Auschwitz und Staatssicherheit
Die Studie betrachtet den Umgang der DDR mit "ihren" Auschwitz-Fällen, insbesondere ihre widersprüchliche Strafverfolgungspraxis.
Podium, Quelle: BStU
Im Stasi-Unterlagen-Archiv befinden sich etliche Kilometer Akten zur NS-Zeit. Sie ermöglichen es, den Umgang mit den Tätern des Vernichtungslagers Auschwitz aus Sicht der DDR und insbesondere der Stasi nachzuvollziehen. Neben Henry Leide, dem Autor der BStU-Publikation "Auschwitz und Staatssicherheit", diskutieren in diesem Podcast die Historikerin Dr. Andrea Rudoff und der Archivleiter Johannes Klaas Beermann-Schön des Fritz-Bauer-Instituts, das sich mit der Geschichte und Wirkung des Holocaust beschäftigt, über das Thema.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Herzlich willkommen zu Folge 14! Ich bin Maximilian Schönherr, Gründer des Archivradios der ARD und freier Journalist.
Dagmar Hovestädt: … und ich bin Dagmar Hovestädt, die Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und die zweite Stimme im Podcast zum Stasi-Unterlagen-Archiv.Das Thema heute verbindet die Unterlagen dieses Archivs mit der Aufarbeitung der NS-Zeit in beiden deutschen Staaten bis zum Ende der Teilung- und eigentlich auch danach. Nicht ganz zufällig haben wir für die Folge heute, am 19. August 2020, den Mitschnitt einer Veranstaltung ausgewählt, die sich um unsere Studie "Staatssicherheit und Auschwitz" dreht.
Maximilian Schönherr: Heute vor 55 Jahren, am 19. August 1965 wurde das Urteil im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess gesprochen. Das war das aufwändigste und umstrittenste Verfahren der damals noch recht jungen Bundesrepublik. Es brach mit dem Denken vermutlich der meisten Bundesbürger: Die wollten die Hitler-Ära hinter sich lassen und zwar völlig vergessen. Denen war es egal, dass ehemalige Nazi-Richter nun wieder als Anwälte und Richter in der BRD tätig waren. In dem Prozess sagten praktisch alle Angeklagten, sie hätten von nichts gewusst. Selbst der stellvertretende Lagerleiter von Auschwitz, der selber das Zyklon B für die Gaskammern organisierte, meinte, ihm sei das alles völlig unbekannt. Er wurde am 19. August 1965 zu einer langen Haftstrafe verurteilt, kam aber nach 3 Jahren frei und starb wenig später.
Dagmar Hovestädt: Und wie alles in der Zeit der deutschen Teilung hatte das, was die eine Hälfte tat, eine Auswirkung auf die andere. Dabei standen beide deutsche Staaten in einem eher einseitigen Wettbewerb darüber, wer sich rigoroser von der Nazi-Vergangenheit abgesetzt und die Täter und Täterinnen deutlicher bestraft hatte. Die DDR hatte sich in diesem Vergleich zum sogenannten besseren deutschen Staat erklärt, mit dem antifaschistischen Gebot in der Verfassung und der klaren Haltung, dass Kapitalismus und Faschismus einhergehen und ergo ein sozialistischer und also anti-kapitalistischer Staat auch quasi automatisch sich vom Faschismus befreit hat. Weil also alle Überreste des NS-Staates somit in der Bundesrepublik waren, galt der Westen als faschistisch, was die DDR weidlich propagandistisch nutzte und damit ja nicht nur Propaganda betrieb!
Maximilian Schönherr: Nochmal zurück Auschwitz-Prozess, war ein Prozess vorwiegend von und gegen alte Männer. Aber er legte die Grundlage für Fragen, die die nachwachsende Wirtschaftswundergeneration dann durchaus selbstbewusst stellte: Vater, was hast du denn 1933 gewählt? Wie, du hast dir nichts dabei gedacht, als die Juden im Dorf abgeholt wurden? Die 68er-Studentenrevolution war Aufbruch. Und dazu gehörte auch die Abrechnung, oder nennen wir’s mal wissenschaftlich die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit. Dagmar du bist doch Expertin mit diesen Begriffen.
Dagmar Hovestädt: Der Begriff der Vergangenheitsaufarbeitung wird von angelsächsischen Historikern oft als etwas sehr deutsches erlebt. Die Aufarbeitung dieser spezifischen Zeit nämlich der NS-Vergangenheit dieser Unfassbarkeit der Monstrosität eines NS-Regimes mit dem Holocaust den irgendwie aufzuarbeiten oder gar zu bewältigen, das muss eine große deutsche Obsession gewesen sein, weil das immer wieder auch als deutsches Wort in langen englischen Texten auftaucht, Vergangenheitsaufarbeitung und das eben als deutsches Phänomen beschrieben wird und ich denke schon auch, das kommt aus dieser sehr intensiven Rückbesinnung darauf irgendetwas so schreckliches aus der Vergangenheit damit klar zu kommen, was eigentlich eine unmögliche Aufgabe ist. Man kann das nicht bewältigen. Man kann es auch nicht aufarbeiten.
Maximilian Schönherr: Also für unseren Podcast passt es ja genau richtig, denn es geht um dieses Supertrauma NS-Zeit, aber die Amerikaner würden jetzt nicht sagen, wir brauchen eine Aufarbeitung der Vergangenheit und meinen damit den US-Bürgerkrieg, sondern die sagen wir arbeiten jetzt den Bürgerkrieg auf.
