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Nr. 160
Aufzeichnung des Ministerialrats Feßler über die Besprechung der Notlage Mecklenburgs, 4. November 1930
Unter Vorsitz des Reichskanzlers wurde die schwierige Lage der mecklenburgischen Landwirtschaft von dem Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Schwerin, Eschenburg, dem Ministerpräsidenten von Mecklenburg-Strelitz, Freiherrn von Reibnitz, und dem Staatsminister Haack (Mecklenburg-Schwerin) eingehend geschildert. Die Reichsminister Schiele und Treviranus, die Staatssekretäre Dr. Pünder und Dr. Schäffer, der Gesandte Tischbein, die Ministerialdirektoren Dr. von Hagenow und Dr. Wachsmann sowie Ministerialrat Dr. Feßler (als Protokollführer) nahmen teil.
Die allgemeinen Schwierigkeiten der Landwirtschaft, die sich in den agrarischen mecklenburgischen Ländern auch für die Staatswirtschaft höchst ungünstig auswirken, sind durch Mißernten in früheren Jahren und durch Wetterschäden der neueren Zeit in hohem Grade verschärft worden. Auf Grund einwandfreiem, von Ministerpräsidenten Eschenburg selbst sorgfältig geprüften Materials hat sich ergeben, daß die Verschuldung bei einer großen Anzahl von Betrieben auf 164 RM für den Morgen angewachsen ist, während der Kaufpreis etwa 204 RM beträgt1. Ähnlich ist die Lage bei den Pächtern, deren Inventarwert ungefähr ihrer Verschuldung entspricht.
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MinPräs. Eschenburg hatte dem RK am 31.10.30 Material über die Verschuldung der mecklenburgisch-schwerinschen Landwirtschaft übersandt (R 43 I/2276, Bl. 285–299).
Auch für Güter, die etwa nur zur Hälfte ihres Einheitswertes verschuldet sind und gut geführt werden, ist es nicht möglich, für gekündigte Hypotheken Ersatz zu schaffen.
Der Staat ist bereit, Hilfe zu leisten. Er könnte von der Rentenbankkreditanstalt auf 4 Monate 5 Millionen RM bekommen, wenn die Rückzahlung später sichergestellt würde.
[598] Würde es so nicht ermöglicht, über den Winter hinwegzukommen, so wären im Frühjahr Massenzusammenbrüche unvermeidlich. Auch die Getreidehandelsfirmen seien nicht mehr in der Lage, wie früher durch Vorschüsse zu helfen. 30 Firmen seien in letzter Zeit in Konkurs geraten. Auch die Genossenschaften könnten nicht Kredite gewähren, weil sie unter starkem Druck der Preußenkasse ständen.
Er bitte die Osthilfe möglichst bald auf Mecklenburg-Schwerin auszudehnen2. Rasche Hilfeleistung sei geboten, sonst käme sie zu spät.
Dem Antrag Preußens, keine ausländischen Arbeiter mehr zuzulassen, müsse er entschieden widersprechen3. Ihre Zahl sei bereits von 24 000 auf 12 000 herabgedrückt worden. Mecklenburg könne bei seiner dünnen Bevölkerung ohne die Schnitter nicht auskommen. Die Landflucht vermindere die heimische Arbeiterschaft dort in besonders starkem Maße. Sein Versuch, auf dem eigenen Gute die ausländischen Schnitter durch Arbeitslose zu ersetzen, habe zu schweren Schädigungen geführt. Er könne nicht fortgesetzt werden, ohne den Betrieb aufs äußerste zu gefährden.
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Der PrHandM Schreiber hatte als eine Maßnahme zur Minderung der Arbeitslosigkeit vorgeschlagen, keine Genehmigungen für die Einreise ausländischer landwirtschaftlicher Wanderarbeiter mehr zu erteilen, und den Arbeitskräfteausfall durch dt. Erwerbslose zu ersetzen (Schreiben Schreibers in Abschrift vom 16.10.30 in R 43 I/2038, Bl. 233–237; vgl. Dok. Nr. 167, Anm. 20).
