Eines der bedeutsamsten Urteile der frühen Bundesrepublik ist nun im Bundesarchiv Koblenz einsehbar. Im sogenannten „Apotheken-Urteil“ legte das Bundesverfassungsgericht erstmals das Grundrecht der Berufsfreiheit grundlegend aus.

Apotheker bei der Dosierung von Medikamenten, Quelle: BArch, Bild 183-23912-0010 / Krueger
Grundsatzentscheidung zur Berufsfreiheit – „Apotheken-Urteil“ von 1958 einsehbar
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Art. 12 Abs. 1 GG
„Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“
Der Fall
Der 41-jährige Apothekenangestellte Karl-Heinz Röber entschloss sich im Juli 1956, eine eigene Apotheke im oberbayerischen Traunreuth zu eröffnen. Allerdings verweigerte ihm die Bezirksregierung von Oberbayern mit Verweis auf das bayerische Apothekengesetz (ApoG) die Erteilung einer Apothekenbetriebserlaubnis. Der Neugründung einer Apotheke könne nur zugestimmt werden, wenn ein Bedarf vorhanden sei (Art. 3 Abs. 1a ApoG). Außerdem dürften sich bereits vorhandene Apotheken durch die Neugründung nicht „einem rücksichtslosen Konkurrenzkampf“ stellen müssen und dadurch in ihrer Existenz gefährdet werden (Art. 3 Abs. 1b ApoG). Für die Versorgung von 6000 Einwohnern reiche eine Apotheke in Traunreut „völlig aus“.

Die Verfassungsbeschwerde

Röber sah sich in seinem Grundrecht der freien Berufswahl verletzt und legte Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. „Wegen allgemeiner Bedeutung der Sache“ zeigte sich der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts bereit, „vor Erschöpfung des Rechtswegs zu entscheiden“. Allerdings sei hierfür zuvor die verwaltungsgerichtliche Klage Röbers notwendig. Röber reichte daraufhin Mitte Mai 1957 eine Anfechtungsklage beim Bayerischen Verwaltungsgericht in München ein. Der folgende Bescheid der Regierung von Oberbayern wies den Einspruch Röbers zurück.
Die Entscheidungsfindung
Die Beratungen im Senat gestalteten sich schwierig. Der Berichterstatter Herbert Scholtissek votierte im Oktober 1957 für eine Zurückweisung der Verfassungsbeschwerde. Aus seiner Sicht konnte „keine Rede davon sein, daß die beanstandete Regelung den Wesensgehalt der Berufsfreiheit verletzt“, da der Gesetzgeber den bestehenden Apotheken lediglich „im Interesse der Gesamtheit […] einen gewissen Existenzschutz“ gewähren wolle.
Im Anschluss an die mündliche Verhandlung Ende Januar 1958 und weiteren Beratungen innerhalb des Senats schlug Scholtissek im März 1958 zwei alternative Entscheidungen vor: Entweder sollte der Senat die Verfassungsbeschwerde zurückweisen oder aber die angefochtenen Verwaltungsakte für aufgehoben erklären sowie die Nichtigkeit des Art. 3 Abs. 1a ApoG (Bedürfnisprüfung für die Errichtung einer neuen Apotheke) aussprechen.


Das Urteil

Im Fall Karl-Heinz Röber stellte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 11. Juni 1958 mit Hinweis auf die Niederlassungsfreiheit für Apotheken ausdrücklich das Fehlen objektiver Zulassungsbeschränkungen fest. Die angefochtenen Verwaltungsakte wurden aufgehoben, Art. 3 Abs. 1 ApoG in Gänze für nichtig erklärt.
In seiner Urteilsbegründung legte das Gericht die Berufsfreiheit als „einheitliches Grundrecht“ aus. Entgegen dem Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG existiere zudem ein einheitlicher Regelungsvorbehalt, sowohl für die Freiheit der Berufsausübung als auch die Freiheit der Berufswahl. Die Eingriffsbefugnis des Gesetzgebers bestehe hierbei allerdings in unterschiedlicher Intensität.
Die Dreistufentheorie
Um die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Eingriffs zu regeln, entwickelte der Senat die so genannte „Dreistufentheorie“:
- Berufsausübungsregelungen (Art und Weise)
- Subjektive Berufswahl-/Berufszulassungsregelungen (Qualifikation/Eignung des Bewerbers)
- Objektive Berufswahl-/Berufszulassungsregelungen (Unabhängig von Eignung des Bewerbers; Abwendung schwerer und nachweisbarer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut)
Mit den drei Stufen beschrieb das Gericht den jeweiligen Rahmen, den der Gesetzgeber beim Erlass einer das Grundrecht einschränkenden Regelung zu beachten habe. Es sei stets jene Stufe zu wählen, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt.

„Abweichendes Votum“

Ein 48-seitiges „Abweichendes Votum“ vom 18. August 1958 lässt auf eine gewisse Uneinigkeit innerhalb des Senats schließen. Der/Die Richter erklärte(n) hierin Art. 3 Abs. 1b ApoG, nämlich den „Existenzschutz der Apotheken im Interesse der geordneten Arzneiversorgung“, für mit dem Grundgesetz vereinbar. Zugleich wandte(n) er/sie sich unter anderem gegen das Bild von mehreren „Stufen“, „da es der Lebenswirklichkeit kaum entspreche und die einzelnen ‚Stufen‘ nicht so klar voneinander abzugrenzen seien“.
Bedeutung und Folgen des Urteils
Das „Apotheken-Urteil“ von 1958 gilt bis heute als die grundlegende Entscheidung zum Grundrecht der Berufsfreiheit. Die drei Stufen sollten dem Bundesverfassungsgericht fortan als Maßstab dienen, um Beschränkungen der Berufswahl und -ausübung auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Seit 1958 ist die Niederlassungsfreiheit jedem Apotheker garantiert. Bei Erfüllung bestimmter subjektiver Voraussetzungen darf somit jeder Apotheker seine Apotheke am Standort seiner Wahl unabhängig vom Bedarf eröffnen.

Im Bundesarchiv Koblenz

Das nun vollständig in Koblenz einsehbare „Apotheken-Urteil“ besteht aus 21 Akten. Neben den vier Bänden Verfahrensakten ermöglichen eine Vielzahl von Voten, Vermerken und Reiseberichten des Berichterstatters Herbert Scholtissek, Abschriften der Tonbandprotokolle der mündlichen Verhandlung vom Januar 1958 sowie die Handakten der Bundesverfassungsrichter Karl Heck und Erna Scheffler einen tiefen Einblick in die Entscheidungsfindung dieses herausragenden Grundsatzurteils.