das am Schluß des VV vorgesehene erste Protokoll über die Niederlegung der Ratifikationsurkunden unverzüglich errrichtet und damit der VV in Kraft treten würde (UStS Bergmann an das AA und RFMin., 12.10.19; R 43 I/12, Bl. 162). Daraufhin hatte der RFM am 15. 10. alle in Frage kommenden Ressorts und Länderdienststellen aufgefordert, ihm Unterlagen über die aufgrund von Waffenstillstands- und Friedensbedingungen bereits getätigten oder noch auszuführenden Lieferungen und Leistungen abzugeben, damit eine Gesamtübersicht über die Arten der Lieferungen und Leistungen sowie über deren Gesamtwert erstellt werden könne (R 43 I/12, Bl. 164). Materialien zu den nachfolgenden Ressortberatungen über deutsche Reparationsleistungen befinden sich für die Zeit des Kabinetts Bauer in: R 2/2723 sowie im Nachl. von Le Suire, vorl. Nr. 71.
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Vgl. Dok. Nr. 177, Anm. 3.
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Vgl. Dok. Nr. 148, Anm. 7.
Die Kriegslasten-Kommission sei sich darüber einig, daß vor Festsetzung der endgültigen Entschädigungssumme wir kein Interesse daran hätten, irgendwelche Einzelleistungen zu bewirken, da diese bei der Festlegung der Endsumme von der Entente doch nicht berücksichtigt werden würden. Wenn auch diese Festlegung die größten Schwierigkeiten machen würde, so sei sie doch unbedingt erforderlich, um ein gedeihliches Arbeiten zu ermöglichen. Zur Beurteilung der Frage, ob die Initiative bezüglich der Festsetzung der Entschädigung von uns ausgehen solle, müsse man zunächst den Reichsminister des Auswärtigen hören.
Reichsminister des Auswärtigen Müller: Über die zur Behandlung stehende Frage hätten ständige Beratungen der Ressorts stattgefunden. Die politische Situation liege so, daß Frankreich sich nach wie vor auf den Standpunkt stelle, Deutschland müsse alles bezahlen. In Italien sei in weiten Kreisen bekannt, daß ein Ersatz aller Kriegsschäden von uns nicht geleistet werden könne. Von ihm sei dennoch eine starke Unterstützung für uns nicht zu erwarten. In England habe das Buch von Keynes8 größtes Aufsehen erregt. Balfour und Crawford hätten gelegentlich seiner Besprechung im Unterhaus auf die vier Monate Frist hingewiesen. Ließen wir die Frist fruchtlos verstreichen, so würde man uns von seiten Englands und besonders von deutscher Seite hieraus schwere Vorwürfe machen. Es sei daher notwendig, der Entente klarzulegen, daß wir die endgültige Entschädigungssumme kennen müßten, um unsere Wirtschaft wieder auf eine gesunde Basis zu stellen. Bei einem Vorschlag sei nicht von der Höhe des entstandenen Schadens auszugehen, sondern vielmehr von der Frage unserer Leistungsfähigkeit. Es sei weiter Gewicht darauf zu[636] legen, daß Naturalleistungen nicht auf den allgemeinen Schadensersatz angerechnet, sondern auf normalem Wege bezahlt würden.
Die Frage dürfe keinesfalls hinausgeschoben werden. Es sei empfehlenswert, der Entente mit einem genau festgelegten Plan entgegenzutreten, über den Männer wie Warburg und Melchior9 zu hören seien. Zu erwägen sei auch, ob etwa Vorfühlungen durch den Geschäftsträger Sthamer in London zu veranlassen seien.
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Die Bankiers Warburg und Melchior waren während der Vertragsverhandlungen 1919 Sachverständige bei der dt. Friedensdelegation in Versailles gewesen. Sie hatten der RReg. die in Dok. Nr. 177, Anm. 12 zit. Amsterdamer Denkschrift vom 16.2.20 über die finanziellen und wirtschaftlichen Nachkriegsprobleme übermittelt. Carl Melchior hatte dem UStSRkei bereits mit Schreiben vom 28.8.19 Vorschläge zur Vorbereitung einer Vertragsrevision durch in- und ausländische Aufklärung über die Undurchführbarkeit der Bestimmungen unterbreitet (R 43 I/7, Bl. 36–38). – Max Warburg hatte am 23.10.19 den RFM (?) aufgefordert, nach Inkrafttreten des Vertrages durch die Repko schnellstens die dt. Finanz- und Wirtschaftslage untersuchen zu lassen, wodurch sich „die Unausführbarkeit insbesondere einer Reihe von Finanzforderungen“ erweisen lasse und man zu deren Revision schreiten werde, „die auch unsere Gegner nur befriedigen kann, da eine überspannte Forderung, die nicht erfüllt wird, nur zum Unglück Deutschlands, aber auch zum Unglück der anderen Länder führen würde; denn der einzige Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland ist der, daß Frankreich den Ruhm haben wird, einen Tag später seine Zahlungen einzustellen, wenn Deutschland dazu gezwungen sein sollte“. Entschieden hatte er davor gewarnt, deutscherseits der Entente ein zahlenmäßig konkretisiertes Angebot zu unterbreiten (R 2/2723).
