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MfS-Lexikon

Entführung

Entführungen, also Verschleppungen im Sinne des Strafrechts, waren bis in die 70er Jahre elementare Bestandteile in der Strategie und Taktik der DDR-Geheimpolizei.

In dem 1969 von der Juristischen Hochschule des MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... erarbeiteten "Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit" wird das Delikt einer EntführungEntführungEntführungen, also Verschleppungen im Sinne des Strafrechts, waren bis in die 70er Jahre elementare... als "Erscheinungsform von Terrorverbrechen" definiert. "Sie ist das Verbringen von Menschen gegen ihren Willen unter Anwendung spezifischer Mittel und Methoden (Gewalt, Drohung, Täuschung, Narkotika, Rauschmittel u.a.) von ihrem ursprünglichen Aufenthaltsort in andere Orte, Staaten oder Gebiete." Unbeabsichtigt erfasst diese Definition exakt auch die Entführung, die das MfS "im OperationsgebietOperationsgebietMit Operationsgebiet bezeichnete das MfS zusammenfassend alle Länder, in denen bzw. gegen die es..." verübt hat.

Entführungen entsprachen den Traditionen und Praktiken der sowjetischen "Tschekisten". Nicht zufällig haben Instrukteure und Agenten der KGB-Dependance in Ostberlin bis Mitte der 50er Jahre auch bei Entführungen aus Westberlin und Westdeutschland mit dem MfS eng kooperiert. Entführungen wurden in der Verantwortung jedes der drei Minister für Staatssicherheit durchgeführt, die die DDR unter der Diktatur der SED hatte. Weder Wilhelm ZaisserZaisser, Wilhelm20.06.1893 - 03.03.1958 noch Erich MielkeMielke, Erich28.12.1907 - 21.05.2000 setzten sie allerdings so planmäßig und aggressiv ein wie Ernst WollweberWollweber, Ernst09.10.1898 - 03.05.1967 . Unter seiner Ägide fanden die meisten Entführungen statt – wenn auch unter Mielkes verantwortlicher Mitwirkung.

Die Zuständigkeit für Entführungsaktionen im Apparat der Staatssicherheit ist anhand interner Direktiven, Befehle und Maßnahmenpläne genau bestimmbar. Erstens waren sie stets Chefsache. Der Minister war jeweils in die Pläne zur Vorbereitung und Durchführung einer Verschleppung eingebunden. Die letzte Entscheidung lag bei ihm.

Unmittelbar mit Entführungen befasst waren im MfS zweitens die Leiter verschiedener Hauptabteilungen, in deren Diensteinheiten operative Vorgänge zu entsprechenden Zielpersonen bearbeitet wurden. Das konnte die für SpionageabwehrSpionageabwehrSpionageabwehr beinhaltete nicht nur defensives Abwehren westlicher Spionage, sondern auch... zuständige Hauptabteilung IIHauptabteilung IIDie HA II wurde 1953 durch Fusion der MfS-Abt. II (Spionage) und IV (Spionageabwehr) gebildet. Sie... sein oder die seinerzeitige Hauptabteilung VHauptabteilung V1953 entstanden aus den Abteilung V und Abteilung VI (Überwachung Staatsapparat); 1964 Umbenennung... (seit 1964 Hauptabteilung XXHauptabteilung XXDie HA XX bildete den Kernbereich der politischen Repression und Überwachung der Staatssicherheit....), der u.a. die Bekämpfung "politischer Untergrundarbeit" zugewiesen war.

Überläufer aus den bewaffneten Organen wurden von Diensteinheiten der Hauptabteilung IHauptabteilung IZuständig für die Überwachung des Ministeriums für Nationale Verteidigung sowie der nachgeordneten... – der sog. Militärabwehr – operativ bearbeitet. Sie alle verfügten zum Zweck grenzüberschreitender Aktionen über geeignete Inoffizielle Mitarbeiter (IMInoffizieller MitarbeiterInoffizielle Mitarbeiter waren das wichtigste Instrument des Ministeriums für Staatssicherheit...) und spezielle Einsatzgruppen. Flankierende Hilfsdienste hatten die Hauptabteilung VIIIHauptabteilung VIII1950 wurde die selbstständige Abteilung VIII (Abt. VIII) gebildet. Aufgabe der 1958 in HA VIII... zu leisten, die für Operative Ermittlungen und Festnahmen zuständig war, sowie die für SpionageWestarbeit/SpionageDas MfS hat als ein Instrument der DDR, insbesondere der SED-Führung, die politischen Interessen... und aktive Maßnahmen zuständige Hauptverwaltung AHauptverwaltung ASpionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1.... .

Die Gesamtzahl der vom MfS versuchten und vollendeten Entführungen ist nach empirischen Untersuchungen, die für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" durchgeführt wurden, auf maximal 700 zu veranschlagen. Die Historikerin Susanne Muhle beziffert sie für die Zeit zwischen 1950 und Mitte der 60er Jahre auf 400 bis 500. Exakte Angaben sind infolge der streng konspirativ abgeschirmten Vorgehensweise des MfS bei Entführungsaktionen nicht möglich. Sie sind im Grunde genommen auch irrelevant. Entscheidend ist, dass Entführung im Apparat des MfS institutionell verankert waren.

Ganz im Sinne der MfS-spezifischen Definition sind generell drei taktische, manchmal kombinierte Entführungsvarianten zu unterscheiden: Verschleppungen unter Anwendung physischer Gewalt; Verschleppungen unter Anwendung von Betäubungsmitteln sowie Entführungen vermittelst arglistiger Täuschung.

Die Zielgruppen MfS-getätigter Entführungen lassen sich wie folgt umreißen: hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter des MfS, die zu "Verrätern" geworden und "zum Klassenfeind übergelaufen" waren; Mitarbeiter westlicher Nachrichtendienste; Mitarbeiter der Ostbüros von SPD, CDU, LDP und DGB sowie der KgU und des UFJ in Westberlin; Überläufer aus der Volkspolizei und der Nationalen Volksarmee; abtrünnige Genossen aus den Reihen der SED; regimekritische Journalisten und westliche Fluchthelfer speziell nach dem 13. August 1961.

Während MfS-extern Entführungen strengster Geheimhaltung unterlagen, wurden sie in den 50er Jahren MfS-intern in Befehlen bekannt gegeben, soweit es sich um "zurückgeholte" Überläufer gehandelt hatte. Potenzielle Nachahmer sollten abgeschreckt werden. z.B. hieß es in dem Stasi-Befehl 134/55 vom 7. Mai 1955, mit dem intern die Hinrichtung zweier "Verräter" zur Kenntnis gebracht wurde: "Wer aus unseren Reihen Verrat an der Partei, an der Arbeiterklasse und an der Sache des Sozialismus übt, hat die strengste Strafe verdient. Die Macht der Arbeiterklasse ist so groß und reicht so weit, dass jeder Verräter zurückgeholt wird oder ihn in seinem vermeintlich sicheren Versteck die gerechte Strafe ereilt."

"Strengste Strafe" hieß unter Umständen Todesstrafe. In mindestens 20 Fällen ist sie gegen Entführungsopfer verhängt und vollstreckt worden. Zumeist wurden langjährige Freiheitsstrafen ausgesprochen. Nicht wenige Entführungsopfer sind in der Haft verstorben – in Einzelfällen durch Suizid.

Literatur

  • Fricke, Karl Wilhelm unter Mitarbeit von Ehlert, Gerhard: Entführungsaktionen der DDR-Staatssicherheit und die Folgen für die Betroffenen. In: Materialien der Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit", (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1999, S. 1169–1208.

Karl Wilhelm Fricke