Text
Nr. 150
Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund an den Reichskanzler. 21. November 1921.
[Betrifft: Finanzpolitik des Reiches]
Die Vorstände des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Afa-Bundes, die schon vor einigen Tagen gegen die vom Reichsverband der[416] deutschen Industrie in der Frage der Kredithilfe gefaßten Beschlüsse scharfen Protest eingelegt hatten1, sind bei ihren weiteren Beratungen am 15. November zu dem Ergebnis gelangt, daß bei dem wachsenden Finanzelend des Reiches und der damit verbundenen unerträglichen Teuerung aller Lebensmittel und Bedarfsartikel von der Reichsregierung und dem Reichstag nunmehr unverzüglich ein gesetzgeberisches Eingreifen verlangt werden muß.
Unbeschadet ihrer grundsätzlichen Auffassung, daß die zu lösende Aufgabe nicht lediglich ein Steuer-, sondern vor allem ein Wirtschafts- und Produktionsproblem ist, halten die Gewerkschaften angesichts der fortschreitenden Geldentwertung eine grundsätzliche Neuordnung der Steuerpolitik für unumgänglich notwendig. Es kommt vor allem darauf an, zum Zweck der Sanierung der vom Zusammenbruch bedrohten Reichsfinanzen die Leistungsfähigkeit der seit Beendigung des Krieges wieder erstarkten Privatwirtschaft im notwendigen Maße anzuspannen. Die Stillegung der Notenpresse, die als die Voraussetzung für jede Gesundung der Reichsfinanzen angesehen werden muß, kann nur erreicht werden, wenn bei der bevorstehenden Steuerreform2 die Wirtschaft in den Dienst des Staates gestellt wird.
Die Erfüllung der Wiedergutmachungsleistungen an die Entente macht es der Regierung zur Pflicht, die Wirtschaftlichkeit der Reichsbetriebe einer Nachprüfung zu unterziehen. Unter unbedingter Ablehnung aller Versuche einer Überführung der Eisenbahn- oder anderer Reichsbetriebe in Privatbesitz wird vorgeschlagen, die im Besitz des Reiches befindlichen wirtschaftlichen Unternehmungen von ihrer heutigen bürokratischen Bevormundung zu befreien und durch Sozialisierung wirtschaftlich zu gestalten.
Gegen die Ausbeutung und Bewucherung der Reichseisenbahnen durch privatkapitalistische Lieferanten müssen im Eisenbahnfinanzgesetz Sicherungen vorgesehen werden.
Von diesen Erwägungen ausgehend fordern die Vorstände des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes und des Afa-Bundes von der Reichsregierung und dem Reichstag zur Erfüllung der Wiedergutmachungsleistungen und zum Ausgleich des inneren Haushalts des Reiches die beschleunigte Beschlußfassung über folgende gesetzgeberische Maßnahmen:3
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Zu den folgenden Forderungen der Gewerkschaften liegen ausführliche Stellungnahmen des REM (siehe Dok. Nr. 157) des RWiM (Schreiben vom 10.12.21) und des RFM (Schreiben vom 6.10.21) sowie ein kurzer Hinweis des RVM auf die Denkschrift seines Ministeriums (siehe Dok. Nr. 146 Anm. 2) in den Akten (R 43 I/2356, Bl. 106-108, ). Zum Schreiben des RFM siehe Dok. Nr. 152 Anm. 2 ff.
1) Beteiligung des Reiches an den Sachwerten. Die Aktiengesellschaften haben mindestens 25% ihres Aktienkapitals auf das Reich zu übertragen. Die kleineren gewerblichen Unternehmungen und die Landwirtschaft sind durch eine[417] Steuer, deren Erträgnisse der Veränderung des Geldwertes angepaßt sind, in gleicher Höhe zu belasten4.
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Zu diesem Punkt nimmt der REM in seinem Schreiben vom 27.11.21 an den RK ausführlich Stellung, insbesondere zu dem Problem, inwieweit die Landwirtschaft eine Belastung der Sachwerte mittragen kann (siehe Dok. Nr. 157). Der RWiM verweist in seiner Stellungnahme vom 10.12.1921 unter diesem Punkt nur auf seine Ausarbeitungen vom 27.6.1921 (siehe Dok. Nr. 6 Anm. 1) und vom 28.7.1921 (siehe Dok. Nr. 60 Anm. 3).
2) Sozialisierung des Kohlenbergbaues zur Erhöhung der Kreditfähigkeit des Reiches.
3) Neuordnung der Verkehrsunternehmungen mit dem Ziele sie in kürzester Zeit wirtschaftlich zu gestalten5.
4) Schärfste Erfassung der Exportdevisen durch Ausbau der Außenhandelskontrolle6.