Reichswirtschaftsminister Schmidt: Es läge eine große Gefahr darin, Änderungen des Vertrages im jetzigen Zeitpunkt anzuregen. Man tue vielleicht besser, abzuwarten, bis die Revisionsstimmung in England sich befestigt habe. Erlitten wir mit unserem Vorschlage ein Fiasko, dann seien große Schwierigkeiten zu befürchten und die Mächte der Entente würden in einen engeren Zusammenhang gebracht werden.
Auch bezüglich des Vorschlags einer endgültigen Entschädigungssumme hege er Bedenken. Er neige dazu, in dieser Frage ähnlich wie bei der Auslieferungsfrage die Ententemächte an uns herankommen zu lassen und dann unser Unvermögen darzulegen.
Reichskanzler Wenn wir die vier Monate tatenlos verstreichen ließen, so würde die Wirkung im Inland wie Ausland katastrophal sein. Dadurch, daß wir in einer Denkschrift unsere wirtschaftliche Lage klarlegten, könnte eine Schädigung unserer Interessen nicht eintreten. Die Denkschrift sei in alle Sprachen zu übersetzen, damit wirtschaftliche Autoritäten des Auslandes unsere wirtschaftliche Lage kennenlernten. Es dürfe sich nicht darum handeln, eine Revision des Vertrages zu verlangen, sondern zu zeigen, daß der Vertrag unerfüllbar sei.
Unterstaatssekretär Schroeder: Das seinerzeitige Angebot der 100 Milliarden [Goldmark], sei von Voraussetzungen ausgegangen, die nicht mehr zuträfen10. Bisher sei es bedenklich gewesen, einen Vorschlag über die Höhe der[637] Entschädigung zu machen. Seit dem Erscheinen des Keynes-Buches jedoch läge die Sache anders. Man müsse die einzelnen Schadens-Kategorien unberücksichtigt lassen und nur von der Frage ausgehen, was Deutschland tatsächlich leisten könne. Es empfehle sich vielleicht, die Leistung durch einen Prozentsatz des deutschen Budgets zu begrenzen. Es müsse hierbei alles vermieden werden, was so aussähe, als erstrebten wir eine Revision des ganzen Vertrags.
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Zum Angebot vgl. die Materialien, betr. die Friedensverhandlungen. Teil III, S. 67. – Zu den Voraussetzungen vgl. die deutscherseits als integrierter Teil der dt. Gegenvorschläge aufgefaßte Note vom 29.5.19, betr. die Äußerung der Finanzkommission der Dt. Friedensdelegation zu den Teilen VIII und IX des Vertragsentwurfs (ebd., S. 115 ff.). – Zum Gesamtzusammenhang s. auch diese Edition: Das Kabinett Scheidemann, Dok. Nr. 84, Anm. 6.
Reichsminister des Auswärtigen Müller wünscht gleichfalls den Revisionsgedanken vermieden und die Unerfüllbarkeit betont zu sehen, da die Revision besonders für Frankreich jetzt noch Prestigefrage sei. Auch die letzte Rede von Asquith spreche dafür, einen niedrig gehaltenen Vorschlag zu machen. Die Engländer schienen nach Mitteilungen des Geschäftsträgers Sthamer zur Zeit eine offene Aussprache mit amtlichen Organen der Erörterung in der Presse vorzuziehen. Diesem Hinweis müßten wir folgen. Wie in der Auslieferungsfrage müßten wir das Betonen unseres Nichtkönnens mit einem positiven Vorschlag verbinden, wobei die oberschlesische Frage stark zu berücksichtigen sei.
Reichsminister der Justiz Schiffer: Wir dürften die vier Monate nicht verstreichen lassen, die Frage sei nur, welchen konkreten Vorschlag wir machen sollten. Wenn wir jetzt mit dem Vorschlage einer bestimmten Summe hervorträten, so bestände die Gefahr, daß wir entweder mehr bieten als wir leisten könnten oder daß wir eine glatte Ablehnung erführen. Es empfehle sich vielleicht zu unterscheiden, was wir jetzt und was wir später leisten könnten, und so die endgültige Festsetzung noch hinauszuschieben.
