
Aktendeckel des Verfahrens 1 BvR 205/58, Quelle: BArch, B 237/90029
Ein Meilenstein der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – Das Urteil zum väterlichen „Stichentscheid“ von 1959
Das Urteil zum „Stichentscheid“ wirkt bis heute in zahlreichen Entscheidungen zum Familienrecht nach.
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Im Urteil zum väterlichen „Stichentscheid“ stellte das Bundesverfassungsgericht 1959 die gänzliche elterliche Gleichordnung von Vater und Mutter fest. Dieser Meilenstein der Rechtsprechung ist im Bundesarchiv in Koblenz vollständig einsehbar.
Der Hintergrund
Art. 3 GG postuliert bekanntlich die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Die gelebte Realität war sehr lange sehr weit davon entfernt. Dies gilt selbst für die formal juristische Gleichstellung, insbesondere auf dem Gebiet des Familienrechts. Dies stammte noch aus der Geisteshaltung des 19. Jahrhundert und war seither nur in wenigen Bereichen neugeregelt worden. Dabei hatte das Grundgesetz von 1949 einen enormen Reformdruck erzeugt, sollte doch das gesamte diesem Prinzip entgegenstehende Recht (z. B. das gesetzliche Ehegüterrecht der ehemännlichen Verwaltung und Nutznießung oder die Vorschrift des § 1697 BGB a. F., wonach die verwitwete Mutter bei Wiederverheiratung die elterliche Gewalt verlor) laut Art. 117 I GG spätestens am 1. April 1953 außer Kraft treten.
Zum 1. April 1953 traten die Bestimmungen außer Kraft. Über Jahre galt „Gleichberechtigung durch Richterrecht “, weil das BMJ nicht rechtzeitig einen tragfähigen Entwurf vorgelegt hatte. Das heißt die Gerichte mussten nun entscheiden, was galt bzw. was anstelle einer außer Kraft getretenen Norm nunmehr Rechtens war.
Streitpunkte waren die Erwerbstätigkeit der Ehefrau (der Ehemann durfte bislang darüber entscheiden und konnte das Arbeitsverhältnis gegenüber dem Arbeitgeber jederzeit kündigen), der Güterausgleich bei Trennung und der „Letztentscheid“ des Ehemannes. Der in § 1354 normierte „Letztentscheid“ hatte es dem Mann erlaubt, seinen Willen in strittigen Familienfragen durchzusetzen.
Mit dem „Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts“ (Gleichberechtigungsgesetz) vom 18. Juni 1957 (in Kraft ab 1. Juli 1958), hatte der Bundestag das Familienrecht grundlegend reformiert. Er folgte damit seinem Auftrag aus Art. 117 Abs. 1 GG, auch das Familienrecht an das Gleichberechtigungsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG anzupassen.
Das Gleichberechtigungsgesetz hatte die Hausfrauenehe im Fokus und zielte auf die Erhaltung des „Familienfriedens“.
Nach § 1356 BGB durfte die Frau nicht nur den Haushalt in eigener Verantwortung führen. Die Ehefrau war auch berechtigt, erwerbstätig zu sein. Aber nur soweit dies mit ihren ehelichen und familiären Pflichten vereinbar war. konnten nun u. a. arbeiten gehen, ohne dass der Mann das Arbeitsverhältnis aufheben konnte, sofern sie Haushalt und Familie nicht vernachlässigten.
Zwar war der § 1354 BGB und damit der „Letztentscheid“ des Ehemannes gestrichen worden. Doch sollte der Vater bei der Erziehung (Letztentscheidungsrecht und Alleinvertretungsanspruch für die gemeinsamen Kinder) das letzte Wort haben. Dabei wurden u. a. die Bestimmungen im BGB zur elterlichen Gewalt und zur Vertretung des Kindes neu gefasst:
§ 1628 BGB: „(1) Können sich die Eltern nicht einigen, so entscheidet der Vater; er hat auf die Auffassung der Mutter Rücksicht zu nehmen. (…).“
§ 1629 Abs. 1 BGB: „Die Vertretung des Kindes steht dem Vater zu; die Mutter vertritt das Kind, soweit sie die elterliche Gewalt allein ausübt oder ihr die Entscheidung nach § 1628 Abs. 2, 3 übertragen ist.“
Die Verfassungsbeschwerden
Gegen diese Neuregelungen legten im März bzw. Juni 1958 vier Ehefrauen und Mütter minderjähriger Kinder jeweils Rechtssatzverfassungsbeschwerde ein (1 BvR 205/58, 1 BvR 332/58, 1 BvR 333/58, 1 BvR 367/58). Sie sahen darin einen Verstoß gegen ihre in Art. 3 Abs. 2 und Art. 6 Abs. 2 GG garantierten Rechte als Mütter.