Dagmar Hovestädt: Ja oder wir beschäftigen uns oder analysieren den Bürgerkrieg, aber die Amerikaner sind interessanterweise gar nicht mal soweit weg davon ihre Geschichte von Rassismus, Sklaverei und Bürgerkrieg sich nochmal ganz neu anzuschauen und sozusagen was kann man eigentlich dann lernen von anderen Ländern und da beschäftigen die sich mit ihrem dunklen Kapiteln ihrer Geschichte ein bisschen intensiver. Bislang haben die Amerikaner ihren Bürgerkrieg gefeiert und die Sklaverei als etwas bedauerliches beschrieben. Dieser sperrige Begriff der Vergangenheitsaufarbeitung bedeutet eigentlich auch das es Arbeit ist, sich mit so einer Vergangenheit, die man eben heroisieren und ablegen kann, zu beschäftigen. Na gut, aber jetzt zurück vom philosophieren über das Wort zum konkreten, dieser Aufarbeitung der NS-Zeit, ist eben ein riesiges Paket, dessen Inhalt vor allem auch abgehandelt wurde beim Umgang mit den tatsächlichen Straftätern des NS-Gewaltregimes. Hier setzt die Studie meines Kollegen Henry Leide genau an. Sie heißt "Auschwitz und Staatssicherheit". In ihr hat er entlang der Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit einmal systematisch versucht zu verfolgen, wie in der DDR mit den Tätern spezifisch des Konzentrationslagers Auschwitz umgegangen wurde und hat dabei auch getestet, ob dieser antifaschistische Anspruch, den die DDR auch so allumfassend behauptete, auch im Alltag eingehalten wurde.Jedenfalls geht es in diesem Gespräch, das muss man noch einmal vorne wegschicken, damit man dem noch besser folgen kann, immer wieder um die Straflogik – was kann man verurteilen, rechtsstaatlich verurteilen, wenn man, wie in der Bundesrepublik, nur nach einem Strafrechtskatalog ahnden kann, der die individuelle Schuld für ein spezifisches Tötungsdelikt verlangt. Das wird in der Diskussion immer wieder thematisiert, dass so etwas wie Komplizenschaft, also den Dienst in einem KZ versehen zu haben und sich damit mitschuldig am Massenmord gemacht zu haben, nicht strafbar war – bis erst vor wenigen Jahren, Anfang der 2010er, ist es den sehr späten Fällen jetzt akut geworden.
Maximilian Schönherr: Als ich das, was Sie, liebe HörerInnen gleich hören werden, hörte, diese Podiumsdiskussion, drei Archivexperten auf der Bühne, drei Archive, ein Thema, nämlich Hitlerdiktatur, dachte ich erstens: großartig, dieser Einblick in wissenschaftlich anspruchsvolle Archivarbeit. Zweitens dachte ich: Von der Aufarbeitung in Polen, dem einstigen deutschen Besatzungsgebiet, wozu auch Auschwitz gehörte, wusste ich bisher gar nichts. Und drittens, was Geschmäcklerisches, wenn ich das sagen darf: Es ist mit keinem Wort die Rede von der Villa Heike.
Dagmar Hovestädt: Die Veranstaltung zur Studie "Auschwitz und Staatssicherheit" fand am 24. Januar 2019 statt und zwar in der "Stasi-Zentrale. Campus für Demokratie" – in Haus 22, dem ehemaligen Offizierskasino der Stasi. Es war der Event zur Präsentation dieser neuen Studie, die wir im Eigendruck herausgebracht haben. Zuerst spricht der Moderator, Günter Laatsch, Journalist beim Wochenmagazin Der SPIEGEL, dann die Auschwitz-Historikerin Dr. Andrea Rudoff, im Fritz Bauer Institut beschäftigt, die sich sehr stark mit dem Umgang in Polen mit dem Genozid im KZ Auschwitz beschäftigt hat. Dann kommt Johannes Beermann, Archiv-Leiter des Fritz Bauer Instituts und schließlich mein Kollege Henry Leide, Autor der Studie "Auschwitz und Staatssicherheit", der sich schon sehr lang mit dem Umgang der DDR und vor allem der Stasi mit der NS-Zeit beschäftigt.
Maximilian Schönherr: Und Fritz Bauer?
Dagmar Hovestädt: Fritz Bauer, den haben wir noch gar nicht erklärt. Das Institut benannt nach ihm, das Institut in Frankfurt / Main am Ort des ersten des Prozesses, Fritz Bauer damals Generalstaatsanwalt von Hessen und der hat diesen Prozess in dieser Funktion beauftragt und nicht wenige sagen, der Prozess hätte ohne ihn und sein Engagement gar nicht stattgefunden.
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Gunther Latsch: Frau Rudorff, was hat sie am meisten erstaunt oder empört bei der Studie die Henry Leide jetzt vorgelegt hat und welche Passagen waren das?
