Text
[XX] I. Die Bildung des Kabinetts Brüning
Am 27. März 1930, um 18 Uhr, erklärte Reichskanzler Hermann Müller dem Reichspräsidenten v. Hindenburg den Rücktritt seiner Regierung. Das Kabinett der Großen Koalition, das mit der Ratifikation des Young-Plans am 13. März seine Arbeitsgrundlage verloren hatte, war an dem Gegensatz zwischen der DVP und der SPD über die Steuerpolitik und die Sanierung der Arbeitslosenversicherung auseinandergebrochen7. Hindenburg beauftragte am 28. März Dr. Heinrich Brüning mit der Bildung einer neuen Regierung. Die Berufung des Fraktionsvorsitzenden des Zentrums im Reichstag kam für politische Beobachter nicht unerwartet. Seit Ostern 1929, verstärkt aber seit der Jahreswende 1929/30 war Brüning der Kanzlerkandidat des Reichswehrministeriums und konservativer Politiker für eine bürgerliche Regierung von der DDP bis zur volkskonservativen Gruppe, die sich unter der Führung des Abgeordneten Treviranus von der DNVP getrennt hatte8. Nicht nur die Zusammensetzung des Brüning-Kabinetts, sondern auch der Auftrag Hindenburgs an den designierten Reichskanzler, die Regierung nicht „auf der Basis koalitionsmäßiger Bindungen aufzubauen“9 zeigten deutlich, daß die politischen Gewichte nach rechts verlagert werden sollten. Freilich: Weder das öffentliche Eingreifen des Reichspräsidenten in die Kabinettsbildung waren ein Novum in der Geschichte der Weimarer Republik10, noch eine von den Parteien unabhängige Reichsregierung.
Obwohl Brüning die Ministerien innerhalb von zwei Tagen besetzte11, verliefen die Verhandlungen keineswegs unkompliziert. Zwar war Brüning offenbar mit präzisen personellen Vorstellungen in die Verhandlungen mit den Parteien gegangen12, aber seine Entscheidungsfreiheit hatte der Reichspräsident eingeengt13. Vor allem an der Nominierung des Reichslandbund-Präsidenten und DNVP-Abgeordneten Schiele drohte die Regierungsbildung zu scheitern; Schiele hatte nämlich nicht nur umfangreiche und massive agrarpolitische Forderungen erhoben, sondern auch die Beseitigung der Weimarer Koalition in Preußen unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun verlangt14. Die Aufkündigung der Preußenkoalition durch das Zentrum hätte den vollständigen Bruch mit der SPD bedeutet, den Brüning wegen der intransigenten Haltung des DNVP-Vorsitzenden Hugenberg nicht riskieren[XXI] konnte15. Lediglich durch Hindenburgs Eingreifen konnten die Differenzen zwischen Brüning und Schiele beigelegt werden16. Auch bei der Besetzung des Finanz-, des Wirtschafts- und des Justizministeriums traten Schwierigkeiten auf17.
Die Regierungsarbeit begann am 31. März 1930 mit einer Ministerbesprechung18.
Welche Probleme hatten die beiden Kabinette der Ära Brüning zu bewältigen? Brünings Amtszeit fällt zusammen mit dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, deren Ausmaß und Dauer im Frühjahr 1930 allerdings niemand erkannte. Der Kanzler mußte sich zunächst den Aufgaben stellen, die ihm die Große Koalition ungelöst hinterlassen hatte. Am vordringlichsten war der Etatsausgleich und die Verabschiedung des Haushalts 1930/31, der unter normalen Voraussetzungen am 1. April 1930 hätte in Kraft treten müssen. Eng verknüpft mit der Abdeckung der Haushaltsdefizite war die finanzielle Sanierung der Arbeitslosenversicherung, an der das Kabinett Müller II gescheitert war. Brünings Deflationspolitik mit dem Ziel der Anpassung der Ausgaben an die sinkenden Einnahmen und das stetige Wachstum der Arbeitslosen von 2,8 Millionen im April 1930 auf 5,7 Millionen Menschen im April 193219 verschärften die Krise, statt sie zu mildern. Die Forderung des Reichspräsidenten nach der Vorlage eines Hilfsprogramms für die notleidende Landwirtschaft in den östlichen Provinzen20 stand gleichfalls vordringlich auf der Tagesordnung. Die Osthilfe und die Subventionen für den gesamten Agrarsektor haben von Anfang an die Regierungspolitik geprägt und schließlich entscheidend zum Sturz Brünings beigetragen.