Auf einen Einwand erklärte er, daß die Auffassung des Freiherrn von Richthofen, der Ersatz sei ohne weiteres möglich, für dessen Besitz in nächster Nähe von Breslau mit bestem Boden zutreffen könne, daß aber die Verallgemeinerung seiner Erfahrungen der Landwirtschaft außerordentlich geschadet habe. Die überschuldeten Betriebe könnten auch bei Ausdehnung der Osthilfe nicht gehalten werden. Es handele sich für ihn aber nur um die Betriebe, die tatsächlich noch lebensfähig seien. Auch diese ständen ohne staatliche Hilfe in großer Zahl vor dem Ruin.
Ministerpräsident Freiherr von Reibnitz schloß sich im allgemeinen diesen Erklärungen an. 80% der Domänenpächter kämen zum Erliegen.
Die Lage von Mecklenburg-Strelitz habe sich durch das Urteil des Schiedsgerichts und die Abfindungsverpflichtung gegen die ehemals herrschende Familie wesentlich verschlechtert4. Sein Vorschlag, sich an Preußen anzuschließen, werde voraussichtlich im Landtag abgelehnt werden. Er werde sich dann gezwungen sehen, die Vereinigung des Landes mit einem anderen durch Reichsgesetz zu beantragen5.
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Darüber ist in den Akten der Rkei nichts zu ermitteln. Mit dem ehemals regierenden Fürstenhaus hatte Mecklenburg-Strelitz 1918, 1919 und 1921 Entschädigungsverträge abgeschlossen: s. Th. Günther, Die Fürstenentschädigung (1928), S. 27, 28 u. 30.
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StM Frhr. v. Reibnitz brachte am 18.11.30 im LT einen GesEntw. über den Anschluß von Mecklenburg-Schwerin an Preußen ein (GesEntw. mit Anschreiben an die Rkei vom 24.11.30 in R 43 I/2276, Bl. 309–349). Das Min. zog am 26.6.31 den GesEntw. zurück (WTB Nr. 1339 vom 27.6.31, R 43 I/2276, Bl. 352). Verhandlungen über eine Reichsaufsicht, die Reibnitz im November 1931 einleitete (R 43 I/2277, Bl. 65), wurden nach dessen Rücktritt im Dezember 1931 (R 43 I/2277, Bl. 76) nicht fortgsetzt.
[599] Der Reichskanzler dankte für die Darlegungen. Die Absicht, die Osthilfe auf Mecklenburg-Schwerin auszudehnen, habe leider nicht verwirklicht werden können. Der alte Reichstag habe die Deckung abgelehnt6.
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Ein Entschließungsantrag der DNVP, die Osthilfe auf Mecklenburg auszudehnen (RTBd. 443, Drucks. Nr. 2292) war in der RT-Sitzung vom 17.7.30 zurückgezogen worden (RTBd. 428, S. 6463).
Es fehle an Mitteln, um diese Ausdehnung der Umschuldung durchzuführen. Erst müßten die Finanzierungsgesetze durchgebracht sein, dann könne an die Aufnahme von Kredit gedacht werden. Die Ostmaßnahmen seien durch die Reichstagsauflösung um ein halbes Jahr zurückgeworfen worden.
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft hielt, wie die Vertreter der beiden Länder, schnelle Hilfe für dringend nötig. Allein durch die Kartoffelpreissenkung seien 40–50 RM auf den Morgen Schaden erwachsen. Für die Betriebserhaltung in Mecklenburg müßten mehrere Millionen zur Verfügung gestellt werden, sonst käme Hilfe über die Preisbildung zu spät. Im nächsten Frühjahr würden die Maßnahmen sich auswirken. Nötig werde es sein, die Zuckerwirtschaft durch Kontingentierung gesund zu erhalten. Die Lösung der Schnitterfrage müsse einer günstigen Entwicklung vorbehalten bleiben. Es sei wohl geboten, die preußische Anregung auf sich beruhen zu lassen.