Andrea Rudorff: Da ich ja schon zu DDR Strafverfolgung von NS-Unrecht geforscht habe, war mir das jetzt nicht so neu, dass die Staatssicherheit auch gerne nach Opportunitätsgründen eine Verfolgung verhindert hat und verunmöglicht hat. Was mich allerdings jetzt nochmal aus dem Fokus als Auschwitz-Historikerin besonders erstaunt hat, ist der Umstand, dass diese Ermittlung und auch Prozesse, die stattgefunden haben in den ersten Jahren und dann auch später die Ermittlungen durch die Staatssicherheit, die dann nicht zu Prozessen geworden sind oder wie auch immer. Zumindest sind ja dort Vernehmung erfolgt. Die sind in der Historiographie zu Auschwitz überhaupt nicht bisher bearbeitet worden. Ich möchte jetzt nicht sagen, dass die bundesdeutsche Strafverfolgung jetzt schon ausreichend durchforstet wurde von der Wissenschaft, aber da ist einfach gang und gäbe, dass man nach Ludwigsburg ins Bundesarchiv fährt und sich die Sachen anguckt. Es ist zugänglich, leicht und wird genutzt und das ist jetzt hier in diesem Fall nicht bisher nicht ausreichend passiert und das ist auf jeden Fall auch noch mal ein guter Ort für Forschung um dort anzusetzen.
Gunther Latsch: Wie war das bei ihnen?
Johannes Beermann: Ja, also ich muss ich muss am Anfang erstmal ein bisschen zu geben, dass das ich Bezug auf die Verfolgung von NS-Strafverfahren in der DDR ein bisschen betriebsblind war. Wie sie gesagt haben. Ich leite das Archiv des Fritz Bauer Instituts und wir beschäftigen uns natürlich vor allem mit der NS-Strafverfolgung in Westdeutschland. Speziell natürlich im Komplex Auschwitz und was sozusagen mich am meisten fasziniert hat in dem Buch ist, dass trotz unterschiedlicher Vorzeichen die Zahl und die Intensität der Strafverfahren gegen NS-Täter im Komplex Auschwitz in der DDR und der BRD ähnliche Verläufe genommen hat. Also da kann Herr Leide sehr viel besser etwas zu sagen als ich, aber das ist sozusagen das Erste was mich tatsächlich auch persönlich überrascht hat. Was ich auch noch aus der Perspektive unseres Institutes sehr interessant und dankenswert fand, war dass Herr Leide nochmal ausführlich auf den Pfeil von Adolf Rögner eingegangen ist, der für den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess eine sehr sehr wichtige Rolle gespielt hatte. Adolf Rögner war ein Auschwitz Überlebender, dessen Anzeige 1956 gegen Wilhelm Boger ein Mitglied der Kommandantur in Auschwitz mit dazu sozusagen den Startpunkt geliefert hat für Ermittlungen in Strafsachen in einer Strafsache, die dann später in den ersten Frankfurter-Auschwitz-Prozess mündete und über ihn war bisher tatsächlich persönlich sehr sehr wenig bekannt und deshalb fand ich die Ausführung in Herrn Leide's Buch sehr sehr spannend.
Gunther Latsch: Wir haben jetzt gehört, dass die Verläufe und die Auswirkungen ähnlich waren bei unterschiedlicher Motivlage. Wie war denn die Motivlage jetzt in der DDR die Motivlage der Staatssicherheit in puncto Auschwitz? Anders gefragt: Was sind so die zentralen Punkte ihrer Studie?
Henry Leide: Die zentralen Punkte der Studie sind ich bin mit Hilfe der Stasi-Unterlagen dabei gegangen und habe geguckt, wie die Strafverfolgung und wie der Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in der Realität ausgesehen hat. Immer entlang der kommunistischen Dogmatik. Faschismus ist der Ausdruck der Politik der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals und ich habe mir dann angeschaut: Wie hat die DDR auf entsprechende Prozesse zu den ersten Auschwitz Prozess in Frankfurt am Main reagiert? Welche Rückwirkungen hatte das im eigenen Land und wie sah die Strafverfolgung bzw. nicht Verfolgung von Verdächtigen aus dem Bereich des Lagers Auschwitz in der Realität und in den Akten der Staatssicherheit aus?
Gunther Latsch: Gab es denn die Kategorie der individuellen Schuld, so wie es die im Westen gegeben hat?
Henry Leide: Also meiner Erfahrung nach und nachdem was ich jetzt aus den Akten entnommen hab, spielte das weniger eine Rolle. Entscheidend war eigentlich die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik, wo eben NS-Täter in entscheidenden Positionen gesessen haben, wo es kein Elitenaustausch gegeben hat, wo die Wirtschaftsordnung dieselbe geblieben war im Gegensatz zur DDR. Die Täter die rangniedrigen die Täter der direkten Tat fielen dabei ein bisschen hinten runter. Sage ich jetzt mal. Man konzentrierte sich zum Beispiel auf die Forschungsmitglieder der IG Farben und andere Führungspersönlichkeiten.
Gunther Latsch: Nun hat ja der DDR Anwalt Kaul als Nebenkläger Vertreter in dem Frankfurter dem ersten großen Auschwitz-Prozess auch eine sehr wahrnehmbare Rolle gespielt. War das nicht bei aller unterschiedlichen Punkte auch in der gewissen Weise eine Ergänzung zu dem was im Westen in der Strafverfolgung vielleicht versäumtwurde? Nämlich zu sagen 'wir gucken wer hat in der Industrie daran verdient? Wer war verantwortlich für die industrielle Ausbeutung der Menschen in Auschwitz?'Was sind so aus ihrer Sicht die zentralen Unterschiede zwischen Ost und West in der Sicht?
