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[232] Nr. 55
Der Reichsminister für die besetzten Gebiete an das Auswärtige Amt. 24. Juni 1930
R 43 I/616, Bl. 185–190 Abschrift1
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Dieses Dok. ist veröffentlicht von Ruge und Schumann in ZfG 20 (1972), S. 61–63.
Betrifft: Französisches Memorandum über die Organisation einer europäischen Bundesordnung. […]
Mit Beziehung auf die vorgenannten Schreiben2. und das Ergebnis der kommissarischen Beratung am 19. d. Mts.3 gestatte ich mir folgende Ausführungen.
Bei der Verfolgung des Zieles der deutschen Außenpolitik, dem Deutschen Reich in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht die Normallage einer europäischen Großmacht wiederzugewinnen, haben sich zwei Mittel als nützlich erwiesen, 1) die Zusammenarbeit Deutschlands mit einem möglichst umfassenden Kreise ausländischer Staaten (Völkerbund, Rußland, Vereinigte Staaten von Amerika), 2) die Dienstbarmachung wirtschaftlicher Interessen für politische Zwecke.
Das Memorandum Briands4 steht auf völlig andersartiger Grundlage. Im Punkte der Universalität bleibt der Rahmen des Europaplans Briands, der die östliche Hälfte von Europa ohnedies nicht umfaßt und daher zu Unrecht seinen Namen führt, weil hinter dem Völkerbund zurück, da der Plan nicht bloß dessen außereuropäische Mitglieder ausschließt, sondern gewiß auch nicht alle europäischen Mitglieder des Völkerbundes gewinnen kann. Der engere Zusammenschluß, in dem sich der Europabund Briands betätigen soll, bedeutet gleichzeitig für Deutschland, falls es auf den Plan eingeht, eine weitere Entfernung von Rußland und den Vereinigten Staaten von Amerika. In wirtschaftlicher Hinsicht verkündet das Memorandum von Briand, allen Erfahrungen des ersten Jahrzehntes der Nachkriegszeit zum Trotz, den Primat der Politik über die Wirtschaft, weshalb es auch das ständige Organ seines Bundesplanes einen politischen Ausschuß nennt (Teil II B)5. Es ist klar, daß bei der Annahme dieses Prinzips die Aktionsmöglichkeiten Deutschlands ohne weiteres eine starke Verknappung erleiden würden.
Der Angriff des Europaplans von Briand auf die Grundlagen der bisherigen außenpolitischen Aktionen Deutschlands ist um so gefährlicher, als er auch in den Zielen keinerlei Annäherung herbeiführt. In dieser Richtung handelt es sich insbesondere um die Stellungnahme des Plans zu der Frage der Revision der Friedensverträge. Vereinzelt wurde, allerdings nur von Antirevisionisten, dem[233] Plan eine gewisse Revisionsfreundlichkeit unterstellt. Die überwältigende Mehrheit der europäischen öffentlichen Meinung aber hat den Plan als eine Stabilisierung des durch die Friedensverträge geschaffenen Status Europas erkannt. Der Plan enthält zwar keine nochmalige besondere Bestätigung der Friedensverträge. Er ist aber vom Anfang bis zum Ende in seiner ganzen Anlage und in allen Einzelheiten von dem Grundsatz der Unantastbarkeit der Friedensverträge durchtränkt. Ein Staatenbund setzt ohne weiteres im Verhältnis der Gründungsmitglieder zueinander Freundschaft oder doch Bereinigung aller wesentlichen Streitpunkte voraus.
Diese Regel würde nach unserm Beitritt zu dem Europabunde sich als eine uns ungünstige Vermutung oder Fiktion auswirken, besonders bei einem deutschen Revisionsbegehren nach Artikel 19 des Völkerbundspaktes6. Wenn in der Einleitung des Memorandums gesagt ist, daß die Verständigung zwischen europäischen Staaten auf dem Boden unbedingter Souveränität und völliger politischer Unabhängigkeit erfolgen müsse, und weiterhin hervorgehoben ist, daß die beiden Grundprinzipien des Völkerbundes, aber auch des neuen Bundes, gerade die Souveränität der Staaten und die Gleichheit ihrer Rechte seien, so könnte auf dem ersten Blick darin eine gewisse Verurteilung des Systems minderen Rechts vermutet werden, dem Deutschland durch den Versailler Vertrag zwangsweise unterworfen wurde (Entmilitarisierung usw.). Aber gerade der ebengenannte Hinweis auf den Völkerbund tut dar, daß an eine derartige, an den Grundlagen der Friedensverträge in ihrer jetzigen Gestaltung rüttelnde Einstellung, die bei der allgemeinen Haltung Frankreichs ohnedies verwunderlich wäre, überhaupt nicht gedacht ist. Das Verlangen völliger politischer Unabhängigkeit für die Bundesmitglieder kann im Gegenteil als gegen den Anschluß Österreichs gerichtet angesehen werden. Auch der Hinweis auf die unbedingte Souveränität der Mitglieder des neuen Bundes hat wohl eine ähnliche Bedeutung wie eine berühmte Stelle in der Präambel der Locarno-Schiedsverträge Deutschlands mit Polen und der Tschechoslowakei („einig darin, daß die Rechte eines Staates nur mit seiner Zustimmung geändert werden können“7, nämlich, daß den deutschen Bestrebungen auf eine Revision der Ostgrenze entgegengetreten werden soll. Dies ergibt sich auch daraus, daß der politische Hauptgedanke des Vorschlages Briands (Teil III B) eine Ausdehnung der in Locarno begonnenen Politik der internationalen Garantien verlangt8. Diese Politik aber wurde von Briand selbst noch im Dezember v. J. als eine Politik der Stabilisierung des Vertrages von Versailles vertreten und gepriesen. Ein Ost-Locarno würde also auf dem Wege über den Europabund angestrebt werden.
