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Nr. 189
Aufzeichnung des Reichskanzlers über eine Unterredung mit dem polnischen Außenminister in Locarno am 14. Oktober 19251
[Deutsch-polnische Handelsbeziehungen, Optantenfrage, Ostschiedsverträge]
Während der gestrige Höflichkeitsbesuch des Grafen Skrzynski einen eigentlichen politischen Gesprächsinhalt überhaupt nicht hatte, begann bei meinem heutigen Gegenbesuch Graf Skrzynski sofort damit, Deutschland hätte ja gestern große Erfolge erzielt und könne sich dafür beglückwünschen. Ich erwiderte, meines Erachtens hätten wir eigentlich jeden Tag gewisse Fortschritte gemacht, und ich hoffte, daß das Gesamtergebnis nun wirklich eine Grundlage für die friedliche Weiterentwicklung Europas abgeben könnte. Darauf erwiderte Skrzynski, er wisse ja, daß Meinungen vorhanden seien, die eine Abänderung der deutsch-polnischen Grenzen beträfen. Er könne dem seinerseits in seiner Stellung natürlich nicht zustimmen, aber er lege doch großes Gewicht darauf, daß auch zwischen Deutschland und Polen wenigstens ein politischer Waffenstillstand zustande käme. Darauf habe ich ihm die Optantenfrage2 und die Kampfzölle gegen Deutschland3 entgegengehalten. Als er[741] mir damit kam, wir hätten ja unter den mancherlei Streitpunkten bei vielen Streitpunkten unsererseits Recht bekommen, nur nicht in der Optantenfrage, hielt ich ihm entgegen, daß die Optantenfrage aber gerade diejenige Frage sei, die sich am lebendigen Menschen vollziehe, und er habe wohl kaum eine Vorstellung davon, wie auch an mich als Reichskanzler hier die Wogen der Erregung herangebrandet seien, als Polen hier mit einem Mal überaus rauhe Maßnahmen ergriffen habe, und was für den 1. November bevorstehe, würde ja wohl ebenso wirken. Als er gegenüber der Zollfrage darauf hinwies, es sei doch für Polen unerträglich gewesen, daß wir den Ankauf polnischer Kohle in Deutschland untersagt hätten, habe ich ihm erwidert, der 15. Juni sei doch nun mal der Tag gewesen, für den das Ende des unmöglichen Zustandes einseitiger wirtschaftlicher Verpflichtungen Deutschlands vorgesehen war4. Deutschland aber habe nach den Verpflichtungen, die es in London übernommen hätte5 und mit allem Ernst ausführe, schon den Reparationsberechtigten gegenüber die Fortdauer eines Zustandes gar nicht verantworten können, der die normale wirtschaftliche Erstarkung Deutschlands ausschließe. Im übrigen sähe man gerade in diesem Falle, was für unmögliche Ergebnisse herauskämen, wenn man zusammenhängende Wirtschaftsgebiete künstlich zerrisse. Skrzynski antwortete hierauf gar nichts, sondern kam auf die abzuschließenden Schiedsverträge zu sprechen. Dabei gab er, obwohl er doch wirklich einwandfrei deutsch spricht, eine derart unklare Schilderung seiner Stellung zu der Frage, ob es vom polnischen Standpunkt aus wünschenswert sei, die Grenzen in den Schiedsverträgen zu erwähnen oder nicht, daß ich diese Unklarheit für beabsichtigt gehalten habe. Jedenfalls hat er in keiner Weise darauf bestanden, daß irgend etwas über die Grenzen abgemacht werden solle. Ich habe ihm umgekehrt deutlich gesagt, daß für uns nur das System eines Schieds- und Schlichtungsvertrages in Frage käme, wie es ihm ja bekannt sei. – Die politische Erörterung abschließend, sagte Skrzynski unter Wiederholung von Äußerungen, die er schon vorher gemacht hatte, daß er seinerseits alles tun werde, um die politische[742] Entspannung herbeizuführen. Er denke, sogar in der Optantenfrage etwas zu erreichen; natürlich hinge das von der gesamten Entwicklung der Atmosphäre nach Locarno ab.
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Die dt.-poln. Auseinandersetzung in der Optantenfrage geht zurück auf Art. 91 des VV, der es deutschstämmigen Bewohnern der an Polen abgetretenen Gebiete freistellte, binnen zwei Jahren nach Inkrafttreten des Vertrages für Dtld. zu optieren und ohne Vermögensverluste in das dt. Reichsgebiet abzuwandern. Bei Ablaufen der Optionsfrist hatten 150 000 Personen für Dtld. optiert, 120 000 davon waren ausgewandert. Um die Ausreise der restlichen 30 000 – vorwiegend Personen mit unbeweglichem Besitz – zu beschleunigen, griffen die poln. Behörden in den Jahren 1922–24 immer häufiger zur zwangsweisen Liquidation dt. Eigentums und zu Ausweisungen kleineren Umfangs. Die RReg. fürchtete eine Eskalation dieses Vorgehens und trat deshalb 1923/24 mit der poln. Reg. in Verhandlungen über eine Milderung des Ausweisungsverfahrens ein. Nachdem auf diesem Wege keine Einigung erzielt werden konnte, beschloß der Völkerbundsrat am 14.3.24, die beiden Regg. zur Fortsetzung ihrer Verhandlungen in Wien unter Leitung eines unparteiischen Obmannes einzuladen, der, wenn diese Verhandlungen bis 1.6.24 ohne Ergebnis bleiben würden, als Schiedsrichter entscheiden sollte. Da die Einigung nicht zustande kam, fällte der als Schiedsrichter eingesetzte Präsident des Gemischten Schiedsgerichts für Oberschlesien, Kaeckenbeeck, in Gestalt eines dt.-poln. Abkommens (Wiener Abkommen vom 30.8.24, Text in: League of Nations, Treaty Series, Bd. 32, S. 331 ff.) folgenden Spruch: Es haben Polen zu verlassen: 1) bis 1.8.25 diejenigen Personen, die kein Grundeigentum besitzen; 2) bis 1.11.25 Personen, deren Grundeigentum sich im nahen Umkreis einer Festung oder in einer 10 km breiten Grenzzone befindet; 3) bis zum 1.7.26 alle übrigen Optanten mit Grundbesitz. Obwohl dieser Schiedsspruch für die RReg. verbindliche Kraft besaß, wurde im Frühjahr und Sommer 1925 in mehreren Ansätzen versucht, eine Milderung der Abwanderungsbestimmungen herbeizuführen. Dies gelang nicht und so wurden in den letzten Julitagen 1925 etwa 12 000 Personen von Polen ausgewiesen. Näheres zur Optantenfrage s. bei: Harald von Riekhoff: German-Polish Relations, 1918–1933, S. 52 ff.; s. auch die ausführlichen Darlegungen Stresemanns vor dem RT am 6.8.25 (RT-Bd. 387, S. 4123 ff.).
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Der poln. Ministerrat hatte zwischen 18. und 28.7.25 durch Erlaß mehrerer Verordnungen die Einfuhr zahlreicher dt. Waren verboten. Diese Maßnahme wurde amtlich damit begründet, daß infolge des dt. Verbots der Einfuhr poln. Kohle ein Ausgleich in der poln. Handelsbilanz herbeigeführt werden müsse. S. Schultheß 1925, S. 248.
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S. dazu Anm. 2 zu Dok. Nr. 56.
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Auf der Londoner Dawes-Plan-Konferenz im August 1924.
Luther