Johannes Beermann: Also in Westdeutschland ist es so, dass die Strafverfolgung auf der Grundlage des während der Tatzeit bestehenden Strafrechtes erfolgte und sozusagen nach dem deutschen Strafrecht und anders als das Internationale- oder Völkerstrafrecht ist es natürlich bei den deutschen Strafrecht so, dass es bis 45 Tatbestände wie Massenmord oder Völkermord nicht kannte. Das heißt die Straftaten mussten auf der Grundlage von Mord verfolgt werden das heißt auch von individuellen Mord. Jedem Täter musste sozusagen eine individuelle Tat nachgewiesen werden. Es war nicht so, dass es zum Beispiel auch eine Sichtweise die Kaul im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess eingenommen hat, die übrigens interessanterweise auch Fritz Bauer sozusagen verfolgt hat, ist zu sagen das Ganze ist ein Handlungszusammenhang. Wir können nicht einzelne Teile aus diesem aus der Vernichtung in Auschwitz herauslösen und individuell sozusagen Täter herauspicken und den individuellen Morde nachweisen sondern dass wird dem ganzen Komplexen nicht gerecht, sondern jeder der in Auschwitz tätig war, muss sozusagen auch strafrechtlich belangt werden können, wann er seinen Teil zur Mordmaschinerie beigetragen hat. Das ist sozusagen eine der zentralen Unterschiede. Zweiter zentraler Unterschied ist natürlich in der Strafverfolgung in der BRD, dass die Strafverfolgung hier ausschließlich durch die Staatsanwaltschaften geschah, die frei waren von politischen Hintergründen. Die Staatsanwaltschaft muss ein Ermittlungsverfahren einleiten, wenn ein Verdacht da ist, unabhängig sozusagen von ob geschädigt oder Opfer einer Straftat ihrerseits Klage erheben und sie muss dabei auch belastende und entlastende Umstände versuchen zu ermitteln.
Gunther Latsch: Wie war das in Polen?
Andrea Rudorff: Also Polen war ja eines der ersten Länder, die überhaupt eine NS-Strafverfolgung etabliert haben. Das begann schon im Sommer 1944, als die Sowjetarmee Polen einmarschiert war und dort eine provisorische Regierung installiert hatte das polnische Komitee der nationalen Befreiung. Jetzt angenehmer der Ton? Genau und dieses Komitee hat dann schon im August 1944 ein Dekret erlassen das sogenannte August Dekret, das die bis heute eigentlich die strafrechtliche Grundlage für die NS Strafverfolgung in Polen darstellt. Dieses Dekret war zunächst sehr rigide. Es sah die Todesstrafe vor für alle Formen nicht nur von Mord sondern auch von Misshandlungen und Verfolgung. Das wurde dann aber diverse Male novelliert und entschärft und auch an internationale Standards angepasst zum Beispiel nach dem Nürnberger Prozess die NSDAP, SS, Gestapo und der Sicherheitsdienst als verbrecherische Organisationen deklariert worden sind, wurde das aufgenommen in das August Dekret und ab diesem Moment konnten alle NS Täter, die in Konzentrationslagern tätig gewesen sind allein schon durch ihre SS-Mitgliedschaft zu einer Mindeststrafe von drei Jahren verurteilt werden. Das heißt da musste theoretisch gar nicht mehr Entlastung und Belastungsmaterial gesucht werden, weil diese SS-Mitgliedschaft schon diese Mindeststrafe ermöglicht hat, aber es ist nicht so das jetzt da pauschale Urteile gefällt worden sind. Also man hat schon versucht Zeugen zu finden und ein individuelles Verhalten nachzuweisen um dort auch zu gerechten Urteilen zu kommen. Insgesamt wird die polnische Strafverfolgung tatsächlich von der Forschung als sehr an rechtsstaatlichen Prinzipien orientiert gesehen, aber natürlich fand sie auch nicht im luftleeren Raum statt. Es gab auch eine politische Instrumentalisierung des August Dekrets. Die richtete sich aber weniger gegen die deutschen NS-Täter, die nach Polen ausgeliefert worden sind oder dort festgenommen wurden, sondern vor allem gegen polnische Staatsbürger. Denn das August Dekret ließ sich auch gegen sogenannte Verräter, Kollaborateure, alle Personen denen vorgeworfen worden ist die Deutschen unterstützt zu haben und so weiter gegen diese konnte auch mit Hilfe des August Dekrets vorgegangen werden und das hat die neue Regierung, also die kommunistische Regierung in dem Fall, ausreichend genutzt um Anhänger der bürgerlichen Opposition Anhänger der polnischen Exilregierung oder ehemalige Angehörige der Heimatarmee alle die dem neuen Staat irgendwie nicht wohl gesonnen waren auch dann zu schaden oder die durch solche Verfahren zu schädigen oder aus dem Verkehr zu ziehen und das sieht man auch an den Zahlen, denn es sind insgesamt in der entscheidenden Zeit bis Mitte der 50er Jahre über 20.000 Personen nach dem August Dekret verurteilt worden und davon waren 5.000 deutsche NS-Täter also ein Viertel ungefähr von der Gesamtzahl. Also insofern kann man sagen, dass auch in Polen politische Instrumentalisierung stattfand von diesen NS-Strafverfolgungen. Nur das sie sich eben nicht gegen Kriegsverbrecher in dem Sinne richtete. Es ist jetzt nicht ausgeschlossen, dass unter diesen polnischen Staatsbürger da gab es natürlich auch Kollaborateure, die dort hätten sicherlich auch zu Recht verurteilt worden sind, aber es ist nicht in allen Fällen so und diese Verfahren sind deutlich weniger rechtsstaatlich als die gegen tatsächlich die deutschen Täter.
