Text
Nr. 45
Aktenvermerk des Reichsministers des Innern über eine Unterredung mit dem Reichspräsidenten am 29. Juni 1932
R 43 I/1000, S. 365–371 Abschrift1
[Einführung der Wahlpflicht, Notverordnungspolitik der Reichsregierung, Behandlung der Oppositionspresse, Bekämpfung kommunistischer Ausschreitungen]
Am 29. Juni hatte der Herr Reichspräsident mich zu sich befohlen, um mit mir folgende Punkte zu besprechen:
1. Der Herr Reichspräsident regte an, ob nicht vor den Wahlen2 durch Verordnung die ihm von vielen Seiten empfohlene Wahlpflicht eingeführt werden solle. Ich habe dem Herrn Reichspräsidenten erwidert, daß mir der Gedanke der Wahlpflicht durchaus sympathisch wäre. Es müßten aber bei Bestimmungen über die Wahlpflicht auch Strafbestimmungen für Versäumnisse gegenüber dieser Pflicht festgesetzt werden; das könnte leicht zu sehr unerfreulichen Ermittlungen und Unbequemlichkeiten in Zweifelsfällen führen. So wäre z. B. unter Umständen amtsärztlich nachzuprüfen, ob jemand seine Wahlpflicht infolge Krankheit versäumt habe oder nicht. Auch im übrigen würde tief in die Familienverhältnisse zur Nachprüfung der Strafbarkeit eingegriffen werden müssen. Es wäre auch möglich, ein Verabsäumen der Wahlpflicht durch Steuerzuschläge zu bestrafen. Auch das wäre in der gegenwärtigen Zeit ziemlich wirkungslos, da ein sehr erheblicher Teil der Wahlberechtigten keine Steuern zahlt. Eine Wahlpflicht ohne Strafe für Versäumnis wäre ein Schlag ins Wasser und könne die Autorität der Stellen, die die Verordnung erlassen haben, nur in Gefahr bringen. Der Herr Reichspräsident verschloß sich diesen Einwänden nicht, bat mich aber, in Form eines Aufrufs vor den Wahlen in überparteilicher Form die Bevölkerung an ihre Wahlpflicht zu erinnern.
[167] Diese Frage wird nach Rückkehr des Herrn Reichskanzlers im Kabinett zu besprechen sein3.
2. Der Herr Reichspräsident äußerte, daß wir nicht nur durch Notverordnungen allerhand nehmen, sondern auch Positives geben müßten. Er wiederholte mehrmals in der Unterredung: „Geben und nicht allein nehmen“. Ich habe dem Herrn Reichspräsidenten geantwortet, daß das Kabinett durch die Verhandlungen von Lausanne in eine schwierige Lage gekommen wäre. Dadurch, daß die Hälfte des Kabinetts ständig in Lausanne anwesend sein müßte, sind an sich dringende Beschlüsse, die zum Programm der Reichsregierung gehören, vorläufig zurückgestellt worden, da sie ohne Anwesenheit des Finanz- und Wirtschaftsministers nicht erledigt werden könnten. Sobald die Verhandlungen vorbei wären, würde das Kabinett auch positive Maßregeln beschließen. Bei dieser Gelegenheit wies der Herr Reichspräsident darauf hin, daß nach ihm gewordenen Mitteilungen die Mieten in Deutschland über dem Stande von 1913 liegen. Er regte an, die Frage einmal zu prüfen, ob nicht auf diesem Gebiet etwas geschehen könne.
3. Der Herr Reichspräsident wünscht, daß die Presse wegen ihrer Hetze gegen die Regierung, insbesondere die kommunistische, schärfer angefaßt wird, und daß die Landesregierungen die kommunistischen Ausschreitungen4 energischer als bisher bekämpfen möchten. Ich habe dem Herrn Reichspräsidenten erwidert, daß ich gestern, den 28ten, gelegentlich der Versendung der neuen Notverordnung an die Länderregierungen ein Rundschreiben5 gerichtet habe, in dem ich um schärfere Bekämpfung kommunistischer Überfälle ersuchte. Ein Verbot der Kommunistischen Partei käme nicht in Frage, da erfahrungsmäßig verbotene Organisationen sehr viel weniger zu beaufsichtigen sind als erlaubte. Der Herr Reichspräsident schien von dieser Antwort befriedigt zu sein, wiederholte aber nochmals seine Meinung, daß die Presse schärfer anzufassen wäre.
gez. Freiherr von Gayl