Zur Hinterlassenschaft der Regierung Müller II gehörte schließlich der Young-Plan, den Brüning von Anfang an sehr kritisch beurteilt hatte und dessen Revision er nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 in Angriff nahm; die Streichung der Reparationen als Frucht dieser Politik erntete allerdings nicht Brüning, sondern dessen Nachfolger v. Papen.
Das Kernproblem der Ära Brüning war die Massenarbeitslosigkeit, die das Kabinett zunächst mit Preis- und Lohnsenkungen auf dem Kostensektor zu mildern und seit Sommer 1931 mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und einer heimlichen Kreditausweitung zu bekämpfen suchte. Diese Maßnahmen gehörten zu einem großen Reformprogramm, das die Finanzen des Reichs, der Länder und Gemeinden auf „gesunde Grundlagen“21 zurückführen sollte. Der Ausbruch der schweren Bankenkrise im Sommer 1931, die sich bis zum Frühjahr[XXII] 1932 hinzog, durchkreuzten diese Bemühungen. Der Zusammenbruch des Banksystems und die deutschen Devisenverluste waren indirekt auf die deutsche Außenpolitik zurückzuführen: während die deutsche Regierung dem europäischen Föderationsplan des französischen Außenministers Briand „ein Begräbnis erster Klasse“22 bereitete, verfolgte sie das Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion, die Frankreich als Vorbereitung des – durch die Pariser Vorortverträge verbotenen – Anschlusses Österreichs an Deutschland auffaßte und mit Devisenabzügen und Kreditkündigungen in beiden Ländern beantwortete. Das Scheitern der Zollunion und der Rücktritt des Außenministers Curtius bildeten allerdings nur den äußeren Anlaß für die Demission der Regierung Brüning I23 und die Umbildung des Kabinetts im Oktober 193124. Der wahre Grund war der Wunsch des Reichspräsidenten, die Regierung aus der scheinbaren Abhängigkeit von der SPD zu lösen und sie für die rechtsstehenden Parteien zu öffnen. Die Regierung Brüning II offenbarte den Wandel der Verfassungswirklichkeit, der seinen Ausgang von der „Krise des Parteienstaats“ (W. Conze) genommen hatte. Mit dem Ende des Kabinetts Müller II verließ die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik die politische Bühne, während unter Brünings Kanzlerschaft die parlamentarisch tolerierte Regierung zum Präsidialkabinett umgeformt wurde. Das Präsidialsystem trat jedoch zu einem Zeitpunkt offen auf, als die Autorität des Reichspräsidenten über den Parteien nicht mehr unbestritten war: die Reichspräsidentenwahlen im Frühjahr 1932 demonstrierten die Stärke der NSDAP und die Bedrohung der Republik durch den Rechtsradikalismus.
Hindenburgs Sieg im zweiten Wahlgang erschütterte Brünings Stellung gleich zweifach: die Nationalsozialisten waren durch die halbherzige Maßnahme des SA-Verbots nicht mehr als Machtfaktor auszuschalten, und der Reichspräsident entzog seinem Kanzler nun endgültig die Unterstützung25.
Wer waren die Männer, die zusammen mit Brüning, dem Reichskanzler mit der längsten zusammenhängenden Amtszeit der Weimarer Republik, diese Probleme zu bewältigen suchten?
Heinrich Brüning war bei seiner Ernennung zum Reichskanzler 44 Jahre alt. Seine Vorfahren waren väterlicherseits westfälische Bauern, die es zu einigem Wohlstand gebracht hatten, mütterlicherseits gehörten sie zum münsterschen Patriziat. Da der Vater früh verstarb, wuchs der Junge unter der Obhut der frommen Mutter und seines 10 Jahre älteren Bruders auf, der seine Entwicklung stark beeinflußte. Nach dem Abitur begann Brüning ein ausgedehntes Studium in den Fächern Jura, Philosophie, Geschichte, Germanistik und Volkswirtschaft. 1911 legte er nach langem Zögern das Examen für das höhere Lehramt ab, doch ging er nicht in den Schuldienst, sondern unternahm Reisen nach Frankreich und England. Mit einer volkswirtschaftlichen Dissertation über die Verstaatlichung der englischen Eisenbahn beendete er schließlich[XXIII] 1915 sein elfjähriges Studium. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs enthob ihn der Berufswahl. Brüning meldete sich als Kriegsfreiwilliger und wurde trotz schwacher körperlicher Konstitution und seiner Kurzsichtigkeit angenommen. Er fiel durch Tapferkeit auf, wurde verwundet, ausgezeichnet und zum Leutnant der Reserve befördert. Gegen Ende des Krieges gehörte er zu einer Spezialeinheit, die an Brennpunkten der Westfront als Nothelfer eingesetzt wurde. Die Kriegserlebnisse haben Brüning tief geprägt, und er hat später in seinen Reden häufig den charakterbildenden Wert der Armee und des Krieges hervorgehoben.