Gunther Latsch: Wir haben es eben schon angesprochen. Bei dem ersten großen Auschwitz Prozess in Frankfurt war der DDR Anwalt Kaul in enger Abstimmung mit dem MfS Nebenklagevertreter. Wie sah diese Abstimmung aus? Wie muss man sich das vorstellen?
Henry Leide: Also Kaul war nicht in direkter Abstimmung mit dem MfS in Frankfurt, sondern mit dem ZK der SED und hatte dort den Auftrag bekommen den ersten Auschwitz maximal gegen einen Tribunal in die IG Farben umzuwandeln und das hat er dann auch gemacht. Also die Verbrechen, die in Auschwitz begangen wurden und die das Gericht in Frankfurt versuchte zu ahnden, wurden dadurch marginalisiert sagen wir mal so und die IG Farben die unbestreitbar in die Verbrechen in Auschwitz Monowitz verstrickt waren, wurden in den Vordergrund gestellt. Aber wie gesagt das ist zwiespältig, wenn SS-Leute vor Gericht stehen, die ihre Verbrechen beispielsweise in Monowitz begangen haben oder im Stammlager und dann ein anonymer Trust oder eine Firma eigentlich angeklagt wird.
Gunther Latsch: Fast zeitgleich zu den Frankfurter Prozessen gab es in der DDR ich sag mal einen geheim fast einen Geheimenverfahren gegen ein Mitglied der Wachmannschaft in Auschwitz Hans Anhalt. Warum wurde das geheim gehalten? Es hieß ja damals keine Presse und keine Öffentlichkeitsarbeit, obwohl der Mann selber in seinen Vernehmungen ja geprahlt hat niemand habe - ich zieh das jetzt aus dem Gedächtnis - die Juden Vernichtung so engagiert mit betrieben wie er.
Henry Leide: Das hängt mit der Entstehung dieses Verfahrens zusammen. Hans Anhalt ist durch einen Zufall 1951 in das Visier der Polizei geraten zunächst. In dem Dorf wo er lebte, hieß es in der Dorfkneipe der ist ein Auschwitz gewesen und hat Häftlinge misshandelt. Diese Gerüchte waren so über die Jahre hinweg. 1961 hat sich die Staatsicherheit eingeschaltet und hat mit IM überprüft, ob da was dran sein könnte. Das ergab sich, dass es wirklich so ist und er ist dann 1964 verhaftet worden und auch verurteilt worden zu lebenslänglich. In den Vernehmungen hat er dann angegeben in Auschwitz Arbeitsführer gewesen zu sein. Das heißt er hat Häftlinge für den Arbeitseinsatz ausgesucht oder eben zur Vergasung, wenn sie körperlich nicht mehr in der Lage waren. Er hat damit geprahlt Mengele bei seinen Selektionen an der Rampe geholfen zu haben. Er hat zugegeben an rund 300.000 Selektionen teilgenommen zu haben und individuelle Straftaten wie das Verbrennen von Häftlingen zur Strafe bei lebendigem Leibe oder auch das Erschlagen von Häftlingen, wenn sie ihm auffällig geworden sind. Während der Untersuchung stellte sich dann heraus, dass er zum Beispiel ein Hitlerbild im Schlafzimmer hängen hatte hinter dem Bild seiner Frau versteckt und also unglaubliche Geschichten und die DDR hat damals zu seiner Verurteilung das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ebenso wie die Bundesrepublik herangezogen noch und merkten dann sie haben nicht so richtig Beweise oder waren der Meinung sie haben nicht genug Beweise in individueller Straftaten zu überführen, obwohl das gar nicht stimmte. Er hatte das ja alles zugegeben. Es gab auch Zeugen, die ihn in Auschwitz erlebt haben und sie waren sich aber unsicher, ob diese Verurteilung auch in der Bundesrepublik nach rechtsstaatlichen Kriterien bestand haben würde, wenn sie das publik machen. Aufgrund dessen ist das verschwiegen worden und die Verhandlung wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die Frankfurter Ermittler haben von diesem Verfahren keine Informationen erhalten. Sie sind nicht über die Aussagen, die Anhalt getätigt hat informiert worden, obwohl die sehr detailliert waren und auch andere natürlich Mittäter der SS in Auschwitz belastet haben.
Gunther Latsch: Woher rührt diese Unsicherheit, weil man sich in der DDR ja nicht vorstellen konnte, dass jemand der nicht Teil des kapitalistischen Großsystems oder keine Funktion da hatte, in eigener Herrschaft über Leben und Tod soviel Unrecht begehen konnte.
