Mit dem Vortrag "Die Macht der Kerzen. Erinnerungen an die Friedliche Revolution" eröffnete er die bis März 2020 in der Erinnerungsstätte zu besichtigende Bundesarchiv-Sonderausstellung "Wege zur deutschen Einheit. Vertragsgemeinschaft, Staatenbund oder Beitritt?". Am folgenden Morgen traf sich Werner Krätschell mit zwei Kursstufen des Ludwig-Wilhelm-Gymnasiums zu einem von Schülerinnen und Schülern moderierten Zeitzeugengespräch.
Der evangelische Pfarrer und Superintendent des Kirchenkreises Berlin-Pankow in Ost-Berlin berichtete von seiner Kindheit während des Zweiten Weltkrieges. Die Erlebnisse und Ängste während der Bombennächte hätten ihn tief geprägt, "Gewaltlosigkeit" sei auch wegen dieser Erfahrungen zu seinem Lebensthema geworden. Im Rückblick, so erzählte Krätschell weiter, habe er jedoch eine wundervolle Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus erlebt. Die Schulzeit verbrachte er "zwischen den Welten" – er lebte mit seiner Familie im Ostteil, der noch nicht von der Mauer geteilten Stadt, ging aber im Westteil aufs Gymnasium. Während eines Sommerurlaubs in Schweden erreichte Werner Krätschell und seinen Bruder Albert schließlich die Nachricht vom Bau der Berliner Mauer. In dramatischen Stunden entschieden die beiden Brüder über fortan getrennte Lebenswege: Albert blieb im Westen, Werner ging zurück in die DDR. In dem jungen Theologiestudenten war die Überzeugung gereift, dass er dort als evangelischer Pfarrer mehr gebraucht würde. Was nun trotz Mauer und Stasi-Überwachung folgte, so Werner Krätschell, seien die "28 glücklichsten Jahre" seines Lebens gewesen: Nicht nur, weil er eine Familie gründen konnte, sondern auch weil die evangelische Kirche sich zu einem Gegenentwurf zur herrschenden Diktatur der SED und der Gewalt der Stasi entwickelte. Die Pfarrhäuser wurden zu Orten der Freiheit, zu "Schutzrevieren", in denen basisdemokratische Elemente eingeübt werden konnten – auch wenn die Überwachungsmethoden und Schikanen der Staatssicherheit weder vor der Gemeinde noch den Mauern des Pfarrhauses Halt machten. Während seiner Zeit als Superintendent war Krätschells Pfarrkirche Treffpunkt des "Pankower Friedenskreises" – und deshalb unter ständiger Überwachung durch die Stasi. 1989/90 war er Moderator am Pankower Runden Tisch und bei dem Berliner Runden Tisch.
Gefragt nach der Entwicklung nach der Wiedervereinigung stellte Werner Krätschell fest, dass es "viel Licht, aber auch Schatten" gegeben habe, doch seien alle Illusionen über ein Fortbestehen einer "besseren" DDR spätestens nach der von den allermeisten Menschen in der DDR herbeigesehnten Währungsunion gegenstandslos geworden. Er bedauerte, dass die innere Einheit Deutschlands noch nicht erreicht sei – ein Prozess, bei dem Einrichtungen wie die Erinnerungsstätte eine wichtige Rolle spielen könnten. Jugendlichen und Erwachsenen, die mehr über die DDR erfahren wollten, riet er, auf Zeitzeugen zuzugehen. Sie könnten ein viel facettenreicheres Bild der Realität bieten, als die in "Ost" und "West" immer noch wirkmächtigen Klischees und Vorurteile.
Als Erinnerung an seinen Besuch überreichte Herr Dr.h.c. Krätschell Herrn Dr. Bartuschka für die Leiterin der Erinnerungsstätte, Frau Dr. Thalhofer, und Frau Huber vom Ludwig-Wilhelm-Gymnasium ein Bruchstück der Berliner Mauer, herausgeschlagen aus einem der letzten noch existierenden Teilstücke des Bollwerks, kaum 100 Meter vom Grab Theodor Fontanes entfernt.