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Nr. 80
Ministerialrat Gaertner an Reichskanzler Cuno. Prag, 20. Februar 1923
R 43 I/149, Bl. 208-213 eigenhändig1
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Die Abkürzungen sind aufgelöst worden. Cuno hat das Schreiben mit dem Vermerk „Geheim“ versehen.
[Betrifft: Besprechungen über den Ruhrkonflikt in Prag]
Hochverehrter Herr Reichskanzler!
Als ich gestern auf dem Wege Berlin–Wien2 durch Prag fuhr, wurde ich auf dem Bahnhofe vom Vertrauten des Herrn Ministers Dr. Benesch, den ich in Berlin getroffen hatte, aus dem Zuge geholt. Er teilte mir mit, daß der Minister meinen Besuch erwarte. Ich wurde von 7 – ¾ 8 h abends zu einem privaten Besuch empfangen. Zuerst teilte ich B. mit, daß ich mit Ihnen, verehrter Herr Reichskanzler, eine private Unterredung gehabt hatte, bei der Sie mir erklärten, es bestünden keine Bedenken, daß ich Herrn Dr. B. von dem Inhalte private Mitteilung mache. Ich hob hervor, daß ich keinen Auftrag habe. Ich legte dar, daß Ihr Kabinett sogleich nach Amtsantritt bemüht war, ein[268] Reparationsprogramm aufzustellen und auch die Gegenzeichnung der Industrie zu erhalten. Aber Herr Bergmann sei von Poincaré nicht empfangen worden. Man sei dann hauptsächlich wegen englisch-französischer Unstimmigkeiten ins Ruhrrevier gegangen. Es sei eine große Leistung der deutschen Regierung, die Bevölkerung vom aktiven Widerstand abzuhalten. Ich erwähnte, daß auch in der kaiserlichen Zeit an der Ruhr keine Garnisonen möglich waren. Ich teilte mit, daß Herr Reichskanzler mir gesagt hatten, Sie seien verhandlungsbereit – aber Frankreich sei es nicht. Jedoch müsse zuerst die Atmosphäre gereinigt werden. Auch legte ich dar, daß Deutschland keineswegs „kapitulationsreif“ sei.
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Gaertner war als MinR im Wiener Bundeskanzleramt tätig.
Ich kam nun auf die Frage, wie man weiterkomme. Ich legte dar, daß man zunächst ein regime provisoire schaffen müsse, das nach meiner Idee etwa wie folgt aussehen könnte: Während der Verhandlungen verbleiben französische Garnisonen, aber ohne jedes administrative Recht, im Revier sofortige Wiedereinsetzung der deutschen Beamten, Leitung des Verkehrs nur durch Deutsche, Teilung der Kohle nach einem Schlüssel, inzwischen offiziöse Verhandlungen, aber Erklärung, daß – falls man zu einem guten Ende kommt – die Ruhr geräumt wird, dann definitive Abmachungen mit Barzahlung, Lieferverträgen und Industriesyndikaten. Ich schloß meinen Vortrag – den B. sehr aufmerksam anhörte – mit dem Hinweise, es handle sich um eine große Vertrauenskrise zwischen Deutschland und Frankreich. In Deutschland sei heute vielleicht eine gewisse Enttäuschung über England und Amerika. Umso eher könnte eine gute Geste Frankreichs jetzt nützen. Ich endigte damit: der Herr Reichskanzler habe mit besonderer Hochachtung vom diplomatischen Talente B. gesprochen. Minister Dr. B. fragte zunächst, ob die Zusage der Räumung der Ruhr eine Bedingung sei. – Ich erwiderte, daß ich glaube, die deutsche Regierung könne sonst kaum den passiven Widerstand abbauen, der aus der Bevölkerung komme und nicht von Berlin „gemacht“ sei. Dr. B. betonte sodann, daß die Charakterisierung als Vertrauenskrise gewiß richtig sei. Auch Poincaré sei „verhandlungsbereit“ – aber wie kommen die beiden Regierungen zusammen? Er, B., werde die (von mir aufgeworfene) Frage eines Eingreifens seinerseits prüfen, insbesondere ob die Lage schon dazu reif sei. Jedenfalls sei die Tschechoslowakei an einer deutsch-französischen Verständigung lebhaft interessiert. – Meinen Hinweis, daß die Industriesyndikate auch zu dt.-franz.-belg.- tschech. ausgestaltet werden könnten, nahm er mit lebhaftem Kopfnicken auf. Wir sprachen dann über Poincaré und Millerand. B. meinte, dieser habe einen härteren Kopf und als unverantwortlicher Präsident eine leichtere Stellung. Dann sagte er: Leider habe Deutschland viele Fehler gemacht und trotz guten Willens dadurch Mißtrauen erregt. Zum Beispiel durch zu passive Haltung gegen die Kapitalflucht. Als ich entsprechend erwiderte, sagte B., dann habe Berlin den Fehler gemacht, seine Maßregeln nicht genug bekannt zu machen. Überhaupt sei die deutsche Diplomatie und Propagandatechnik zu wenig geschickt. Dann sagte er, einmal stütze man sich auf England; dann klopfe man in Paris an. Dadurch lasse man kein Vertrauen aufkommen. Man dürfe auch jetzt, falls es zu Verhandlungen komme, keinen Versuch machen, England auszuschalten. – Ich erwiderte, daß dies ganz gewiß nicht in Ihrer Absicht läge. Nun sagte B. etwas sehr Wichtiges:
[269] In Paris werden zur Zeit Bedingungen für Deutschland vorbereitet und er glaube, daß Poincaré bald eine öffentliche Erklärung abgeben werde:
„1) Berlin möge jemanden entsenden, um die Bedingungen entgegenzunehmen, 2) Frankreich wolle Deutschland weder zerstückeln noch vernichten.“
Ich erwiderte auf B.’s Frage, was ich dazu sage, Deutschland sei doch kein Verurteilter, den man vor die Schranken des Gerichts ruft. Man müsse doch vor allem die Formen wahren; eine erniedrigende Form werde die deutsche Regierung weder hinnehmen wollen noch können. Man möge doch aufhören, die Luft durch neue Diktate weiter zu vergiften. B. machte sich darauf wortlos eine Notiz. B. sagte dann: „Deutschland hat von England und Amerika keine Hilfe zu erwarten; das weiß man in Paris. Die Lage ist sehr ernst. Ich danke sehr für die Information, die die erste ist, die eine konkrete Idee enthält. Ich werde prüfen, was ich damit machen kann.“
Wir sprachen dann noch über die Stimmungen. Ich erzählte, daß Hilferding mir 1) vom Fortschreiten der kommunistischen Bewegung im Ruhrrevier erzählt und 2) mir gesagt hat, man müsse den jetzigen Herrn Reichskanzler an seinem Stuhl anbinden, falls er gehen wollte. Auch da machte sich B. eine Notiz. Ich stehe Ihnen, verehrter Herr Reichskanzler, wann immer zu Gebote3. Mit dem Ausdruck meiner Verehrung verharre ich, Herr Reichskanzler, als Ihr wie immer treu ergebener
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Am 21. 2. folgt aus Wien ein weiterer Bericht Gaertners über seine Prager Besprechungen, in dem es u. a. heißt: „Ich hatte in Prag den bestimmten Eindruck gewonnen, daß man dort – zumindest im gegenwärtigen Zeitpunkte – an eine Intervention militärischer Art gegen Deutschland nicht im Entferntesten denkt und einer Pariser Anregung in dieser Richtung gewiß nach Möglichkeit ausbiegen würde. […] Ich habe auch in dem Gespräch mit seinem [Beneschs] Vertrauten durchaus den Eindruck gewonnen, daß man in Prag sehr bemüht ist, gegen eine weitere Verschärfung der deutsch-französischen Spannung zu arbeiten. Man beurteilt allerdings die deutsche Lage sehr ernst. Der erwähnte Funktionär hat mir seine Pariser Eindrücke wie folgt zusammengefaßt: Frankreich fühle sich ‚durch viele Jahre düpiert‘ und wolle nun einmal ‚nach dem Rezept der Deutschen‘ vorgehen. Hierbei sei man in Paris überzeugt, daß man die internationale Lage mehr denn je beherrsche und Deutschland von keiner Seite Hilfe erlangen werde. In Prag ist man über diese Situation keineswegs erfreut, und die Stimmung geht unbedingt dahin, daß man an der Eröffnung eines Auswegs mitarbeiten wolle. Man ist nur in dieser Richtung äußerst vorsichtig, denn man rechnet mit der Gefahr, daß eine Sondierung in Paris dort unfreundlich aufgenommen wird.“ (R 43 I/149, Bl. 208-213, hier: Bl. 208). Hinweise auf tschechische Vermittlungsversuche waren in R 43 I nicht zu ermitteln. Am 3. 3. berichtet der dt. Botschafter aus Wien, der tschechische Gesandte in Wien habe ihm mitgeteilt, „daß deutsche Regierung Dr. Benesch um Vermittlung bei Frankreich ersucht habe. Benesch habe abgelehnt, aber erklärt, von dem Ersuchen Frankreich zu verständigen.“ StS v. Maltzan telegrafiert daraufhin am 7. 3. zurück: „Mitteilung über Schritt deutscher Regierung bei Benesch in vollem Umfange unzutreffend.“ (AA Abt. II Bes. Geb., Vermittlung Bd. 1). Am 5. 3. berichtet Botschafter Koch aus Prag über seinen Besuch bei Benesch, dem er entsprechend seinen Berliner Instruktionen von Ende Februar dargelegt habe, daß es für die RReg. unmöglich sei, ein Verhandlungsangebot zu machen (AA Büro RM 39, Tschechoslowakei Bd. 1)
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