Nach der Demobilisierung wurde der ehemalige Reserveoffizier in Berlin Mitarbeiter des katholischen Geistlichen Carl Sonnenschein, der die materielle Not und die geistige Entwurzelung der aus dem Kriege heimgekehrten Studenten zu lindern suchte. Bereits nach einem halben Jahr wechselte Brüning im September 1919 als persönlicher Referent des preußischen Wohlfahrtsministers Stegerwald in die preußische Verwaltung über. Im Herbst 1920 übernahm er die Geschäftsführung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, des Spitzenverbandes konfessioneller und konservativer Gewerkschaften. In dieser Stellung, die er erst im Januar 1930 aufgab, lernte Brüning „die Griffe des politischen Handwerks“26. Im Frühjahr 1924 zog er als Zentrumsabgeordneter für den Wahlkreis Breslau in den Reichstag ein. In der Fraktion profilierte sich Brüning als versierter Haushaltsexperte, der seinen politischen Einfluß in nichtöffentlichen Sitzungen und durch persönliche Querverbindungen zu allen Parteien geltend machte, der der Öffentlichkeit aber bis zu seiner Wahl zum Vorsitzenden der Reichstagsfraktion des Zentrums im Dezember 1929 weitgehend unbekannt blieb.
Den ersten, beherrschenden Eindruck, den zeitgenössische Beobachter vom Reichskanzler Brüning überlieferten, ist der asketische Zug in der Erscheinung des straffen, mittelgroßen Mannes, dessen federnder Gang den ehemaligen Soldaten verriet27. Sein regelmäßig geschnittenes Gesicht mit den feinen Zügen, die hohe durchgeistigte Stirn, die Angewohnheit, beim Schweigen die Augenlider zu senken28, die unauffälligen Bewegungen, die Zurückhaltung und die gleichbleibende aufmerksame Höflichkeit erinnerten an einen katholischen Geistlichen29. Er sprach mit leiser, aber klarer und fester Stimme und konnte vor einem kleinen Kreis von Zuhörern Faszination und Überzeugungskraft entfalten. Dagegen fehlte ihm die rhetorische Begabung, in Massenversammlungen die Zuhörer mitzureißen, sie für seine politischen Ziele zu gewinnen und zu begeistern30. Brüning, so hat einmal ein ehemaliger Studiengenosse und politischer Gegner des Reichskanzlers geurteilt, entzündete sich nur an der Sachlichkeit der Aufgabe31, er hatte keinen Sinn für äußeren Effekt32. Er beherrschte[XXIV] die Materie, er kannte sich in Details eines Problems aus und besaß die Kombinationsgabe, die möglichen Konsequenzen einer Entscheidung zu übersehen33. Ein hoher Ministerialbeamter, der eng mit dem Reichskanzler zusammengearbeitet hat und ihn in vielen Kabinettssitzungen und Konferenzen beobachtete, charakterisierte die Arbeitsweise des Politikers Brüning folgendermaßen: „Brüning neigte dazu, ein Problem vor einer Entschließung all seiner Hüllen zu entkleiden, bis man den entscheidungsreifen Kern in der Hand zu haben glaubte, und es dann wieder neu einzuwickeln, bis es so verhüllt aussah, wie zu Beginn“34.
Mit Sachkompetenz und analytischem Verstand schuf sich Brüning im DGB, in der Zentrumspartei und im Kabinett eine unbestrittene Autorität. Seine Neigung jedoch, vor einer Entscheidung die Meinungen möglichst vieler verschiedener Leute einzuholen, irritierte häufig seine engen Mitarbeiter und Ministerkollegen und erweckte in der Öffentlichkeit den Eindruck der Entschlußlosigkeit35. Wenn Brüning in seinen „Memoiren“ behauptet, diese Gespräche mit Politikern, Wirtschaftsmanagern und Gewerkschaftlern hätten der Sicherung und Verstärkung der Regierungsbasis gedient36, so ist dies nur bedingt richtig: die „Expertenbefragungen“ und der Hang zur Geheimhaltung der Kabinettsberatungen offenbaren ein wenig von Brünings „unpolitischer Politik“, die schon den Mitlebenden der Ära Brüning aufgefallen ist37.