Mit der Preußenkasse seien Verhandlungen wegen der Verlängerung der Düngemittelkredite angeknüpft. Er hoffe auf günstiges Ergebnis. Das Reich werde alles tun, um die Preise zu stützen, besonders bei Kartoffeln und Getreide.
Reichsminister Treviranus sah die Entwicklung sehr ernst. Im Februar/ März nächsten Jahres würden in vielen Gegenden keine Steuern mehr gezahlt werden. Die Stimmung sei verzweifelt. Selbst wenn die Rentabilität der sanierungsfähigen Betriebe mit dem Stichtag vom 1. Juli 1931 und den dann erhofften höheren Preisen für die ausländischen Erzeugnisse errechnet werde, würden die 20 Millionen, die für die Betriebssicherung vorgesehen seien, nicht ausreichen. Der Vollstreckungsschutz sei nur in geringem Maße in Anspruch genommen worden, wohl auch, weil ein negativer Entscheid den Ausfall der Gläubiger zur Folge haben würde.
Das Gesetz könne erst bearbeitet werden, wenn die ausreichende Finanzierung sichergestellt sei. Das sei bisher noch nicht möglich gewesen. Die Kreditlage habe sich seit der Auflösung des Reichstags wesentlich verschlechtert.
Die Umschuldung sei eine Liquidationskassenangelegenheit. Sie wirke sich meist zugunsten größerer Besitzer aus.
Ministerialdirektor Dr. Wachsmann wies auf die Umschulungsversuche zur Einschränkung ausländischer Arbeiter hin. Die Osthilfe sei nicht darauf eingestellt, Betriebsmittel bis zur nächsten Ernte zu beschaffen. Der Betriebserhaltungsfonds könne nur in beschränktem Maße hierfür in Anspruch genommen werden. Das Umschuldungsverfahren werde nach Möglichkeit abgekürzt, brauche aber immerhin noch mehrere Monate im Einzelfall. Es bringe demnach bis zu der erhofften Preissteigerung keine Hilfe.
[600] Es würde immer schwieriger, geeignete Siedler zu bekommen. Von 4500 neuen Stellen seien 150 noch nicht verkauft. Das Schwergewicht werde auf die Anliegersiedlung gelegt. Die Lage der Preußenkasse sei schwierig, da sie mit 80 Millionen festgefahren sei.
Staatssekretär Dr. Schäffer erklärte es nach telefonischer Rücksprache mit dem Reichsminister der Finanzen für unmöglich, daß das Reich wegen der Rückzahlung der von Mecklenburg-Schwerin gewünschten Zwischenkredite in Höhe von 5 Millionen eine Zusage mache. Hilfe sei schließlich nur über ausländische Kredite möglich, die zur Zeit nicht erlangt werden könnten.
Staatsminister Haack erklärte, mit dem Erliegen der Landwirtschaft verringerten sich auch die Steuereingänge. So würde Mecklenburg in wenigen Monaten nicht mehr in der Lage sein, seine Staatsaufgaben zu erfüllen. Er müsse dem Landtag darüber klare Auskunft geben. Mit dem Zusammenbruch Mecklenburgs würde auch das ganze Reichsproblem akut werden.
Der Reichskanzler stellte in Aussicht, daß Hilfsmaßnahmen für Mecklenburg alsbald im Kabinett beraten werden würden, auch im Zusammenhang mit dem Finanzausgleich. Das Ergebnis werde Mecklenburg mitgeteilt werden7.
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Am 23.11.30 fragte StM v. Reibnitz bei StS Pünder an, ob die RReg. schon Maßnahmen beschlossen habe. Einem Vermerk Feßlers zufolge schlug MinDir. Wachsmann vor, mit einer Entscheidung zu warten, bis der LT über den Anschluß an Mecklenburg-Strelitz an Preußen entschieden habe (R 43 I/2276, Bl. 307–308).
Der Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft prüfe, inwieweit es möglich sei, mit Hilfe der Rentenbankkreditanstalt dem dringenden Geldbedarf der mecklenburgischen Landwirtschaft entgegenzukommen.
F.[eßler]