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Nr. 138
Der Vertreter der Reichsregierung in München an die Reichskanzlei. 15. Oktober 1923
Im Anschluß an telephonische Berichterstattung1.
Inhalt: Zwischenfall von Lossow2.
Der Weisung des Herrn Reichskanzlers gemäß habe ich heute gleich nach meiner Ankunft mit Herrn von Knilling gesprochen und ihm die Auffassung der Reichsregierung, insbesondere auch des Herrn Reichswehrministers nachdrücklich vor Augen gehalten. Herr von Knilling bezeigte seine aufrichtige Dankbarkeit für die Absicht des Herrn Reichskanzlers, eine Verständigung über den Fall Lossow zu versuchen. Er wiederholte im wesentlichen die Gesichtspunkte, die er in seinem Schreiben an den Herrn Reichskanzler dargelegt hat3. Besonders beschwerte er sich über die „Wortbrüchigkeit“ des Reichswehrministers, der ihm am Vormittag durch Herrn von Preger ausdrücklich habe versichern lassen, er beabsichtige in Bayern keine materiellen Anordnungen zu treffen, am selben Tage aber Herrn von Lossow angewiesen habe, den „Völkischen Beobachter“ zu verbieten4. Es sei durchaus abwegig, die Angelegenheit vom rein militärischen und nicht vom politischen Standpunkt zu betrachten. Wenn das Reichswehrministerium sich vor Erlaß der Weisung an Herrn General von Lossow an Ort und Stelle informiert hätte, so würde es gewußt haben, daß zu jenem Zeitpunkt und auf diesem Wege eine Unterdrückung des „Völkischen Beobachters“ gerade das Gegenteil von dem herbeigeführt haben würde, was die bayerische Regierung durch Erklärung des Ausnahmezustandes und Ernennung Herrn von Kahrs bezweckt und erreicht habe, nämlich die Reihen Hitlers zu lichten und zum Wanken zu bringen. Herr von Lossow habe sich[585] nicht nur um Bayern, sondern auch um das Reich dadurch ein großes Verdienst erworben, daß er keinen Kadaver-Gehorsam gezeigt, sondern die verhängnisvollen Folgen übersehen habe, die unter den hiesigen Verhältnissen der Versuch einer solchen Befehlsvollziehung gehabt haben würde5. Eine militärische Insubordination habe General von Lossow, wie er aus seinen Unterredungen mit ihm wisse, gänzlich ferngelegen. Ebenso müsse es ein Mißverständnis sein, wenn man aus einer Meldung des Generals herausläse, daß er künftigen Befehlen nicht Folge leisten würde. Jedenfalls bitte er dringend, die Sache nicht auf die Spitze zu treiben, um dadurch einen Konflikt heraufzubeschwören, der auch ihn zwingen würde, aus seiner bisherigen Reserve herauszutreten. Er glaube, daß sich, sobald Herr Geßler seinen auf diesen Fall nicht passenden, rein militärischen Standpunkt aufgebe, eine Verständigung unschwer erreichen ließe.
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S. E. Deuerlein, Der Hitlerputsch, Dok. Nr. 37.
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In einem Telefongespräch am 16.10.23 berichtete hierzu Haniel nach einer Unterredung mit Staatsrat Schmelzle: „Schmelzle habe selbst von Preger einen Bericht nach dessen stenografischen Aufzeichnungen entgegengenommen, wonach Geßler erklärt habe, ‚er beabsichtige keinerlei materielle Anordnungen zu treffen‘. – Nach neuester Darlegung des Herrn von Preger hätte Geßler gesagt, ‚er beabsichtigte heute keine materiellen Anordnungen zu treffen‘. – Im übrigen sei diese Differenz ohne Bedeutung, da Geßler tatsächlich am gleichen Tage den ‚Völkischen Beobachter‘ verboten habe“ (R 43 I/2264, Bl. 193).
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S. in ähnlichem Sinn Spengler an Stresemann am 20.10.23 (Dok. Nr. 158).
Anderenfalls würde, ganz abgesehen von der sonstigen unabsehbaren Tragweite des Zwischenfalles, die Sachlage für das Reichswehrministerium sich nicht bessern, sondern nur verschlechtern. Denn es würde sich hier kein Offizier finden, der nunmehr etwa einen Befehl zur Unterdrückung des „Völkischen Beobachters“ gegen den Willen der hiesigen Regierung durchführe. Übrigens habe er bereits dem Reichswehrminister indirekt wissen lassen, daß bei einem Ausscheiden des Generals von Lossow er nur General von Epp als Nachfolger in Vorschlag bringen werde6.
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Zu von Epps Ausscheiden aus der Reichswehr und seiner politischen Haltung s. Anm. 10 zu Dok. Nr. 98. Nach dem Ausscheiden von Epps aus dem aktiven Dienst hat ihm namens der BVP deren Vorsitzender Franz Speck gedankt für die Verdienste um Bayern und besonders im Hinblick auf die Kämpfe um München im Jahr 1919. „Kaum ein Name ist in Bayern volkstümlicher als der Ihre und wir vertrauen darauf, daß Ihre Erfahrung und Ihre Arbeitskraft auch in Zukunft dem Vaterlande nicht verlorengehen“ (31.10.23; BA: NL von Epp 10/3). Ähnlich äußerte sich in einem Dankschreiben auch MinPräs. von Knilling, der weiter ausführte, die bayer. Regierung sei überzeugt, Epp auch nach seiner Pensionierung nicht zu verlieren: „Er wird, des sind wir überzeugt, auch fernerhin jederzeit auf seinem Posten stehen, wenn es sich darum handelt, unser Bayernland und echtes Deutschtum zu schützen und zu erhalten und Eppscher Geist wird in tausenden von jungen Leuten fortleben, die Sie zu tüchtigen Kämpfern herangezogen und durch Ihr leuchtendes Vorbild opferfreudiger Vaterlandsliebe mit idealster Gesinnung erfüllt haben“ (31.10.23; BA: NL von Epp 10/3). S. auch Anm. 2 zu Dok. Nr. 239.