Nicht immer spiegeln die Kabinettsprotokolle den Eindruck des bedächtigen, zaudernden Reichskanzlers wider: Brüning lenkte die Diskussion mit behutsamer, aber fester Hand, ließ die Minister ausführlich zu Wort kommen, drängte zu Beschlüssen und konnte, wenn es die Situation erforderte, rasch handeln. Der Anschein der langsamen Entscheidungsbildung entstand meist aus der Notwendigkeit, die divergierenden Interessen und Meinungen im Kabinett auszugleichen und die Minister für einen gemeinsamen Beschluß zu gewinnen.
Über die letzten politischen Ziele des Reichskanzlers, die Wiedereinführung der Monarchie und die Rückbildung der parlamentarischen Demokratie zum konstitutionellen Staat38, geben die Akten der Reichskanzlei keine Auskunft. Die Minister waren in diese Pläne nicht eingeweiht, und da der Kanzler vor allem in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit häufig die Strategie, die seinen taktischen Zügen zugrundelag, nicht offenlegte, fühlten sie sich nicht ausreichend unterrichtet. Wenn Brüning glaubte, er könne sein Kabinett über seine Zielprojektion im unklaren lassen, er könne republikanische Parteien wie die SPD für die Restauration der Monarchie gewinnen39, er könne gegenüber dem Ausland eine andere Pressepolitik betreiben als gegenüber dem Inland40, er[XXV] könne mit Hilfe der USA gleichzeitig die Beseitigung der Reparationen und die Wiederaufrüstung Deutschlands erreichen41, so zeigte dieses Taktieren und Finassieren die Grenzen seiner Führungskraft und Menschenkenntnis. Die mangelnde Menschenkenntnis war ein Wesenszug des Junggesellen Brüning, der sich paarte mit dem Hang zur Vereinsamung, zum Skeptizismus und Pessimismus42; am stärksten ausgeprägt war sein Mißtrauen gegen jeden, den er nicht seit langer Zeit bestens kannte43. Die Behauptung erscheint nicht übertrieben, daß der Reichskanzler Heinrich Brüning nicht nur an objektiven Sachzwängen, sondern auch an seinen Charaktereigenschaften gescheitert ist.
Nächst dem Reichskanzler war Hermann Dietrich als Vizekanzler, zeitweiliger Wirtschaftsminister und nach dem Rücktritt des Reichsfinanzministers Moldenhauer im Juni 1930 dessen Nachfolger, die stärkste Persönlichkeit des Kabinetts. Der badische Jurist und Gutsbesitzer hatte seine ersten politischen Erfahrungen in der Kommunalpolitik und als nationalliberaler Abgeordneter in der zweiten badischen Kammer erworben. 1918 schloß er sich der DDP an und vertrat diese Partei in der Nationalversammlung und im Reichstag. 1918–1920 wirkte Dietrich als badischer Außenminister, 1928 wurde er Reichsernährungsminister im Kabinett Müller II.
Dietrichs Position im Kabinett erklärte sich nicht nur aus der institutionell starken Stellung des Finanzministers, sondern aus seiner Sachkenntnis der Landwirtschaft, der mittelständischen Industrie und der Kommunalpolitik. Trotz bisweilen auftauchender Zweifel hat er Brünings Deflationsprogramm unterstützt und mit dem Mut zur Unpopularität vertreten. Dietrich inspirierte die Kabinettsarbeit auch mit Vorschlägen, die außerhalb seines eigentlichen Ressorts lagen, und die der etwas cholerische Mann mit Hartnäckigkeit und Verve propagierte, etwa die Stadtrandsiedlung oder den Ausbau der Handelsverbindungen mit Südosteuropa.
Neben seinem Ministeramt übernahm Dietrich Ende 1930 den Vorsitz der Deutschen Staatspartei, die aus der DDP hervorgegangen war.
Reichsaußenminister Julius Curtius wurde gegen den Willen der eigenen Partei, der DVP, in seinem Amt bestätigt. Brüning wollte damit die Kontinuität zur Außenpolitik Stresemanns betonen. Curtius war als Vertreter des schwerindustriellen Flügels der DVP 1926 zum Reichswirtschaftsminister ernannt worden. Nach Stresemanns Tod hatte er im Oktober 1929 das Auswärtige Amt übernommen und die deutsche Delegation bei den Haager Schlußverhandlungen über den Young-Plan geleitet. Die Bildung des Kabinetts Brüning nutzte Curtius zu einer Umbesetzung der Spitzenpositionen im Auswärtigen Amt44. In der Westpolitik betrieb Curtius mit Brünings Billigung einen härteren Kurs gegenüber Frankreich, der im Scheitern der Saarverhandlungen45 und in der Ablehnung von Briands Europaplan deutlich wurde, während ihm in der Handelspolitik[XXVI] von Reichsernährungsminister Schiele46 und in der Ostpolitik von Treviranus47, eine zu nachgiebige Haltung vorgeworfen wurde.
