1.96 (wir2p): Nr. 331 Ministerrat vom 3. August 1922, 17 Uhr

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Nr. 331
Ministerrat vom 3. August 1922, 17 Uhr

R 43 I /2261 , Bl. 146-149 handschriftlich1

1

Es handelt sich um eine handschriftliche Bleistiftaufzeichnung, offenbar Mitschrift aus der Sitzung, die mit Hemmers roter Paraphe abgezeichnet ist. In der eiligen Handschrift abgeschliffene Endungen sind im Abdruck ebenso ausgeschrieben, wie die in der Vorlage z. T. abgekürzten Sprecherangaben. Eine Anwesenheitsliste konnte nicht ermittelt werden.

[Streitfall zwischen Bayern und dem Reich]

Fehr und Geßler sollen nach München. An Zech soll telephoniert werden: nach Mitteilung von Lerchenfeld beabsichtigt er, übermorgen nach Berlin [zu] kommen zu Verhandlungen. Der Reichskanzler wünscht ihre Anwesenheit zu den Verhandlungen in Berlin2. Vielleicht wäre es gut, wenn die beiden[982] Herren morgen früh nach München führen, um mit Lerchenfeld [über] die Situation zu sprechen. Die beiden Herren sollten sich aber nicht festlegen. Verhandlungsgrundlage in Berlin sollten die beiden Briefe sein3. Auf Anregung des Herrn Reichskanzlers wird in eine Erörterung des Vorschlages eingetreten.

2

Einem Protokoll Hemmers zufolge telefoniert Geßler am Samstag, dem 5.8.22, 16 Uhr aus München: „Minister Geßler teilt mit, er habe zusammen mit Herrn Minister Fehr mit den bayerischen Herren verhandelt, auch über die Frage der Reise des Grafen Lerchenfeld nach Berlin. Lerchenfeld habe zur Zeit noch große Schwierigkeiten, die mit der Koalitionsbildung zusammenhingen, so daß er glaube, erst Donnerstag, frühestens aber Mittwoch [9.8.22 bzw. 10.8.22] in Berlin sein zu können. Minister Geßler habe eine Stellung hierzu nicht eingenommen. Er beurteilte die Sachlage in München persönlich allerdings dahin, daß es zweckmäßig sei, dem Grafen Lerchenfeld noch ein paar Tage Zeit zu lassen. Er habe auch mit dem Präsidenten des Bayerischen Landtages gesprochen. Aus diesen Unterhaltungen habe sich für ihn ergeben, daß in Bayern noch sehr merkwürdige Auffassungen bestünden. Der Landtag sei gestern in die Ferien gegangen. Er bitte die Stellungnahme des Reichskanzlers einzuholen. Minister Geßler wurde darauf telefoniert, daß der Reichskanzler die Frist bis Donnerstag für zu groß halte. Minister Geßler möge mit Graf Lerchenfeld noch einmal Fühlung nehmen und dahin wirken, daß Graf Lerchenfeld seine Reise nach Berlin möglichst beschleunigt. Minister Geßler sagte dies zu.“ (R 43 I /2261 , Bl. 106). Graf Lerchenfeld trifft am 9.8.22 in Berlin ein, nachdem der Reichspräsident ihm am 7.8.22 ein Telegramm folgenden Wortlauts gesandt hatte: „Noch nicht im Besitze bestimmter Mitteilungen Ihres Eintreffens hier darf ich auf die Notwendigkeit beschleunigter Erledigung schwebender Angelegenheit hinweisen. Eine persönliche Besprechung mit Ihnen erscheint mir unaufschiebbar. Für umgehende Mitteilung, wann ich Sie erwarten darf, wäre ich dankbar.“ (R 43 I /2261 , Bl. 109).

3

Siehe Dok. Nr. 328 Anm. 2 und Dok. Nr. 332 Anm. 3.

Köster hatte keine Kenntnis von der Absicht Lerchenfelds nach Berlin. Er habe sich gedacht einen Schritt: Forderung der Aufhebung und parallel Verhandlungen über Konzessionen. Zuziehung Bayerns bei der Gestaltung der Ausführungsbestimmungen.

Reichspräsident hielt diesen Schritt jetzt für politisch nicht tragbar. Die Öffentlichkeit wäre auch in Norddeutschland dagegen sein [sic]. Reichspräsident verweist auf letzten Absatz, wo Garantien gegen weitere Eingriffe in die Hoheitsrechte gefordert werden (Art. 78 der alten Reichsverfassung). Es frage sich also, ob man in Verhandlungen ein entsprechendes Entgegenkommen zeigen könne. Es könne in Frage kommen 1. Erklärung der Regierungen, 2. Abänderung der Verfassung: Letzteres sei nicht möglich. Voraussetzung einer Verständigung sei selbstverständlich die Aufhebung der Verordnung. Es empfehle sich, im Hinblick auf die innen- und außenpolitische Lage so [zu] prozedieren.

Radbruch: Vorschlag Kösters sei überholt durch Verhandlungsbereitschaft. Aber es müßte der Eindruck vermieden werden, daß Reichskanzler zurückweiche. Daher müsse in der Presse eine Erklärung erscheinen. Eine Rückrevidierung der RV sei nicht möglich, keine Majorisationswucher[?], eine Zustimmung jedes Landes sei untragbar. Nicht einmal die alte Verfassung habe die Voraussetzung dazu gegeben.

Köster hält die Parallelaktion nicht für taktisch schlecht. Nach der RV breche Reichsrecht Land[esrecht]. Nach der Verfassung könne mit ⅔ Mehrheit sogar die Staatlichkeit der Länder aufgehoben werden. Das sei der Sinn der RV. Unsere Position den Ländern gegenüber werde bei anderen Vorgehen als dem von ihm vorgeschlagenen schlechter, da Bayern wohl die Unterstützung der Länder finden würde.