Henry Leide: Es hätte natürlich die Argumentation von Kaul diese orthodox kommunistische Argumentation zu mindestens erschwert. Das ist nur das Kapital ist, das für solche Sachen verantwortlich ist während so ein SS-Sturmmann da offensichtlich tausende von Menschen umbringen kann, dass das eine das andere, es hätte sicherlich unangenehme Fragen gegeben wie es sein kann, dass so jemand der damit prahlt auch noch in Auschwitz Menschen umgebracht zu haben, unbestraft 20 Jahre in der Gegend rum läuft und so weiter und diesen Fragen wollte man sich offensichtlich nicht stellen.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Gunther Latsch: So sind ja bei der Beweisführung vor Gericht auch Akten oft ganz zentral um auch Schuld nachweisen zu können und ich habe aus ihrem Buch jetzt gelernt, dass die Herrschaft über die NS-Akten in der DDR ausschließlich beim MfS lag. Wie war das im Westen?
Johannes Beermann: Also ja tatsächlich ist es so, dass Archive eine ganz zentrale Rolle bei der NS-Strafverfolgung geführt haben. Das liegt vor allem auch daran man muss sich sozusagen ein bisschen archiv-theoretisch sozusagen mit Archiven beschäftigen. Was machen Archive? Sie stellen oder bewahren Informationen über die Vergangenheit auf und stellen diese dann zu einem späteren Zeitpunkt für Menschen die sich mit eben dieser Vergangenheit zur Verfügung und das sozusagen das besondere was sozusagen das Archiv besonders macht für den Nutzer ist die Integrität und Authentizität der schriftlichen Unterlagen, die das Archiv durch sein Dasein sozusagen gewährleistet und das macht natürlich die Archivbestände für Staatsanwaltschaften sehr spannend, weil sozusagen da Beweisdokumente sind, deren Authentizität sozusagen gesichert ist, weil weder Historiker noch Staatsanwälte wollen und können sich ganz auf mündliche Erinnerungen allein verlassen und suchen daher nach Möglichkeiten das zu untermauern. Es gibt sogar sozusagen im deutschen Strafrecht auch in Westdeutschland ich damals sozusagen das geflügelte Wort der Zeugenbeweis ist der schlechtere Beweis, das heißt sozusagen die Staatsanwaltschaften waren bemüht schriftliche Beweisdokumente zu finden, die sozusagen mehr galten als die Zeugenbefragung das Problem war dann allerdings in den Prozessen selber, dass sich mit diesen schriftlichen Beweisdokumenten zwar der Gesamtzusammenhang gut rekonstruieren ließ, aber nicht individuelle Taten. Die waren meistens nicht über diese Beweisdokumente greifbar. Da musste dann doch wieder auf die Zeugenvernehmung zurückgegriffen worden und da haben sozusagen für die individuelle Tatbeteiligung für deren Ermittlung haben die Zeugen einen großen Beitrag geleistet. Jetzt ist es generell so, dass in der BRD die Archive für Staatsanwaltschaften generell frei zugänglich waren. Das ist sozusagen für Forscher nicht ganz so parallel in derselben Zeit. Das wichtigste Archiv für die Staatsanwaltschaften war hier in Berlin in Berlin-Zehlendorf das "Berlin Document Center" das ist eine Einrichtung gewesen, die von den Amerikanern 45 eingerichtet wurde dort wurden alle Unterlagen, die die US-Streitkräfte im Vormarsch sozusagen habhaft wurden untergebracht. Dort zum Graus jedes Archivars auseinander genommen und nach Personen sozusagen sortiert. Es gab sozusagen ein Personenzugriff und dieses Archiv sollte ursprünglich dafür dienen den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und die Nürnberger Nachfolgeprozesse vorzubereiten und dann auch der Entnazifizierung und es lag dann in Berlin. Es war zugänglich für die deutsche Staatsanwaltschaft. Der erste Staatsanwalt, der es ausführlich genutzt hat, war Erwin Schüle, der spätere Leiter der zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, der in Vorbereitung auf den Ulmer Einsatzgruppenprozess dort 58 das erste Mal sozusagen diese Bestände genutzt hat und im Verlauf ist das sozusagen ist das BDC zu einem der aller ersten Anlaufpunkte für die verschiedenen Staatsanwaltschaften in der BRD geworden, wenn sie gegen NS Täter ermittelt hat. Dann ist sozusagen einer der ersten Schritte gewesen Namen im BDC zu überprüfen. Das ist sozusagen einer der wichtigsten Archivbestände. Ostdeutsche Ermittler hatten übrigens keinen Zugang und ostdeutsche Behörden beziehungsweise auch alle Staaten aus dem Ostblock. Ja alle Behörden aus dem Ostblock.
Gunther Latsch: Wer hat den Polen die Herrschaft über die Akten?