Auf die Parallele mit Sachsen hingewiesen, meinte Herr von Knilling, dort lägen die Verhältnisse denn doch wohl ganz anders, und die bayerische Regierung könne nicht mit der staatsverneinenden kommunistischen Regierung von Sachsen und Thüringen verglichen werden7. Auch sei Bayern mit der Erklärung des Ausnahmezustandes vorangegangen, so daß die Erstreckung des Reichsausnahmezustandes auf Bayern unnötig, wenn nicht schädlich gewesen[586] sei. Nach der Ansicht ihrer höchsten juristischen Autorität [. . .8] bilde überdies der bayerische Ausnahmezustand Reichsrecht9.
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In einem Bericht über die innere Situation Bayerns, der von dem Gesandten z. D. Victor Naumann stammen dürfte, und am 14.10.23 in das Büro der Rkei gegeben wurde, hieß es: „Gegen das rote Sachsen und das rote Thüringen muß seitens der Reichsregierung energisch und zwar unverzüglich vorgegangen werden. Jedes längere Gehenlassen würde sich bitter rächen und die extremen rechts gerichteten Kreise völlig ans Ruder bringen. Um die Rückwirkungen der Zustände in Sachsen und Thüringen auf Bayern richtig zu verstehen, muß man sich stets vor Augen halten, daß Bayern und in Sonderheit München eine furchtbare Rätezeit durchgemacht haben, daß sie also die Dinge mit ganz anderen Augen ansehen“ (R 43 I/2218, Bl. 181/182).
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Hinweis auf einen Bericht des Präsidenten des Obersten Landesgerichts Dr. K. Meyer in der Bayer. Staatszeitung, Nr. 238 v. 13.10.23, unter der Überschrift „Das Ausnahmerecht der Länder“.
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Meyer ging davon aus, daß durch Art. 48, Abs. IV die Landesregierung als das von der Reichsregierung unmittelbar berufene Organ gesetzgeberisch tätig werde. Die Anordnungen könnten dann durch Reichsrecht nach Art. 48, Abs. II nicht eingeschränkt werden. Dementsprechend sei die VO des RPräs. vom 26.9.23 in Bayern gegenüber der bayer. VO rechtsungültig. „Die bayerische Verordnung vom 26. September ist auch für die Reichsbeamten verbindlich, insbesondere für die Angehörigen der Reichswehr. Gegenteilige Dienstbefehle oder Notverordnungen der Reichsregierung können hieran nichts ändern.“
Herr von Knilling schloß diesen Teil der Unterredung damit, daß er erklärte, man müsse abwarten, welchen Erfolg die Vermittlungsaktion des Herrn Reichskanzlers haben würde. Wie ich bereits anderweitig berichtet habe, ist inzwischen der „Völkische Beobachter“ heute wieder erschienen10. Die von ihm veröffentlichten Artikel sind, wie die Anlage zeigt, verhältnismäßig maßvoll gehalten und beschäftigen sich nur nebenbei mit der Reichsregierung11. Die „Münchener Neuesten Nachrichten“ veröffentlichen heute abend eine offenbar inspirierte, hier im Ausschnitt beigefügte Meldung, wonach bei den Münchener maßgebenden Stellen kein Zweifel herrsche, daß ein Wechsel in der Besetzung des Wehrkreiskommandos zurzeit nicht in Frage kommen könne12.
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Wie o. Anm. 1.
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Der „VB“ vom 15.10.23, Nr. 207, erschien mit der Schlagzeile: „Die Partei Eberts in Thüringen für den Bolschewismus“ (R 43 I/2264, Bl. 38).
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Diese Meldung lautete: „Über die Stellung des bayerischen Wehrkreiskommandeurs des Generals v. Lossow, wird in manchen nichtbayerischen Blättern so geschrieben, als könne seine Stellung Gegenstand von Verhandlungen mit ihren möglichen Folgeerscheinungen von Zugeständnissen, Nachgiebigkeiten oder Auftrumpfungen sein. Ob eine solche Auffassung in Berlin tatsächlich besteht, läßt sich hier in München schwer feststellen. Bei den Münchner maßgebenden Stellen aber herrscht kein Zweifel, daß ein Wechsel in der Besetzung des Wehrkreiskommandos zur Zeit nicht in Frage kommen kann“ (R 43 I/2264, Bl. 37).
Im weiteren Verlauf der Unterredung zeigte sich Herr von Knilling erstaunt darüber, daß Herr von Kahr nur die Hälfte des Nürnberger Goldes freigegeben haben solle. Nach seinen Nachrichten habe er die Angelegenheit für erledigt gehalten, und zwar im Sinne der Reichsregierung13. Das Vorgehen Herrn von Kahrs in dieser Frage fand offenbar nicht seine Billigung. Ich habe bei der Gelegenheit Herrn von Knilling nochmals dringend gebeten, seinen und seiner Regierung Einfluß voll einzusetzen, damit Herr von Kahr sich künftig jeder Ingerenz in die Reichskompetenzen enthalte. Herr von Knilling meinte, es sei nicht zu leugnen, daß Herr von Kahr in einzelnen Fällen in die Reichsbefugnisse eingegriffen habe. Er habe dies wohl damals zur Stärkung seiner Stellung hier für notwendig gehalten.
Haniel