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Das Reich-Länder-Verhältnis
Die Zweigleisigkeit und Zwiespältigkeit des innenpolitischen Entspannungskurses wird auch in der Behandlung der staatsrechtlich nur unzreichend gelösten Preußenfrage deutlich. Für Preußen bestand nach v. Schleicher die innere „Gefahrenlage“ angeblich noch auf längere Zeit hinaus fort. Deshalb müsse man an der vom Reich kontrollierten Kommissariatsregierung festhalten, es sei denn, es gelinge, einen den Vorstellungen der gegenwärtigen Reichsregierung entsprechenden Preußischen Ministerpräsidenten zu wählen170. Das aber war, nachdem sich v. Schleichers Wunschkandidat Straßer selbst aus dem Bewerberkreis verabschiedet hatte, keineswegs mehr sichergestellt. Entsprechend wurden die am 12. Dezember bei Reichspräsident v. Hindenburg sondierenden Nationalsozialisten Kerrl und Göring mit dem Hinweis abschlägig[LVIII] beschieden, daß die von ihnen in Verhandlungen mit dem Zentrum vorbereitete Wahl Görings zum Preußischen Ministerpräsidenten durch den Preußischen Landtag nicht zur „politischen Gleichrichtung“, sondern zum Wiederaufleben dualistischer Bestrebungen führen werde; an die von ihnen gewünschte Aufhebung der Notverordnung vom 20. Juli 1932 über die Einsetzung eines Reichskommissars für das Land Preußen sei deshalb nicht zu denken171.
Der nationalsozialistische Vorstoß bei v. Hindenburg zielte gleichermaßen auf die Machtposition der Reichsregierung in Preußen und den Machtanspruch der durch das Leipziger Reichsgericht wieder bedingt in ihr Amt eingesetzten preußischen Hoheitsregierung unter Ministerpräsident Braun. Mit der Regierung v. Papen hatte Braun um die aus dem Urteil vom 25. Oktober 1932 bezüglich der Vertretung und Verwaltung des Landes Preußen zu ziehenden Konsequenzen erfolglos gerungen172. Umstritten war, neben Prestigefragen, vor allem die Ausübung des Begnadigungsrechts in 20 zur Vollstreckung anstehenden Todesurteilen. Da einzelne Verurteilte bereits seit Mai 1932 auf eine Gnadenentscheidung warteten, strebte Staatssekretär Hölscher als Reichskommissar für das Preußische Justizministerium eine Entscheidung der Zuständigkeitsfrage durch den Staatsgerichtshof an173. Die Regierung Braun ihrerseits kündigte der Reichsregierung an, das strittige Verhältnis des Reichs zu Preußen nochmals vor den Staatsgerichtshof zu bringen174. Sie signalisierte allerdings auch, daß sie zu weiteren Gesprächen bereit sei. Zwei neue Gesetzentwürfe über eine Reichsreform in unitarischem Sinn, die sie durch Ministerialdirektor Brecht ausarbeiten und vorlegen ließ, dienten ihr dabei als bemerkenswerter Anknüpfungspunkt. Danach hätte Preußen aufhören sollen, eine geschlossene Einheit im Reich zu bilden. Die Reichsregierung sollte ermächtigt werden, durch ein verfassungänderndes Reichsgesetz Grenzen, Organisation und Rechte der neuen territorialen Einheiten innerhalb des preußischen Gebietes und der übrigen kleineren Länder zu bestimmen. Die Entwürfe ließen Bayern, Sachsen, Baden und Württemberg bis auf wenige organisatorische Bestimmungen unberührt175. Den Reichskanzler interessierte die wiederbelebte Verfassungs- und Reichsreformdiskussion jedoch nur peripher. Er hatte seit der Übernahme der Regierungsgeschäfte mehrfach erklärt, daß die von seinem Vorgänger forcierten Reformpläne in den Hintergrund zu treten hätten gegenüber der akuten Krisenbewältigung durch Arbeitsbeschaffung176. Er glaubte mit der faktischen Machtverteilung zwischen Reich und Ländern leben zu können und war nicht willens, den bayerischen Wünschen nach erneuten Ausgleichsverhandlungen mit den Ländern177 zu entsprechen oder der von Preußen geforderten reichsgesetzlichen Regelung des seit dem „Preußenschlag“ in der Schwebe gehaltenen Reich-Länder-Verhältnisses näherzutreten. So erklärt sich, daß er den Anspruch des[LIX] Preußischen Staatsministeriums, den Haushaltsplan für das Rechnungsjahr 1933 aufzustellen, in lapidarer Kürze als unzulässig zurückwies und die übrigen von Preußen zur Sprache gebrachten „Streitpunkte“ als nutzlosen „Federkrieg“ abtat178. Dies schloß nicht aus, daß die Kommissare des Reichs in ihren Sitzungen die übrigen laufenden Geschäfte des Landes Preußen kontinuierlich abwickeln und in Streitfragen minderen Ranges, etwa der Frage der Verkündung von Gesetzen und der Beteiligung des Reichs an der Sanierung der „Preußenkasse“, mit der Regierung Braun zu einvernehmlichen Regelungen kommen konnten179. In der zentralen Auseinandersetzung kam man sich jedoch nicht näher.