Andrea Rudorff: In Auschwitz gab es ja direkt nach der Befreiung sofort eine sowjetische Kommission, die dort sehr sehr viele Zeugenbefragungen durchgeführt hat, aber auch so eine große Zahl von forensischen Untersuchungen, die tatsächlich auch in den Prozessen zumindest in den zwei großen Prozessen, die gegen Höß und gegen das Lagerpersonal genutzt worden sind. Ich sag noch was zu den Prozessen. Es sind über 800 Leute in Polen also Auschwitzangehörige, die dort als Wachmann oder als Angehöriger des Kommandanturstabs gearbeitet haben, verurteilt worden, aber es gab zwei besonders große Prozesse, die ausgelöst worden sind aus den üblichen Verfahren, die vor den Bezirksgerichten stattgefunden haben. Die wurden vor einem eigens geschaffenen Gericht, das "Oberste National Tribunal" genannt wurde, durchgeführt. Nämlich gegen Rudolf Höß und gegen 40 ausgesuchte Mitglieder der Lagerbesatzung, die ein breites Spektrum repräsentieren sollten. Also jetzt nicht nur die gefährlichsten und brutalsten Täter, sondern auch normale Wachmänner waren dabei und in diesen zwei großen Verfahren sind eben diese Unterlagen der sowjetischen Kommission genutzt worden. Sie kennen alle die Koffer, die Brillenberge, die haben auch die Gaskammern untersucht. Was ist da passiert? Also diese Art von materiellen Beweisen wurden dort eingebracht. Dann hat die Sowjetunion auch Akten mitgenommen, die da nicht zur Verfügung standen und um die es auch im Rahmen von Staatssicherheit oft ging. Nämlich die Akten der Zentral-Bauleitung, die in die Sowjetunion gebracht worden sind und eigentlich erst in den letzten Jahren wieder offen zugänglich sind, die sehr viel Unterlagen zum Bau der Krematorien liefern und da auch eine Täterschaft natürlich viel besser nachweisbar ist. Es sind einige Mitglieder der Zentral-Bauleitung freigesprochen worden. Wahrscheinlich weil man eben diese Unterlagen nicht kannte.
Gunther Latsch: Hat die polnische Staatssicherheit eine ähnliche Rolle gespielt, wie die in der DDR oder war das unterschiedlich?
Andrea Rudorff: In Polen gab es eine Służba Bezpieczeństwa ist dann gegründet worden als Stasi, die hab ich jetzt in meinen Untersuchungen nur gefunden als diejenigen die Erstverhöre durchgeführt haben. Teilweise nicht ganz korrekte, die aber dann meistens die Verfahren an die Staatsanwaltschaften und Gerichte übergeben haben und dann keine Rolle mehr gespielt haben. Wer den Hauptzugang zu den Akten hatte, war die sogenannte Hauptkommission, die es in allen möglichen Filialen noch gab. Also mindestens, glaube ich, 13 lokale, regionale Außenstellen hatte. Die diese Akten verwaltet hat und die ab März 45 auch selber ganz viele Befragungen durchgeführt hat, die dann als Zeugenaussagen bei diesem Verfahren zur Verfügung standen. Was ich auch will und mir wichtig ist, dass die Häftlinge selber im Lager schon Listen angefertigt haben von den besonders brutalen Tätern. Es gibt eine berühmte Liste "Der Henker von Auschwitz", die im September 44 aus dem Lager geschmuggelt wurde nach London und dort auch schon über die BBC verbreitet worden ist. Also von Leuten, die die Häftlinge gerne verurteilt sehen möchten, wo ihre Verbrechen detailliert aufgeschrieben worden sind und auch diese Listen sind natürlich auch als Zeugen- oder Beweismittel genutzt worden. Genauso wie auch die sehr sehr ausführlichen Berichte von Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler, die aus Auschwitz geflohen sind im April 1944 und im Sommer oder kurz danach über 20 oder 30 seitigen Bericht mit auch detaillierten Angaben gegeben haben. Es war schon so, dass Zeugenaussagen eine der Hauptbeweismittel waren. Man hatte vor Ort noch sowas wie Standortbefehle und Kommandanturbefehle, die manchmal so Täterschaften tatsächlich auch ein bisschen untermauert haben, aber auch eigentlich nicht richtig. Also es ist ja niemals jetzt schriftlich fixiert worden 'Heute hat der und der dort so und so viel Menschen umgebracht.' Also das ist natürlich dann immer schwierig, aber was natürlich problematisch war, dass die Zeit nicht gereicht hat um sich wirklich einen guten Wissensstand über die Organisationsstruktur und auch die Kompetenzen der einzelnen Funktionen zu verschaffen, sodass eben viele sich rausreden konnten und meinten Rampendienst hätten sie nie gemacht, wo vielleicht vom heutigen Wissensstand her gesagt werden kann, doch alle die dort tätig waren auch mal mit auf der Rampe oder solche wie das jetzt auch in den jetzigen Verfahren gegen Oskar Gröning usw. sichtbar wurde das einfach das Wissen stärker ist und dadurch auch besser gegen Täter, die sich herausreden wollen argumentiert werden kann.
Gunther Latsch: Im Zusammenhang mit dem ersten Auschwitz-Prozess hat die Sowjetunion Dutzende und Tausende von Akten in die DDR geschafft. War das der Grundstock des Stasi-Bestandes oder wo kamen die her?