Der Reichskanzler betont demgegenüber die Notwendigkeit jetzt zu einem Definitivum zu kommen; es sei sonst zu befürchten, daß, wenn unsere Wirtschaft sich erhole, die Gegner nach einigen Jahren mit exorbitanten Forderungen kommen würden; außerdem würde unsere Kreditfähigkeit schwer leiden, wenn die Festsetzung der Summe weiter in der Schwebe bliebe. In der Denkschrift müsse betont werden, was wir schon alles geleistet hätten.
Reichsminister für Wiederaufbau Dr. Geßler schlägt vor, wirtschaftliche Autoritäten zu befragen, ob sie den Zeitpunkt für geeignet hielten, eine Fixierung der Entschädigungssumme zu verlangen. Die vom Reichskanzler vorgeschlagene Denkschrift müsse gegebenenfalls in den nächsten vier Wochen ausgearbeitet und fertiggestellt werden.
Unterstaatssekretär Schroeder: Wenn man das Prinzip des Prozentsatzes vom Budget annähme, so würde sich mit unserer Valuta zugleich die Lage der Entente bessern. Dieser Gesichtspunkt müsse ausgewertet werden. Es sei empfehlenswert, die Frage mit Warburg, Melchior und Urbig zu besprechen, vielleicht auch Bergmann hinzuzuziehen.
Reichsminister für Wiederaufbau Dr. Geßler legt Wert darauf, daß außer reinen Finanzleuten auch Vertreter der Industrie hinzugezogen würden.
Unterstaatssekretär Albert betont die Notwendigkeit, einen anerkannten Wissenschaftler, wie etwa Professor Bonn, hinzuzuziehen, der auch über praktische Erfahrungen verfüge. Es komme bei der Denkschrift nicht nur auf den[638] Inhalt, sondern auch auf die Form und die Anordnung an, denn von dieser sei die Wirkung auf das Ausland in wesentlichem Maße mit abhängig.
Reichsminister der Justiz Schiffer regt an, die Angelegenheit nicht in der Öffentlichkeit zu behandeln.
Der Reichskanzler stellt das Einverständnis fest, die Angelegenheit bis zur Fertigstellung der Denkschrift geheim zu halten. Dann müsse die Frage der geheimen oder öffentlichen Behandlung weiter geprüft werden.
Der Reichskanzler stellt ferner das Einverständnis darüber fest, daß eine Besprechung über den Vorschlag der Festlegung einer endgültigen Summe zur Wiedergutmachung der Kriegsschäden im kleinen Kreise mit wirtschaftlichen Autoritäten unverzüglich stattfinden und daß an die Ausarbeitung der Denkschrift sofort herangetreten werden müsse.
Mit der formalen Leitung der Angelegenheit wird der Unterstaatssekretär Schroeder betraut11.
Im Anschluß hieran berichtete Reichsminister Dr. Geßler über die Frage der Organisation der Vergebung der zu erwartenden Aufträge für den Wiederaufbau12. Diese sei im Benehmen mit den beteiligten Ressorts und den Vertretern der Ländern dahin in Aussicht genommen, daß Lieferungen, soweit sie Erzeugnisse der Großindustrie betreffen, die nur von einer beschränkten Anzahl ohnehin syndizierter Industriezweige hergestellt werden, durch die Fachverbände der Industrie vergeben werden. Soweit sich die Anforderungen auf Massenwaren beziehen, an denen auch das Handwerk und Kleingewerbe beteiligt seien, sei die Vergebung auf dem Wege über ein zu schaffendes Ausgleichsamt der Länder durch die Auftragsämter in Aussicht genommen. Dieses Verfahren vermeide, daß eine neue „Wumba“13 entstehe, und entspreche dem dringenden Wunsche von Industrie, Handwerk und der Länderregierungen. Über die Frage, in welcher Weise die Preiskontrolle durchzuführen sei, seien noch Besprechungen mit den beteiligten Ressorts, insbesondere mit dem Reichsfinanzministerium, in Aussicht genommen. Seitens der anwesenden Herren Ressortchefs wurden Bedenken gegen dieses Vorgehen nicht geäußert.
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Siehe dazu zuletzt Dok. Nr. 60, P. 2 c.
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Abkürzung für: Waffen- und Munitions-Beschaffungs-Amt. – Der am 16. 9. aus der Feldzeugmeisterei gebildeten, seit dem 1.11.16 dem Kriegsamt beim PrKriegsMin. unterstellten Wumba oblag die Beschaffung des gesamten Kriegsmaterials mit Ausnahme des Pionier- und Flugzeugmaterials.