Das Scheitern der deutsch-österreichischen Zollunion, die er zum falschen Zeitpunkt vorbereitet und diplomatisch völlig unzureichend abgesichert hatte, zwang ihn am 3. Oktober 1931 zum Rücktritt und löste die Demission der Regierung Brüning aus. Im neuen Kabinett übernahm der Reichskanzler in Personalunion das Amt des Außenministers.
Reichsinnenminister wurde Joseph Wirth. Der ehemalige Reichskanzler48 und zeitweiliger Reichsminister für die besetzten Gebiete in der Zweiten Regierung Müller49 repräsentierte den linken Flügel der Zentrumspartei im Kabinett.
Seine guten Beziehungen zur SPD suchte er für die parlamentarische Stärkung des Kabinetts einzusetzen50. Parteien der Rechten, auf deren Unterstützung Brüning anfangs gehofft hatte, war er als „Erfüllungspolitiker“ suspekt. Eine seinem Ressort angemessene bedeutende Rolle in der Ministerrunde hat er nicht gespielt, und nennenswerte Erfolge blieben ihm versagt: die Reichsreform wurde nicht durch das Innenministerium, sondern durch das Finanzministerium betrieben, ein Wahlreformgesetzentwurf blieb im Reichstag liegen51, Wirths Vorstoß zum Verbot der KPD und NSDAP52 lehnte Brüning aus politischen Zweckmäßigkeitserwägungen ab.
Wirth schied auf Verlangen des Reichspräsidenten von Hindenburg im Oktober 1931 auf der Reichsregierung aus53.
Ein kurzes Gastspiel im Kabinett Brüning I gab Reichsfinanzminister Paul Moldenhauer. Der Kölner Betriebswirtschaftsprofessor und DVP-Politiker wurde in seinem Amt bestätigt, obwohl während der Kabinettsbildung Gerüchte aufgetaucht waren, Moldenhauer solle in das Wirtschaftsministerium zurückkehren, das er im Kabinett Müller II bereits geleitet hatte54.
Weil Moldenhauer die Steuerschätzungen und Haushaltsplanungen zu optimistisch eingeschätzt hatte, wurde er im Juni 1930 durch seine eigene Partei zum Rücktritt gezwungen55.
Eine der farbigsten Persönlichkeiten im Kabinett war Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald. Der langjährige Vorsitzende des Gesamtverbands christlicher Gewerkschaften und des Deutschen Gewerkschaftsbundes war Brünings politischer Mentor gewesen. Stegerwald, der durch seine früheren Ämter als Preußischer Wohlfahrtsminister (1919–1921), preußischer Ministerpräsident (1921) und Reichsverkehrsminister im Kabinett Müller II über eine vielfältige Regierungspraxis[XXVII] verfügte, fiel die schwierige Aufgabe zu, die sozialpolitischen Folgen der Brüningschen Deflationspolitik zu vertreten. Den als notwendig angesehenen Abbau der Sozialleistungen versuchte Stegerwald nach Möglichkeit in Grenzen zu halten. Dies brachte ihn häufig in Gegensatz zu seinen Kabinettskollegen, insbesondere zum Reichsernährungsminister Schiele, dessen Agrarpreispolitik Stegerwald als stete Herausforderung seiner Politik der Lohnsenkungen betrachtete und ihn mehrfach mit dem Rücktritt drohen ließ56. Der temperamentvolle, impulsive Mann beschränkte sich keineswegs auf die Aufgaben seiner Ressorts, sondern beteiligte sich an den allgemeinpolitischen Besprechungen mit Argumenten, die den Standort des konservativen katholischen Sozialpolitikers nicht verleugnen wollten.
Zu den Neulingen im Kabinett gehörte Justizminister Johann Victor Bredt. Der Marburger Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht verfügte als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses von 1911–1918 und 1921–1924 sowie als Mitglied des Reichstags seit 1924 über eine reiche parlamentarische Erfahrung. Mit ihm beteiligte sich die Wirtschaftspartei, der er seit 1920 angehörte, erstmals an einer Reichsregierung. Das Urteil von Treviranus über seinen Kollegen, Bredt sei „ohne profilierte Auswirkungen im Ministerium wie im Kabinett“ geblieben57, wird durch die Protokolle bestätigt: Bredt beteiligte sich kaum an den allgemeinen politischen Aussprachen und ergriff nur das Wort, um juristische Voten zu Gesetzentwürfen abzugeben oder die Vorlagen seines Ressorts vor dem Kabinett zu vertreten58.
