Text
Nr. 220
Rundschreiben des Reichsministers des Innern an die Landesregierungen. 19. Juli 1923
R 43 I/2708, Bl. 99 Umdruck1
[Betrifft: Verhinderung von Zusammenstößen am 29. Juli 1923]
Nach übereinstimmenden Mitteilungen der kommunistischen und deutsch-völkischen Presse2 ist zu erwarten, daß diese beiden Parteien und im Laufe der Entwicklung der Dinge vielleicht auch weitere Kreise der Bevölkerung[649] am 29. Juli 1923 im ganzen Reiche eine Kraftprobe gegeneinander veranstalten, so daß an diesem Tage allenthalben mit der Möglichkeit von Unruhen zu rechnen wäre. Ich mache die Landesregierungen hierauf aufmerksam und ersuche ergebenst, alle Maßnahmen zu treffen, um Unruhen oder Provokationen, die zu Unruhen führen könnten, energisch im Keime zu ersticken. Auf die genaue Beobachtung und Durchführung der reichs- und landesgesetzlichen Bestimmungen über das Waffentragen und das Mitführen von Waffen in Versammlungen und Aufzügen darf ich in diesem Zusammenhange ganz besonders hinweisen. Mit Rücksicht auf die außenpolitische Lage muß im gegenwärtigen Augenblick der größte Wert auf Ruhe und Geschlossenheit im Innern gelegt werden. Ich bitte daher, schon jetzt, wo Unruhen zu befürchten sind, von vornherein mit wirksamen Mitteln einzugreifen und nötigenfalls Versammlungen unter freiem Himmel für den 29. Juli überhaupt zu verbieten3.
Fußnoten
- 1
Am 19. 7. vom RIM zur Kenntnisnahme an die Rkei gesandt.
- 2
Vgl. die Aufrufe in den Julinummern der „Roten Fahne“ zum Antifaschistentag sowie im „Deutschen Tageblatt“ zum Antibolschewistentag.
- 3
Lt. Vermerk Hamms ergibt eine Rücksprache mit RIM Oeser am 20. 7.: „Für den 29. 7. würde der Herr RIM für sich vorziehen, kein vorbeugendes Verbot zu erlassen, wohl aber jede Unruhe mit den allerschärfsten Mitteln niederzuwerfen, um damit ein Exempel für später aufzurichten, das sehr lange nachwirken werde. Die preußischen Herren haben aber gegen diese Auffassung das Bedenken, daß dann schließlich die Schupo z. B. in Potsdam die Kommunisten gegen rechtsradikale Putsche schützen müßte und neigen dem allgemeinen Verbot öffentlicher Aufzüge zu, daß entweder vom RPräs. aufgrund des Art. 48 oder von der Preußischen Landesregierung aufgrund des Art. 123/II zu erlassen wäre. […] Der Herr RIM verkennt andererseits nicht, daß die alsbaldige Erlassung einer allgemeinen Vorschrift aufgrund des Art. 48 den Vorteil haben würde, daß dann, sofern schwere außenpolitische Bedrängnis über uns kommen sollte, bereits die notwendigen politischen Vorschriften vorlägen. Vorbehaltlich der Auffassung des Herrn RK stellte ich mich auf den Standpunkt, daß eine allgemeine Verordnung aufgrund des Art. 48 vielleicht zu weit gehen würde und daß der nächsten politischen Aufgabe des Reichs mit dem Rundschreiben genügt sei, das die Länder an die Pflicht erinnere, unbedingte Ordnung zu halten.“ (R 43 I/2708, Bl. 101 f.). Durch Verfügung vom 24. 7. verbietet der PrIM Versammlungen und Umzüge unter freiem Himmel (Ministerialblatt des PrIMin. 1923, S. 807). Lt. Vermerk Wevers vom 26. 7. ergehen ähnliche Verfügungen in Hamburg, Bremen, Hessen, Oldenburg, Mecklenburg-Strelitz, Braunschweig, Bayern (contra Kommunisten). In Lübeck, Württemberg würden sie noch ergehen, desgleichen wohl in Baden, auf das Hessen entsprechend einwirke (R 43 I/2708, Bl. 142). Zur Einstellung Bayerns s. Anm. 2 zu Dok. Nr. 227.