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Dazu nimmt der RWiM in seinem Schreiben vom 10.12.21 wie folgt Stellung: „Um die Exportdevisen dem Reiche in möglichst großem Umfang zu Verfügung zu stellen, haben sich bekanntlich die in den Außenhandelsstellen zusammengefaßten Wirtschaftsgruppen die Verpflichtung auferlegt, einen bestimmten, möglichst hohen Prozentsatz der aus ihren Exportgeschäften auffallenden Devisen den Banken oder der Reichsbank und damit letzten Endes dem Reiche zuzuführen. Die Einführung eines weiteren Ablieferungszwanges erscheint nicht vertretbar, da dem Export ein Teil der ihm anfallenden Devisen belassen werden muß, damit er sich für seine Rohstoffeinkäufe und seine sonstigen Verpflichtungen in fremder Währung decken kann. Aus diesem Grunde ist auch eine „restlose Erfassung“ der Devisen weder möglich noch wirtschaftlich vertretbar. Dagegen wird eine Erweiterung der Devisenablieferung durch die geplante Ausdehnung der Zahl der ausfuhrverbotenen Waren eintreten. Eine einheitliche, schematische Regelung dieser Frage für die ganze Ausfuhr ist bei den großen Verschiedenheiten auf den einzelnen Warengebieten nicht möglich.“ (R 43 I/2356, Bl. 136-138, hier: Bl. 136f).
5) Beschränkung der Einfuhr auf das Lebensnotwendige7.
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Hierzu weist der RWiM in seinem Schreiben vom 10.12.1921 u. a. auf die durch die Vorschriften des VV entstehenden Schwierigkeiten hin (Art. 264 ff.). (R 43 I/2356, Bl. 136-138, hier: Bl. 137).
6) Erhöhung der Ausfuhrabgaben bis zur völligen Erfassung der Valutagewinne8.
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Zu diesem Punkt weist der RWiM in seinem Schreiben vom 10.12.21 darauf hin, daß ein Gesetz zur Neuregelung der Ausfuhrabgaben vorbereitet werde, daß aber eine Erfassung des Valutagewinnes in voller Höhe technisch nicht durchführbar sei (R 43 I/2356, Bl. 136-138, hier: Bl. 137).
7) Beschleunigte Einziehung des Reichsnotopfers.
8) Sofortige Einziehung der bisherigen Steuern, insbesondere der Einkommenssteuer. Die Steuerpflichtigen müssen verpflichtet werden, den Betrag ihrer eigenen Veranlagung sofort an die Finanzämter abzuliefern. Bleibt diese Zahlung bis zu einer Grenze von 25% hinter ihrer Einkommensteuerpflicht zurück, so haben sie nach der definitiven Veranlagungsentscheidung des Finanzamtes den Rest mit mindestens 5% Zinsen abzuführen. Ist die Selbstveranlagung unter diesem Betrage zurückgeblieben, so haben sie für diese Summe eine Verzinsung von mindestens 30% zu zahlen. Die Umsatzsteuer ist von den Steuerpflichtigen in monatlichen Abschlagungszahlungen abzuführen9.
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Dem Grundgedanken dieser Forderung stimmt der RWiM in seinem Schreiben vom 10.12.1921 zu, doch müsse der RFM entscheiden, ob die Finanzbehörden in der Lage seien, diese Ideen technisch durchzuführen. Eine Stellungnahme des RFM zu diesem Punkt konnte nicht ermittelt werden (R 43 I/2356, Bl. 136-138, hier: Bl. 137).
[418] 9) Scharfe Besteuerung der durch Devisen und Effekten-Geschäfte erzielten Gewinne10.
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Der RWiM weist zu dieser Forderung auf das bereits ergangene Steuergesetz vom 7.11.21 (RGBl. 1921 II, S. 1331) und die Ausführungsverordnung vom 9.11.1921 (RGBl. 1921 II, S. 1333) hin. Weitere Verhandlungen über Maßnahmen zur Erfassung der Spekulationsgewinne seien im Gang (R 43 I/2356, Bl. 136-138, hier: Bl. 137).
10) Kontrolle der privatwirtschaftlichen Monopole11.
Wir unterbreiten dem Herrn Reichskanzler diese unsere Vorschläge mit dem dringenden Ersuchen um weitestmögliche Berücksichtigung. Eine Begründung im einzelnen behalten wir uns für die uns zugesagte mündliche Besprechung am Dienstag den 22. d. M.12 vor.
Der Vorstand des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes.
gez. Th. Leipart.
Der Vorstand des Allgemeinen freien Angestelltenbundes
gez. S. Aufhäuser