Die Wirtschaftspartei, die infolge des Wahlausgangs vom 14. September 1930 in Distanz zu Brüning ging, forderte im Oktober 1930 Bredts Rücktritt59 und erzwang schließlich Anfang Dezember sein endgültiges Ausscheiden aus der Regierung60.
Der letzte Generalquartiermeister des Ersten Weltkrieges, Wilhelm Groener, wurde als Reichswehrminister aus der Regierung der Großen Koalition übernommen. Er vertrat, assistiert von seinem „cardinal in politicis“61 General v. Schleicher, im Kabinett die Interessen der Reichswehr und griff höchst selten in ressortfremde politische Kontroversen ein62. Im zweiten Kabinett Brüning verwaltete der parteilose Groener zusätzlich das Amt des Reichsinnenministers. Die Opposition Schleichers gegen das SA-Verbot im April 1932 nötigte Groener, das Amt des Reichswehrministers am 12. Mai 1932 niederzulegen. Ein Nachfolger ist bis zum Sturz Brünings nicht ernannt worden.
Bestätigt im Amt wurde auch Reichspostminister Georg Schätzel, der seit 1927 dieses Ressort verwaltete. Schätzel vertrat im Kabinett die Bayerische[XXVIII] Volkspartei, bemühte sich aber immer um einen Ausgleich zwischen seinen Münchner Parteifreunden und der Reichsregierung.
Reichsverkehrsminister Theodor v. Guérard repräsentierte den rechten Flügel des Zentrums im Kabinett. Der ehemalige Vorsitzende der Reichstagsfraktion des Zentrums war mit 67 Jahren das älteste Regierungsmitglied. Da es v. Guérard während seiner Amtszeit nicht gelang, das größte öffentliche Verkehrsunternehmen, die Deutsche Reichsbahngesellschaft, dem politischen Willen der Reichsregierung zu unterwerfen, schied er anläßlich des Rücktritts der ersten Regierung Brünings aus dem Amt.
Auf ausdrücklichen Wunsch Hindenburgs wurde der Reichslandbund-Präsident Martin Schiele zum Reichsernährungsminister berufen. Schiele war bereits 1914 Mitglied des Reichstags gewesen, seit 1919 hatte er die DNVP in der Nationalversammlung und im Reichstag vertreten. Nachdem er 1925 zum Fraktionsvorsitzenden der DNVP gewählt worden war, war er in demselben Jahr zum Innenminister im Kabinett Luther I ernannt worden63. 1927 hatte er als Ernährungsminister im Kabinett Marx IV amtiert. Schiele sah es als seine Aufgabe an, die agrarpolitischen Forderungen des Reichslandbundes ungefiltert in Gesetzesvorlagen umzusetzen, was ihn oft in scharfe Kontroversen mit seinen Kabinettskollegen, vor allem mit Dietrich, Curtius und Stegerwald verstrickte. Obwohl Schiele seine Vorstellungen weitgehend durchsetzen konnte, verlor er rasch an Einfluß auf seinen Verband, der sich zunehmend radikalisierte, und mußte im Herbst 1930 das Präsidentenamt aufgeben64. Dies minderte seine Stellung im Kabinett, doch hinderte es Schiele nicht, auch weiterhin die Forderungen der Grünen Front mit wechselndem Erfolg zu vertreten.
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete Gottfried Reinhold Treviranus war mit 39 Jahren das jüngste Kabinettsmitglied. Seine Position verdankte der frühere Marineoffizier einer persönlichen Freundschaft mit Brüning und seinen guten Beziehungen zu Hindenburg und zu General v. Schleicher. Treviranus hatte im Dezember 1929 die Reichstagsfraktion der DNVP verlassen und den Versuch einer Parteineugründung unternommen, der allerdings bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930 kein Erfolg beschieden war65. Trotzdem wurde Treviranus nach der Auflösung des Ministeriums für die besetzten Gebiete zum Osthilfekommissar und Reichsminister ohne Geschäftsbereich ernannt66. Seine Ablösung von diesem Posten bei der Umbildung des Kabinetts im Oktober 1931 mochte als Eingeständnis des Scheiterns der Osthilfe angesehen werden, aber dennoch gehörte er als Reichsverkehrsminister auch der zweiten Regierung Brüning an.
