Text
[550] Nr. 184
Der Preußische Minister des Innern an Staatssekretär Hamm. 8. Juni 1923
[Betrifft: Sabotageorganisationen]
Persönlich!
Sehr geehrter Herr Staatssekretär!
Unter Bezugnahme auf mein Schreiben vom 30. Mai 1923, betreffend die sog. ‚Zentrale Nord‘1 übersende ich Ihnen in der Anlage ergebenst Abschrift des Berichts eines Kriminalkommissars, den ich zur Aufklärung der Umstände entsandt habe, die zur Verhaftung des früheren Selbstschutzführers Heinz Hauenstein in Barmen geführt haben2. Ich habe Grund zu der Annahme, daß die Angaben des Hauenstein über die Beziehungen seiner Organisation zu Behörden zutreffen. Ist dies aber der Fall, so müssen die Betroffenen ihre Festnahme durch die Polizei als bitteres Unrecht empfinden, wie diese Maßnahme auch in der Presse unliebsames Aufsehen erregt hat3. Die Verantwortung für diese unerwünschten Folgen muß ich jedoch denjenigen Stellen überlassen, die derartige Organisationen schaffen und ihnen Aufträge erteilen, ohne mit mir und den Polizeibehörden dieserhalb in Verbindung getreten zu sein. Diesen Zustand halte ich aus unbedingt maßgebenden politischen Gesichtspunkten[551] für völlig unerträglich und bin nicht in der Lage, mich mit ihm abzufinden. Ich habe mich in diesem Sinne an den Herrn Reichswehrminister und den Herrn Reichsverkehrsminister persönlich gewendet und gebeten, mich möglichst sofort zu unterrichten, welche Organisationen der fraglichen Art dortseits zur Zeit noch unterhalten oder gefördert und welche Aufträge ihnen erteilt werden. Ich bitte, auch Ihrerseits für Änderung der augenblicklichen wirklich höchst bedenklichen Verhältnisse einzutreten. Ich behalte mir vor, demnächst an den Herrn Reichskanzler selbst dieser Angelegenheit wegen heranzutreten.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Severing
Fußnoten
- 1
In R 43 I nicht ermittelt.
- 2
Nach dem fünfseitigen Bericht des Kriminalkommissars Weitzel hatte Hauenstein auf Anregung eines Krupp-Ingenieurs gleich zu Beginn des Ruhrkampfes eine Spionage- und Sabotage-Organisation aufgebaut, um den Maßnahmen der Franzosen im Ruhrgebiet entgegenzuwirken. Er hatte dabei Verbindungen zur Handelskammer Essen, zur Generalbetriebsleitung Elberfeld des RVMin. und zum RWeMin. in Berlin aufgenommen und die Unterstützung dieser Stellen erhalten. Insgesamt führte die Organisation Heinz nach Angaben Hauensteins 18 Sprengungen durch und beseitigte acht frz. Spitzel. Eine der drei Einsatzgruppen Hauensteins wurde von Schlageter geführt, der am 7. 4. von der frz. Kriminalpolizei in Essen verhaftet, wegen Spionage und Sabotage von den Franzosen zum Tode verurteilt und am 26. 5. erschossen wurde; in Deutschland verehrte man ihn, insbesondere in politischen Rechtskreisen, sehr bald als nationalen Märtyrer und machte ihn zu einer legendären Gestalt. Hauenstein selbst wurde am 12. Mai wegen Verdachts der Geheimbündelei und des unerlaubten Waffenbesitzes von der pr. Polizei verhaftet, berief sich bei seiner Vernehmung jedoch auf seine Verbindungen zu Reichsstellen. In seinem Aussageprotokoll heißt es u. a.: „Aufgrund des vorstehend geschilderten Zusammenarbeitens mit allen behördlichen Stellen und meinen Erkundigungen in Berlin mußte ich voll und ganz annehmen, im Einverständnis und im Interesse aller in Betracht kommenden Regierungsstellen zu handeln und mich vollkommen berechtigt zu meinem Tun fühlen.“ (R 43 I/213, Bl. 276-278).
- 3
Nachdem Hauenstein bei einer seiner polizeilichen Vernehmungen ausgesagt hatte, er habe Schlageter aus dem Gefängnis befreien wollen, wurde Severing in der Rechtspresse indirekt für die am 26. Mai erfolgte Erschießung Schlageters durch die Franzosen verantwortlich gemacht, zumal nach Auffassung der Rechtspresse auch die Verhaftung Schlageters nur durch Mitwirkung amtlicher pr. Stellen erfolgt sei. Ausführliche Widerlegung dieser Vorwürfe in Severing, Mein Lebensweg I, S. 402 ff. Nähere Angaben auch in einer Aufzeichnung Hamms über eine Besprechung mit Severing am 18. 6. (R 43 I/213, Bl. 280-282). Im pr. LT wird die Frage der Sabotage und des Übergangs zum aktiven Widerstand vom 18. – 21. Juni lebhaft diskutiert; der Tod Schlageters wird zum Gegenstand leidenschaftlicher Auseinandersetzungen zwischen den Deutschnationalen und Severing (Pr. LT-Protokolle Bd. 13, Sp. 18399 ff.).