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[Handschriftliche Ergänzung: Div. Kmor Tub. 177]  Artillerie-Regiment 156 Ia  Rgt. St. Qu., 19.11.1941  [Stempel: Rdo. 56. Inf. Div. Eing. 19. November 1941 Br. B. Nr. [Auslassung] Anl. [Auslassung] Bearb. Nr. [Handschriftliche Ergänzung: Ia [Kürzel: L.]]]  Der 56. Infanterie-Division  Anliegend wird der Bericht des Kommandeurs der I./A. R. 156 über die für den 25.10.1941 angeordneten Vergeltungsmaßnahmen im Orte P. Chozum südostw. Briansk, vorgelegt. [Kürzel: [unleserlich]]  [Unterschrift: Strecker]  2 Anlagen

Anschreiben vom 19. November 1941 zum überarbeiteten (zweiten) Bericht des Kommandeurs der I. Abteilung des Regiments, Quelle: BArch, RH 26-56/21b

Der Kindermord von Chozum – Deutsche Soldaten im Abgrund

In den Anlagen des Kriegstagebuchs der 56. Infanterie-Division überliefern eine Handvoll Dokumente ein schweres Verbrechen – geradezu „nebenbei“ begangen und als bedauerliche Notwendigkeit dargestellt.

  • Anschreiben des Ia, des mit Führung und Ausbildung betrauten 1. Generalstabsoffiziers des Artillerie-Regiments 156, vom 10. November 1941 zu einem Bericht des Kommandeurs der I. Abteilung des Regiments an die vorgesetzte 56. Infanterie-Division, unterschrieben vom Regiments-Kommandeur Oberst Wilhelm Strecker.

  • Die Rückseite des Anschreibens vom 10. November mit der Fortsetzung des Vermerks von Generalmajor v. Oven.

  • Dem Anschreiben vom 10. November folgt das spätere Anschreiben vom 19. November 1941 zum überarbeiteten (zweiten) Bericht des Kommandeurs der I. Abteilung des Regiments, unterschrieben wieder vom Regiments-Kommandeur Oberst Wilhelm Strecker.

  • Bericht der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156 vom 15. November 1941, unterzeichnet von Hauptmann Theodor Friedmann, dem Kommandeur der I. Abteilung.

  • Zweite Seite des Berichts der I. Abteilung des Artillerie-Regiments 156 vom 15. November 1941, unterzeichnet von Hauptmann Theodor Friedmann, dem Kommandeur der I. Abteilung.

  • General d. Inf. Karl von Oven – Foto aus einem Dossier des Heerespersonalamtes

  • Beurteilung v. Ovens vom 05.02.1943 durch den Kommandierenden General des XXXV. Armeekorps mit der Formulierung: „[…] […] wird, wo es die Lage erfordert, auch hart sein können; […] […] Durchdrungen von der nationalsozialistischen Weltanschauung, die er auch vertritt“.

  • Generalmajor Wilhelm Strecker – Foto aus der Personalakte

  • Hauptmann Theodor Friedmann – Foto aus der Personalakte

  • Fernschreiben des IIa

  • Hauptmann Paul Eilemann - Karteikarte der Kriegsreserveoffizierskartei

Am 22. Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Dieser „Vernichtungskrieg“ gegen das „jüdisch-bolschewistische Untermenschentum“, wie ihn Hitler selbst nannte, wurde seitens der Wehrmacht vom ersten Tag an mit großer Härte und Unbarmherzigkeit geführt. Rechtsgrundlage für die über weite Strecken Tradition und Kriegsrecht zuwiderlaufende Kriegführung der Wehrmacht waren u.a. die im Vorfeld erlassenen „verbrecherischen Befehle“, zuvorderst der „Kriegsgerichtsbarkeitserlass“, der „Kommissarbefehl“ und die „Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland“. Durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, aber auch durch Brigaden der Waffen-SS wurden bereits im Laufe des Jahres 1941 im Rücken der Front Juden, politische Funktionsträger und Partisanen (die oft nur versprengte Soldaten waren) zu Hunderttausenden erschossen, erhängt oder auf andere Art ums Leben gebracht.