Treviranus war als ausgebildeter Landwirt der fünfte Agrarexperte neben Schiele, Dietrich, Warmbold und Schlange in den Kabinetten Brüning. Er unterstützte den Ernährungsminister in dessen Auseinandersetzungen mit Dietrich,[XXIX] Curtius und Stegerwald, beteiligte sich temperamentvoll67 an den Ministerberatungen und war auch außerhalb seiner eigenen Ressortkompetenz initiativ68. Dabei blieben Konflikte mit Kabinettskollegen nicht aus: als Treviranus während des Wahlkampfs im August 1930 mehrfach öffentlich die Revision der durch den Versailler Vertrag festgelegten deutschen Ostgrenzen forderte, verlangte Außenminister Curtius für diesen Übergriff eine öffentliche Richtigstellung durch den Kanzler69. Die Auseinandersetzung wurde durch einen Kompromiß beigelegt, der Treviranus nicht desavouierte, sondern sein politisches Gewicht in der Regierung unterstrich70.
Hermann Warmbold, als Reichswirtschaftsminister in die zweite Regierung Brüning berufen, hatte sich als Professor für landwirtschaftliche Betriebslehre und als preußischer Landwirtschaftsminister im Kabinett Stegerwald 1921 dem Reichskanzler als Agrarexperte empfohlen. Brüning hatte ihn zu mehreren Besprechungen mit der Grünen Front im Januar und Juli 1931 als Sachverständigen herangezogen71. Der Kanzler konnte daher davon ausgehen, daß der neue Wirtschaftsminister die Interessen der Landwirtschaft berücksichtigen und gleichzeitig als ehemaliges Vorstandsmitglied der I.G. Farben die Verbindung der Regierung zu den industriellen Spitzenverbänden festigen würde. Diese Erwartung wurde jedoch enttäuscht, da Warmbold die Wirtschaftspolitik Brünings mißbilligte und bereits im Dezember 1931 anläßlich der Verabschiedung der Vierten Notverordnung zur Sanierung von Wirtschaft und Finanzen seinen Abschied forderte72. Der Reichskanzler konnte den Rücktritt Warmbolds bis Anfang Mai 1932 hinauszögern73, aber die Differenzen zwischen Brüning und Warmbold waren so schwerwiegend, daß dieser auf die Kabinettsberatungen nur noch wenig Einfluß nahm.
Der Rittergutsbesitzer Hans Schlange wurde im zweiten Kabinett Brüning als Osthilfskommissar und Reichsminister der Nachfolger von Treviranus74. Der ehemalige Offizier gehörte von 1921–1928 als DNVP-Abgeordneter dem preußischen Landtag, sowie 1924 und 1930 dem Reichstag an. 1930 war Schlange aus Opposition gegen Hugenberg aus der DNVP ausgetreten und hatte die „Volkskonservative Vereinigung“ mitbegründet. Schlange widmete sich mit großem Elan seinem Amt. Die Siedlungspläne vom Mai 1932, die seine Gegner beim Reichspräsidenten v. Hindenburg als „Agrarbolschewismus“ denunzierten, gaben den Anstoß für Brünings Sturz.
Nach Bredts Rücktritt wurde Staatssekretär Curt Joël mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Justizministers beauftragt. Er äußerte sich in den[XXX] Kabinettssitzungen meist nur gutachtlich zu verfassungsrechtlichen Streitfragen, beteiligte sich aber kaum an den Generalaussprachen des Kabinetts. Bei Bildung des Kabinetts Brüning II wurde Joël zum Reichsjustizminister ernannt75.
Auch der Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Ernst Trendelenburg hat zweimal während der Ära Brüning, von Juni 1930 – Oktober 1931 und im Mai 1932, die Amtsgeschäfte des Reichswirtschaftsministers geführt. Der Jurist Trendelenburg, der zu den ersten Beamten des 1917 errichteten Reichswirtschaftsamts gehörte und nach einer raschen Karriere 1923 zum Staatssekretär ernannt worden war, sah seine Hauptaufgabe in der Preissenkung und der Bekämpfung der Kartelle. Vorschläge für eine antizyklische Wirtschaftspolitik, die Trendelenburg im Kabinett vorsichtig zur Sprache brachte76 scheiterten an Brünings Deflationskonzept.
Chef der Reichskanzlei blieb der seit 1926 bewährte Staatssekretär Hermann Pünder.