Obwohl v. Schleicher und Braun in der Frage der Abwehr des nationalsozialistischen Zugriffs auf Preußen und das Reich im gleichen Boot zu sitzen schienen, konnte vor allem der Reichskanzler sich nicht zu einem gemeinsamen Vorgehen entschießen. Zwei protokollmäßig nicht dokumentierte Unterredungen verliefen in der Preußenfrage ergebnislos. Schleicher beharrte – worauf bereits hingewiesen wurde – auf der von ihm favorisierten Straßer-Lösung, wenngleich er sich am 6. Januar 1933 Braun gegenüber insgesamt resigniert über die politische Lage äußerte180. Was er dazu Mitte Januar dem Kabinett vortrug, hatte sich bereits nach der parlamentarischen Weihnachtspause abzuzeichnen begonnen: die Konfrontation mit einem Mißtrauensvotum des demnächst wieder zusammentretenden Reichstags. Das „Querfront-Konzept“ des Reichskanzlers besaß im Januar 1933 keine Daseinsberechtigung mehr. Wenn der Reichskanzler in der Kabinettssitzung vom 16. Januar 1933181 dennoch an ihm in einer auf einzelne Persönlichkeiten reduzierten Form festhielt und – wie schon geschildert – Ausführungen über eine ausbalancierte Kabinettserweiterung machte, dann kaschierte er damit zunächst nur das Eingeständnis seines Scheiterns. Als politische Alternative zu seinem bisherigen Vorgehen hatte er das verfassungsrechtliche Schranken durchbrechende Einschreiten gegen den Reichstag nie ganz ausgeschlossen182. Obwohl er es sechs Wochen zuvor als ultima ratio der Regierung v. Papen abgelehnt hatte, brachte er den Gedanken jetzt selbst in die Kabinettsdiskussion ein. Auf das in die gleiche Richtung weisende Hilfsangebot, das ihm Braun ohne Wissen und sicher gegen die Intentionen seiner Partei unterbreitet hatte, war er Anfang Januar nicht eingegangen183. Danach hätte der Reichskanzler die Verordnung vom 20. Juli 1932 aufheben lassen sollen, so daß der Preußische Ministerpräsident seine volle Amtsgewalt wiedererlangt hätte. Im Reich und in Preußen hätten dann die von verfassungsfeindlichen Parteien dominierten Parlamente gemeinsam aufgelöst und die Regierungsgewalt durch ein zeitlich befristetes Notstandsregime ausgeübt werden sollen. Braun glaubte, daß in der dadurch gewonnenen Zeit der Zulauf der Massen zu den Nationalsozialisten weiter gestoppt und der nationalsozialistische[LX] Angriff auf die Machtbastionen des Reichs und der Länder damit abgewehrt werden könne. Schleichers Äußerungen zur Preußenfrage legen nahe, daß es nicht verfassungsrechtliche Bedenken waren, die ihn zögern ließen. Entsprechende staatstheoretische Überlegungen waren in der Umgebung des Reichspräsidenten, auch von Schleicher selbst, in den letzten Jahren unter anderem auch mit dem Ziel, die Sozialdemokratie aus der politischen Mitverantwortung zu verdrängen, angestellt worden. Sie lebten Ende 1932/Anfang 1933 in der juristischen Fachliteratur und in der öffentlichen Diskussion wieder auf184. Zur Rettung seiner eigenen Regierung mochte sich v. Schleicher als Regierungschef nicht über ein Duumvirat mit Braun in die Abhängigkeit von der Sozialdemokratie begeben. Er hätte damit eine Maxime seiner Politik, die überparteiliche Fundierung der Regierungsgewalt, preisgeben müssen.