Pauschale Aussagen über ein Sozialgebilde wie die Wehrmacht, der im Laufe ihres Bestehens über 17 Mio. Menschen angehörten, sind in der Regel schwierig, mitunter auch Unfug. Dass die Wehrmacht als Organisation wesentlicher Teil eines verbrecherischen Unrechtsregimes war und dass ihr Vordringen auf fremdes Gebiet und schließlich ihr Ausharren an den Fronten den Raum für zuvor undenkbare Verbrechen schufen, kann jedoch nicht geleugnet werden, es ist ernsthaft nicht einmal diskutabel. Dass von der Führung der Wehrmacht wie auch ihrer Teile Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine verbrecherische Befehle erlassen und ihre Befolgung durchgesetzt wurde, ist hinlänglich nachgewiesen; die entsprechenden Quellen im Bundesarchiv sind für jeden offen zugänglich. Dass einzelne Dienststellen und Einheiten und die in ihnen tätigen Soldaten darüber hinaus Verbrechen begingen, ist ebenfalls bekannt und vielfach erwiesen – und kann dennoch nicht dazu führen, alle Angehörigen der Wehrmacht mit denjenigen ihrer Kameraden gleichzusetzen, die zu Verbrechern in Uniform wurden. Die deutsche Herrschaft, ausgeübt u.a. durch die Wehrmacht, forderte über die Jahre unter den unter völlig unzureichenden Bedingungen internierten sowjetischen Kriegsgefangenen, im Rahmen des Partisanenkrieges (der häufig nur der Verschleierung von rassistisch motivierten Vernichtungsaktionen diente) oder im Zuge der rücksichtslosen ökonomischen Ausplünderung der besetzten Gebiete der Sowjetunion millionenfache Opfer. Dennoch bleiben die reinen Zahlen und Befunde abstrakt und für das konkrete Erfahren nur schwer greifbar. Das ändert sich, wenn die Verbrechen in der Schilderung eines amtlichen Berichtes in aller Deutlichkeit vor einen treten.

Ein Beispiel ist der Kindermord von Chozum (so die damalige deutsche Schreibweise; heute „Khatsun“, ca. 20 km südöstlich von Brjansk) im November 1941. In den Anlagen des Kriegstagebuchs der 56. Infanterie-Division (Signatur BArch RH 26-56/21b) überliefern eine Handvoll Dokumente ein schweres Verbrechen – geradezu „nebenbei“ begangen und als bedauerliche Notwendigkeit dargestellt. Es handelt sich um eine Episode im jahrelangen, ebenso brutalen wie letztlich erfolglosen Bestreben der Wehrmacht, sich im Raum Brjansk durchzusetzen.

Im November 1941 befand sich das deutsche Ostheer und mit ihm die 56. Infanterie-Division im Vormarsch durch Russland. Die Rote Armee wehrte sich hart und verbissen – und selbst unter massivem militärischen und politischen Druck stehend – stellenweise mit allen Mitteln. Den deutschen Soldaten fehlte in aller Regel jedes Verständnis dafür, dass für den in seinem eigenen Land Überfallenen in der Verteidigung gegen den Angreifer andere moralische Maßstäbe gelten als für den unmotiviert Eindringenden, den der Verteidiger nur als Räuber und Mörder ansehen konnte. Zivilisten, die sich an der Verteidigung ihrer Heimat beteiligten, wurden von deutschen Soldaten als „Banditen“ verfolgt und getötet – auch solche, von denen dies nur vermutet wurde. Die deutschen Soldaten fühlten sich im Recht, bestärkt und ermuntert durch die eigene Propaganda. Hinzu kamen die oben bereits benannten, im Vorfeld des Ostfeldzuges und in der Folgezeit erlassenen Befehle, die bewusst einen rechtsfreien Raum schufen und die deutschen Soldaten von traditionellen Verhaltensregeln entbanden. Ein weiteres Element dürfte ein auch unter Wehrmachtsangehörigen weit verbreitetes kulturelles und zivilisatorisches Überlegenheitsgefühl gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung gewesen sein, von dem aus der Weg zur rücksichtslosen Unterdrückung jeglichen Widerstands des „Untermenschentums“ nicht weit war. Die Radikalisierung des Verhaltens der deutschen Soldaten erfolgte jedoch weder plötzlich bis ins Extrem noch allumfassend. Es war offensichtlich ein Prozess, der sich an unterschiedlichen Stellen, bei unterschiedlichen Einheiten und Soldaten, unterschiedlich schnell und intensiv auswirkte.