Fußnoten
- 7
S. diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 489, P. 2.
- 8
Hiller v. Gaertringen, Die Deutschnationale Volkspartei, in: Matthias/Morsey, Das Ende der Parteien, S. 549; Jonas, Die Volkskonservativen, S. 55 ff.
- 9
Schultheß 1930, S. 93.
- 10
Regierungen ohne ausdrückliche Koalitionsbindungen waren die Kabinette Cuno (Arns, S. 148 bezeichnet diese Reg. sogar als Präsidialkabinett), Marx I, Luther I und Müller II als „Kabinett der Köpfe“. Zum Eingreifen des RPräs. in die Kabinettsbildung s. auch diese Edition, Die Kabinette Marx III/IV, Dok. Nr. 173.
- 11
Schultheß 1930, S. 93 f.
- 12
Zur ursprünglichen Ministerliste: Treviranus, Das Ende von Weimar, S. 116.
- 13
Vgl. Brüning, Memoiren, S. 162, Hindenburg wünschte die Beibehaltung Groeners und Schätzels und die Hereinnnahme Schieles und Treviranus’.
- 14
Dok. Nr. 1.
- 15
Brüning, Memoiren, S. 163, Die Vossische Zeitung wies in einem Kommentar auf die Tatsache hin, daß die neue Regierung zwar ohne die SPD gebildet werde; aber es sei unmöglich, sie gegen die SPD zu führen. Dafür sorge schon der Hugenberg-Block, dessen Starrheit und Sturheit eine Rückversicherung für die SPD bedeute (Vossische Zeitung Nr. 76 vom 29.3.1930, Beilage: ZSG 103/8495).
- 16
Dok. Nr. 1, Anm. 1.
- 17
- 19
Stat. Jb. für das Dt. Reich 50 (1931), S. 301; Stat. Jb. für das Dt. Reich 52 (1933), S. 291.
- 20
Diese Edition, Das Kabinett Müller II, Dok. Nr. 480.
- 26
Nobel, Brüning, S. 26.
- 27
Schwerin v. Krosigk, Es geschah in Deutschland, S. 131.
- 28
Westdeutsche Volkszeitung Nr. 76 vom 31.3.31 in: R 43 I/2876, Bl. 76.
- 29
François-Poncet, Als Botschafter in Berlin, S. 17.
- 30
Schwerin v. Krosigk, S. 138.
- 31
Stadtler, Schafft es Brüning? S. 111.
- 32
Schwerin v. Krosigk, S. 139.
- 33
Nobel, S. 40.
- 34
Schwerin v. Krosigk, S. 138.
- 35
Stadtler, S. 113; 151 f. (Vergleich mit Bethmann Hollweg); dagegen Schwerin v. Krosigk, S. 138.
- 36
Brüning, Memoiren, S. 457; Luther, Vor dem Abgrund, S. 121.
- 37
Stadtler, S. 111; S. 151; vgl. auch Brachers Besprechung der Memoiren in: Brünings unpolitische Politik und die Auflösung der Weimarer Republik VfZG 19 (1971), S. 115 u. ö.
- 38
Brüning, Memoiren, S. 453, 456, 512.
- 39
Brüning, Memoiren, S. 521.
- 40
Dok. Nr. 408, P. 2 und Brüning, Memoiren, S. 441.
- 41
Dok. Nr. 618 (Reparationsfrage) und Dok. Nr. 631, P. 1 (Abrüstungsproblem).
- 42
Stadtler, S. 144.
- 43
Luther, Vor dem Abgrund, S. 129 f.
- 53
Brüning, Memoiren, S. 386, 424.
- 57
Treviranus, Das Ende von Weimar, S. 135; zum Verhältnis Bredts zu seinem Ministerium vgl. Erinnerungen und Dokumente von Joh. Victor Bredt, S. 224.
- 58
- 61
Groener in einem Brief an A. v. Gleich vom 4.1.30, abgedruckt in Phelps, Aus den Groener-Dokumenten, Deutsche Rundschau 76, S. 1013.
- 62
- 67
Keil, Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Bd. 2, S. 383 hebt Treviranus’ starken Geltungsdrang und gewinnende Liebenswürdigkeit hervor; Brüning, Memoiren, S. 173 lobt Treviranus’ trockenen Humor.
- 68
Vgl. seinen Vorschlag zur Prägung von Vierpfennigstücken in Dok. Nr. 21, P. 1 und Dok. Nr. 167, P. 4.
- 69
Dok. Nr. 104, P. 3.
- 70
Dok. Nr. 110.