Gedenkbuch
Für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945
Jüdisches Bekleidungsgeschäft mit zerbrochenen Glasscheiben in Magdeburg, November 1938, Quelle: BArch, Bild 146-1970-083-44 / Friedrich, H.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es im Deutschen Reich zu Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden, die das nationalsozialistische Regime organisierte. Die Pogrome wurden zynisch – und verfälschend – „Reichskristallnacht“ genannt.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es im Deutschen Reich zu Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden, die das nationalsozialistische Regime organisierte. Die Pogrome wurden zynisch – und verfälschend – „Reichskristallnacht“ genannt.
Dabei ging nicht, wie der Begriff suggeriert, nur das Glas der Fensterscheiben der von Jüdinnen und Juden geführten Ladengeschäfte und von ihnen bewohnten Häuser und Wohnungen zu Bruch. Vielmehr sahen zehntausende Menschen ihre Existenz vernichtet.
Den Vorwand für die Pogrome in vielen Städten des Deutschen Reiches inklusive Österreichs und des Sudetenlands lieferte das Attentat von Herszel Grynszpan auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath am 7. November 1938 in Paris. Grynszpan wollte damit gegen die Abschiebung seiner Familie und tausender anderer polnischer Jüdinnen und Juden aus Deutschland nach Polen – die so genannte „Polenaktion“ – protestieren.
Es sollte so aussehen, als entlade sich als Antwort auf Grynszpans Tat spontan der „Volkszorn“ gegen die jüdischen Mitbürgerinnen und -bürger. Tatsächlich war diese von den Tätern so genannte „Judenaktion“ von oben angeordnet. Als vom Rath am 9. November seinen Verletzungen erlag, waren die wichtigsten Funktionäre der NSDAP in München zusammengekommen, um den Jahrestag des Hitler-Putsches vom 8. auf den 9. November 1923 zu begehen.
Mit Adolf Hitlers Zustimmung nutzte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Gunst der Stunde: Im gesamten Reich wurden die Mitglieder der NSDAP, SA, SS und der Hitler-Jugend zu den Ausschreitungen angestachelt. Die Feuerwehren instruierte man dahingehend, die Synagogen abbrennen zu lassen und nur die anliegenden Gebäude zu schützen. Gestapo, Sicherheits- und Ordnungspolizei wurden angewiesen, den Vandalismus zu ignorieren. Anstatt die jüdische Bevölkerung zu schützen, sollten sie „gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters“ festnehmen und Archivmaterial der jüdischen Gemeinden für die Zwecke des Sicherheitsdienstes beschlagnahmen.
Die Ausschreitungen begrenzten sich nicht auf eine Nacht. Vielmehr war es bereits am 7. November zu ersten Exzessen gekommen. Diese hielten nach der Eskalation am 8. und 9. November noch mindestens bis zum 13. November an. Wiederum war es die NS-Führung, welche die Pogrome beendete, damit kein „deutscher Besitz“ zu Schaden käme.
Die Gewalt entlud sich gegen die gesamte jüdische Infrastruktur: Neben Synagogen, Geschäften, Häusern und Wohnungen wurden auch jüdische Gemeindehäuser, Friedhöfe, Schulen, Waisen- und Altersheime geplündert und zerstört.
Vor allem wurden die Menschen auf das Brutalste physisch angegriffen und gequält. Mehrere hundert Jüdinnen und Juden nahmen sich aus Verzweiflung das Leben. Bis zu zweitausend Personen sollen ermordet worden sein – in ihren Geschäften, ihren Heimen, auf den Straßen, in Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Über 30.000 jüdische Männer wurden auf Hitlers Befehl hin in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verschleppt, misshandelt und nicht wenige ermordet. Die Überlebenden wurden nach mehreren Wochen bzw. Monaten entlassen – unter dem Zwang, ihren Besitz an den Staat abzugeben und umgehend aus Deutschland zu emigrieren.
Schließlich sollten – per Verordnungen vom 12. November 1938 – die geschädigten Jüdinnen und Juden auch noch für die Instandsetzung ihrer Geschäfte und Heime selbst aufkommen. Zusätzlich mussten sie dem Staat eine Milliarde Reichsmark als „Sühneleistung“ – auch „Judenbuße“ genannt – für Grynszpans Attentat bezahlen.
Zahllose weitere drastische Verordnungen wurden erlassen, die jüdische Erwerbstätigkeit praktisch unmöglich machten, die „Arisierung“ jüdischen Besitzes weiter vorantrieben und die Menschen radikal von der Teilnahme am öffentlichen Leben ausschlossen.
Die Tage im November 1938 markierten einen Wendepunkt: Antisemitische Diskriminierung und Verfolgung gingen über in massenhafte gewaltsame Übergriffe und Existenzbedrohung. Diese hatten das Ziel, Jüdinnen und Juden aus dem Deutschen Reich zu vertreiben.
Die Ereignisse waren Vorboten für die nachfolgenden Eskalationsstufen bis hin zur massenhaften Deportation und Ermordung von Jüdinnen und Juden aus vielen Ländern Europas.
Das Bundesarchiv digitalisiert kontinuierlich Archivgut aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgewählte Beispiele von Quellen, welche die Novemberpogrome dokumentieren, sehen Sie in unserer virtuellen Ausstellung. Lesen Sie auch das Auswahlinventar zum Thema.
Zudem ist im Bundesarchiv die zentrale Überlieferung zum gesamten Themenkomplex „Verfolgung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus“ zugänglich. Lesen Sie hierzu unsere Recherchehinweise.
Beachten Sie bitte auch den Online-Kurs „Aktenkunde des Holocausts“ des Projektes „European Holocaust Research Infrastructure“ (EHRI) und das online verfügbare „Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933–1945“.
Sabine Dumschat
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