Entsprechend dem Grundsatz des Primats der Politik über die Wirtschaft und gemäß seiner persönlichen, wirtschaftlichen Erwägungen nicht besonders erschlossenen Einstellung hat Briand in seinem Memorandum den wirtschaftlichen[234] Dingen, die doch eher als die politischen für eine europäische Regelung hätten verwertet werden können, nur dürftige Ausführungen gewidmet, wie schon in dem gefälligen Schreiben vom 31. Mai 19309 hervorgehoben worden ist.
Die kommissarische Beratung am 19. d. Mts. hat zwar einige wirtschaftliche Materien aufgezeigt, die einer europäischen Regelung zugänglich wären, für sehr viele andere aber eine solche Regelung als überflüssig und zum Teil sogar – wegen der damit verbundenen Beeinträchtigung des jetzigen Einflusses Deutschlands – als nachteilig dargetan10. Von keiner Seite wurde selbst für die im Sinne Briands erwägenswerten wirtschaftlichen Materien eine Organisation von dem Ausmaße des Briand-Memorandums für nötig erachtet. Von ganz vereinzelten und jedenfalls für die Entscheidung unwesentlichen Punkten abgesehen, herrschte vielmehr die Meinung vor, daß die etwa erforderliche Arbeit innerhalb des Völkerbundes und der großen Verwaltungsgemeinschaften (Weltpostverein u. a.) geleistet werden könne und solle.
Zu den organisatorischen Vorschlägen Briands noch folgendes. In auffallendem Gegensatz zu der Unklarheit des politischen Teiles und der Dürftigkeit des wirtschaftlichen Teiles der materiellen Vorschläge Briands ist der organisatorische Teil seines Europaplans technisch sorgfältig ausgearbeitet. Dabei ist allerdings, was die Arbeit erleichterte, die Völkerbundsorganisation in formeller Hinsicht stark kopiert. Es ist klar, daß dieser große Apparat von Briand weit weniger für die wirtschaftlichen als für die politischen Zwecke des Bundes gedacht und konstruiert ist. Ergibt sich schon aus der Grundanlage des Europabundes ohnedies eine schwächere Stellung Deutschlands als in dem den Ausgleich der Kräfte und Strebungen leichter ermöglichenden Völkerbund, so ist unter der Flagge des gleichen Rechts der Mitgliedsstaaten von der völligen formalen Gleichberechtigung der Bundesmitglieder in der Beschlußfassung der Organe des neuen Bundes eine weitere Schwächung des Gewichts der deutschen Stellungnahme zu erwarten.
In der kommissarischen Beratung am 19. d. Mts. herrschte weitgehende Übereinstimmung in der Ablehnung des Memorandums Briands. Immerhin bestand Neigung, bei der zweiten Zusammenkunft der Europavertreter im September d. J. in Genf die Einsetzung eines Studienausschusses zuzulassen, der die Gesamtmaterie gutachtlich bearbeiten solle11. Mein Vertreter12 in der Besprechung führte dazu in meinem Namen aus, daß auch einem solchen Studienausschuß gegenüber besondere Vorsicht am Platze sei, da denkbar sei, daß Briand seinen Europaplan in Etappen verwirklichen wolle, wenn er die sofortige Erreichung des Gesamtzieles aufgeben müsse. Er würde deshalb sich zunächst damit begnügen, für einen dargebotenen wirtschaftlichen Aufgabenkreis die von ihm vorgeschlagene große Organisation einer europäischen Konferenz und eines ständigen Ausschusses aufgezogen zu sehen. Wäre dieser[235] Rahmen einmal geschaffen, so würde er die Ausfüllung mit politischem Inhalt bei passender Gelegenheit nachzuholen suchen und dann leichteres Spiel haben. Auf diese Weise könnten wir in den politischen Europaplan sozusagen hineinschlittern. Der Vorsitzende der kommissarischen Besprechung13 erkannte diesen Gedankengängen eine gewisse Berechtigung zu und hielt auch seinerseits im Falle der Einsetzung eines Studienausschusses die genaue Beschreibung und Umgrenzung seines Mandats zur Verhütung der Sukzessivgründung des Europabundes für besonders wichtig.
Gerade jetzt, wo nach der Räumung des besetzten Gebietes die Entmilitarisierung am Rhein, die ein Viertel der deutschen Gesamtbevölkerung des Schutzes der Reichswehr beraubt, dem deutschen Volk in ihrer vollen Tragweite bewußt werden wird, muß m. E. alles vermieden werden, was im deutschen Volk den Glauben aufkommen lassen könnte, daß das mindere Recht, mit dem Deutschland belastet ist, ein dauernder Bestandteil des europäischen Völkerrechts werden soll. Die Behandlung des Europaplans Briands bei uns wird auf diese psychologische Lage, die mit einer übergroßen materiellen Not des deutschen Volkes zusammentrifft, besondere Rücksicht nehmen müssen, wenn den radikalen Strömungen im Volk nicht neuer Nährstoff zugeführt werden soll14.
Dem Herrn Reichskanzler habe ich Abschrift dieses Schreibens übermittelt.
gez. Treviranus