Zur 56. Infanterie-Division gehörte das Artillerie-Regiment 156. Am 24. Oktober 1941 hatte die I. Abteilung dieses Regiments den Auftrag, den eigenen Unterkunftsbereich nach gegnerischen Soldaten und/oder Partisanen abzusuchen. Dabei wurde ein Spähtrupp der Abteilung in einem Dorf in ein Gefecht mit sowjetischen Soldaten und einigen Zivilisten verwickelt. Von den fünf Soldaten des Spähtrupps kamen nur zwei wieder zurück. Am nächsten Tag sandte die Abteilung 120 Mann in drei Trupps aus, um das Schicksal der drei vermissten Soldaten zu klären, das Dorf zu durchsuchen und „sämtliche Personen“ zu erschießen. Der Auftrag wurde erfüllt. Die drei Soldaten wurden tot aufgefunden – in der Darstellung des entsprechenden Berichts „ermordet“ und eben nicht „gefallen“. Die aus Sicht der deutschen Soldaten verantwortlichen Dorfbewohner wurden festgenommen. Die Erwachsenen wurden ohne Prüfung im Einzelfall insgesamt erschossen – 128 Personen. Ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen. Da man die Kinder der Erschossenen „sich nicht selbst überlassen“ wollte, wie das im entsprechenden Bericht genannt wurde, wurden kurz darauf auch diese erschossen: 60 Kinder, die meisten zwischen zwei und zehn Jahren alt.

In dem hier vorgestellten Fall handelt sich um ein zufällig ausführlich überliefertes Beispiel, nur eines von mehreren Tausend von deutschen Soldaten oder Polizisten in ähnlicher Art und Weise vernichteten Dörfern. Es wirft ein Schlaglicht auf die alltägliche Dimension des deutschen Vernichtungskrieges im Osten.

Bemerkenswert an diesem konkreten Fall der Auslöschung eines ganzen Dorfes durch das Artillerie-Regiment 156 und die ausnahmslose Erschießung von Männern, Frauen und Kindern als „Sühnemaßnahme“ in einer ungleichen Auseinandersetzung ist weniger die Kälte der Täter als vielmehr der frühe Zeitpunkt im Herbst 1941. Nach den bisherigen Erkenntnissen war die Wehrmacht erst im Rahmen der Verschärfung des Partisanenkriegs im Laufe des Jahres 1942 zu dieser Praxis übergegangen. Die unterschiedslose Ermordung von Männern, Frauen und Kindern war jedoch bei den „Judenaktionen“ der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD sowie der Brigaden der Waffen-SS bereits ab Spätsommer 1941 üblich. Ob die Angehörigen des Artillerie-Regiments 156 lediglich diesem Beispiel folgten oder diese Radikalisierung aus eigenem Antrieb vollzogen, bleibt unklar. So oder so steht das Artillerie-Regiment 156 mit dem Verbrechen von Chozum am Anfang eines Prozesses der partiellen Verhaltensangleichung des Heeres an Waffen-SS und Einsatzgruppen.

Seit 2011 erinnert in Khatsun eine Gedenkstätte („Memorial Komplex“) an dieses Massaker und auch an viele andere vergleichbare Verbrechen, die in dieser Region von Deutschen begangen wurden.

Thomas Menzel

Mit bestem Dank für Rat, Kritik und Mitwirken an Peter Gohle.
 

Literaturauswahl

  • Cüppers, Martin: Wegbereiter der Shoah. Die Waffen-SS, der Kommandostab Reichsführer-SS und die Judenvernichtung 1939–1945. Darmstadt 2005
  • Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944. Hamburg 1999
  • Hartmann, Christian, Hürter, Johannes, Lieb, Peter und Pohl, Dieter (Hrsg.): Der deutsche Krieg im Osten 1941–1944. Facetten einer Grenzüberschreitung. München 2009
  • Hartmann, Christian: Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941/42. München 2009
  • Klein, Peter (Hrsg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. Berlin 1997
  • Müller, Rolf-Dieter und Volkmann, Erich (Hrsg.): Die Wehrmacht. Mythos und Realität. München 1999
  • Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944. München 2008
  • Pohl, Karl Heinrich (Hrsg.): Wehrmacht und Vernichtungspolitik. Militär im nationalsozialistischen System. Göttingen 1999
  • Römer, Felix: Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42. Paderborn 2008
  • Schulte, Jan Erik, Lieb, Peter und Wegner, Bernd (Hrsg.): Die Waffen-SS. Neue Forschungen. Paderborn 2014
  • Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945. Bonn 1997
  • Wegner, Bernd: Hitlers politische Soldaten: die Waffen-SS 1933-1945. Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite. Paderborn 1982