Der Reichspräsident stellt fest, daß er grundsätzlich sich von Köster scheide: Die RV trenne genau zwischen Reichskompetenzen und Hoheitsrechten der Länder. Die köstersche Auffassung sei gefährlich, das Reich würde aufhören zu bestehen (Baden, Württemberg, Sachsen), wenn die unitarische Interpretation verwirklicht werde. Man solle den Ländern ihre Hoheitsrechte lassen, das Schutzgesetz sei aus der Notlage geboren. Nachdem der Reichspräsident seinen[983] ersten Brief geschrieben habe, könnten die Verhandlungen nicht abgelehnt werden.

Schmidt steht auf dem Standpunkt, daß verhandelt werden soll. Man müßte sich aber in der Reichsregierung klar sein, was man offerieren könne.

Reichskanzler Es müßte von Köster und Radbruch gesagt werden, wie sie die Ausführung gestaltet wissen wollen. Was die Länder angehe, so teile er die Auffassung des Reichspräsidenten (er habe im Kabinett darauf aufmerksam gemacht).

Köster will nicht den unitarischen Gedanken in die Verhandlung gebracht haben. Sondern er sei dagegen, daß Lerchenfeld den Gebrauch der Hoheitsrechte durch Vertrag geschützt haben soll, während die RV die ⅔ Mehrheit als die Grundlage vorsieht.

Reichspräsident Auf einer Änderung der Verfassung dürfe das Entgegenkommen nicht basiert werden, sondern höchstens auf eine Erklärung der Reichsregierung.

Schmidt will noch weiter gehen. Er meint, man könnte einige Senate für die einzelnen Süddeutschen [Länder] bilden, nicht für Bayern allein.

Köster hat Bedenken, den süddeutschen Staaten Senate zu geben.

vacat

Köster ist dafür, daß Erklärung politisch gehalten sein soll. Aber Bayern verlange mehr als eine Erklärung der Reichsregierung. Es verlange verfassungsmäßige Garantien. Beides habe seine zwei Seiten. Er weist auf andere Materien hin (Lehrerbildung). Was das Reichskriminalgesetz angehe, so handele es sich darum, die von den Ländern aufzubauenden Landeskriminalämter in eine Verbindung mit einer Spitze in Berlin zu bringen. Als Beamte in das Reichskriminalamt sollen Länderbeamte kommen. Es soll eine Zusammenarbeit erfolgen, mehr nicht. Der § 7 sei so sehr eingeschränkt, daß daran nichts auszusetzen habe [sic]4.

4

§ 7 siehe RGBl. 1922 I, S. 594  f., im übrigen Dok. Nr. 335 Anm. 6.

Reichspräsident will diese Ausnahmefälle durch Vereinbarung zwischen Reichskriminalamt und Landeskriminalamt noch gemildert haben.

Köster: Das könne auf dem Gebiet der Ausführungsbestimmungen geschehen. Im übrigen warnt Köster davor, Präzedenzfälle zu schaffen insofern, daß Länder, wenn sie protestieren, zu einer Änderung der Reichsgesetze gelangen.

Radbruch weist darauf hin, daß dieselbe Frage akut wird, bei der Änderung der Strafprozeßordnung.

Köster sagt, es komme darauf an, ob die Erklärung so zu fassen wäre, daß das Reich sich von seiner verfassungsmäßigen Kompetenz aus der Reichsverfassung saturiert fühle.

Reichspräsident will die Erklärung davon ausgehen lassen, daß die Rechte, die dem Reich nach der Reichsverfassung zustehen, dem Reich erhalten bleiben sollen.

Radbruch weist auf die Schwierigkeit für die Erklärung hin. Soll Versteinerung der gegenwärtigen zufälligen Lage eintreten oder nicht?

[984] Köster weist auf den Reichswasserschutz als auf ein Beispiel hin, wie stark der jetzige Lärm politischen Charakters ist.

Reichspräsident Was das Beamtenschutzgesetz angehe, so könne man unter der Hand zusagen, daß man bei der Besetzung der Disziplinarkammern mit den Ländern Fühlung nehmen werde. – Was den Staatsgerichtshof angehe, so müsse man sich überlegen, was […]5 den ordentlichen Gerichten übergeben. Er sei der Auffassung, daß man die hochpolitischen Sachen dem Staatsgericht überweisen soll, die mehr persönlichen Sachen dagegen den ordentlichen Gerichten der Länder.

5

Ein Wort unleserlich.

Radbruch sagt zu, er werde Richtlinien nach dieser Richtung aufstellen.

Auf Anfrage des Ministers Köster äußert der Reichspräsident, daß in der Verhandlung nicht davon abgewichen werden soll

1.

daß bayerische Verordnung nicht mit Verfassung verträglich sei,

2.

daß mit R[eich] Entgegenkommen Verordnung aufgehoben werden soll.

Lerchenfeld werde wahrscheinlich mit Parteiführern kommen, eine viceversa für die Reichsregierung sei nicht empfehlenswert.

Der Reichskanzler denkt sich das Vorgehen so,

1.

Besuch L[erchenfelds] bei Reichspräsident

2.

Verhandlung in Reichskanzlei, vielleicht auch Sonderbesprechung zwischen Beamten.

Radbruch will Reichspräsident und Reichskanzler von sich und Köster aus Aufzeichnung über die Lage zugehen lassen, damit Reichspräsident und Reichskanzler Unterlagen haben6.

6

Möglicherweise u. a. Dok. Nr. 332.

Reichspräsident Über die Besprechung soll nichts mitgeteilt werden.

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