Darüber hinaus stellten die Amtsgerichte Köln und Bensberg im Juli bzw. November 1958 Anträge auf konkrete Normenkontrolle bezüglich § 1629 Abs. 1 BGB (1 BvL 27/58, 1 BvL 100/58). Beide Gerichte betrachteten die Neuregelung als unvereinbar mit Art. 3 Abs. 2 GG, das Amtsgericht Köln auch mit Art. 6 Abs. 2 GG. Sie sahen sich dadurch an ihren beabsichtigen Entscheidungen gehindert.
Alle diese Verfahren wurden durch das Bundesverfassungsgericht zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Zu Berichterstattern wurden Bundesverfassungsrichter und -richterin Joachim Lehmann und Dr. Erna Scheffler ernannt.
Das Urteil
Nach öffentlicher Sitzung und eingehenden Debatten stellte der Erste Senat am 29. Juli 1959 schließlich fest, dass der „Stichentscheid“ gegen das Gleichberechtigungsgebot aus Art. 3 Abs. 2 GG verstößt und erklärte die §§ 1628 und 1629 Abs. 1 BGB in der Fassung des Gleichberechtigungsgesetzes für unvereinbar mit dem Grundgesetz und damit für nichtig (BGBl. I 1959, 633).
In seinem Leitsatz führt das Gericht aus, dass die „zwischen den Eltern bestehende sittliche Lebensgemeinschaft und ihre gemeinsame, unteilbare Verantwortung gegenüber dem Kinde zusammen mit dem umfassenden Gleichberechtigungsgebot der Verfassung im Bereich der elterlichen Gewalt zu voller Gleichordnung von Vater und Mutter“ führen.
Folgen und Nachwirkungen
Das Urteil ist nicht zuletzt ein Verdienst von Erna Scheffler, die Zeit ihres Lebens eine Vorkämpferin für die Gleichberechtigung von Mann und Frau war. Sie wird das Urteil später die „Krönung ihres Werkes“ nennen.
Scharfe Kritik kam hingegen etwa von Seiten des katholisch-konservativen Rheinischen Merkur. In einem Leitartikel vom 7. August 1959 schrieb er, die Richter seien dem „‚Trend‘ dieser Zeit“ gefolgt, „die vaterlose Gesellschaft als Leitidol zu etablieren“. In der Tat sorgte das Urteil bei den Verfechtern patriarchalischer Strukturen für starke Empörung.
Nichtsdestotrotz war die weitere Entwicklung nicht aufzuhalten. So wurde etwa mit dem „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge“ vom 24. Juli 1979 der Begriff der „elterlichen Gewalt“ im BGB ab 1980 durch den Begriff „elterliche Sorge“ ersetzt. Das Elternrecht wurde nun als dienendes Recht am Kind, nicht mehr als Herrschaftsrecht angesehen. Zugleich wirkt das Urteil bis heute in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Familienrecht nach.
Was ist im Bundesarchiv in Koblenz einsehbar?
Insgesamt 16 Akten, bestehend aus den Verfahrensakten, den Handakten bzw. Anlagen zu den Handakten der Bundesverfassungsrichter Dr. Müller (Präsident), Dr. Scholtissek, Lehmann und Ritterspach sowie Beiheften und Beiakten können im Bundesarchiv eingesehen werden. Darin enthalten sind u. a. das Sitzungsprotokoll der öffentlichen Sitzung des Ersten Senats vom Juni 1959, das gemeinsame Votum von Scheffler und Lehmann, die Urteilsentwürfe sowie Stellungnahmen und Vermerke.