Henry Leide: Nein das ist nicht so gewesen. Also aus der Sowjetunion offensichtlich aus den Sonderarchiven Moskau sind Akten, Bauakten, diverses Schriftgut, original Schriftgut aus Auschwitz der Staatssicherheit übergeben worden zur Auswertung offensichtlich. Die Staatssicherheit hat aus diesen Aktenkonvoluten und Aktenfragmenten alle Namen, die darin genannt worden sind von SS-Angehörigen, aber auch von Firmen, die am Bau der Gaskammern und so beteiligt werden rausgeschrieben und hat faktisch zu jeder Person und zu jeder Firma ein Dossier angelegt und aus allen Akten wurden die Informationen dann jeweils in dieses Personendossier eingefügt zum Beispiel der Hubert Zafke der jetzt vor zwei Jahren von der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg wegen dreitausendfachen Mordes angeklagt worden ist. Ist 1964 im Rahmen dieser Erschließungsmaßnahmen bei der Staatssicherheit erfasst worden. Es sind keine weitergehenden Maßnahmen ergriffen worden. So ist es natürlich auch mit vielen vielen tausend anderen Akten. Die Staatssicherheit hat bekanntlich zwischen sieben und elf Kilometer original NS-Aktenmaterial verwahrt. Die Abteilung, die dafür zuständig war, war die Hauptabteilung IX/11 und ich beschreibe beispielsweise den Fall Henry Schmidt, der SS-Obersturmführer und so genannter Judenreferent der Gestapo Leitstelle in Dresden war. Dessen Aktivitäten hatten schon Kommunisten kurz nach Kriegsende angefangen aufzubereiten, Zeugenaussagen zu sammeln und Beweise zu sammeln. Dann sind diese Unterlagen an die Polizei übergeben worden und da die Staatssicherheit aber im Verlauf der sich entwickelnden DDR die Polizei faktisch ablöste und allein nicht zuständig wurde für NS-Verdachtsfälle sind die Unterlagen auch in dieses Archiv gekommen, lagerten dort und durch ein Zufall ist die Staatssicherheit dann wieder auf ihn gestoßen auf diesen Henry Schmidt 1983 als nämlich ein Verwandter als IM angeworben werden sollte und im Rahmen dieser IM-Anwerbung wurden generell alle Verwandten mit überprüft und da stellte man fest, dass man Unterlagen über diesen gewissen Henry Schmidt in den NS-Akten hatte und auch Dokumente aus seiner Dienstzeit bei der Gestapo in Trier beispielsweise und aus Dresden. Er ist dann 1987 verhaftet worden und zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt worden. Das war aber Zufall.
Gunther Latsch: Henry hat eben den Fall Zafke erwähnt. Haben sie ein Überblick wie viel NS-Täter nach Zusammenbruch der DDR auf Basis der Akten die jetzt zugänglich waren vor Gericht gestellt und verurteilt wurden? Gibt es da Zahlen?
Johannes Beermann: Konkrete Zahlen habe ich jetzt nicht vor Augen und genau es sind wenige Fälle.
Henry Leide: Wie gesagt die gleiche Rechtslage in der Bundesrepublik nach 89 wie vor 89. Nur mit dem Unterschied ist die weites komfortablere Rechtslage der DDR weggefallen ist. Also wie der Kollege das vorhin schon gesagt hat. Wir hatten ja internationales Recht in der DDR in Form des Artikels 6c des internationalen Militär Gerichtshofes und danach waren die individuellen Tatnachweise gar nicht notwendig. Die DDR hat das bloß nicht genutzt und auch nicht konsequent genutzt
Andrea Rudorff: Es hat sich aber gerade die Rechtslage etwas geändert. Das ist ja nach dem Demjanjuk-Verfahren offensichtlich geworden, dass das eben jetzt doch auch das pure da sein also dort Angehöriger der Wachmannschaft gewesen zu sein auch in Auschwitz, wie im Gröning-Verfahren erstmals durchgeführt, schon zur Verurteilung führen kann und durch die Bestätigung durch den Bundesgerichtshof ist das jetzt auch rechtskräftig und es wird jetzt auch in allen noch anhängigen Verfahren wird so geurteilt werden. Nur das es eben aufgrund des Alters der Angeklagten nicht sehr wahrscheinlich ist, dass das auch in vielen Fällen stattfindet, aber die Rechtslage hat sich insofern schon geändert.
Henry Leide: Das ist schon zutreffend, aber Demjanjuk ist ja kein DDR-Fall, wenn man so will und die Verurteilung beruht ja auch nicht auf die DDR-Dokumenten oder Beweisaussagen beispielsweise.
Andrea Rudorff: Das meinte ich damit auch nicht.
Henry Leide: Es betrifft ja diese individuellen Schuldner, weil es betrifft ja auch hauptsächlich Auschwitz komischerweise. In anderen Konzentrationslager war es ja kein Problem auch Angehörige der Wachmannschaft wegen allein wegen der Anwesenheit im Lager zu verurteilen.
Andrea Rudorff: Das lag an der besonderen Konstruktion von Auschwitz als Mischlager mit den verschiedenen Funktionen dadurch ist das zu erklären.
Gunther Latsch: Wo sind diese ganzen Akten, die die Staatssicherheit hatte jetzt? Sind die alle in den Beständen jetzt der BStU oder sind die im Bundesarchiv? Verteilt sich das?
Henry Leide: Das wäre schön, wenn die alle bei uns wären, aber die sind nach 89 an die Provenienz Bilder an die Eigentümer zurückgegeben worden. Ein anderer Teil ist ins Bundesarchiv gegangen und die Akten die einen MfS Bezug und Bearbeitungsvermerke hatten, sind in das Archiv des Bundesbeauftragten übergegangen und das macht das Arbeiten auch nicht gerade leichter, dass dieser Bestand so zerschlagen worden ist, faktisch.Also generell hat die Staatssicherheit diese Akten ja erschlossen übernommen beispielsweise. Man kommt also nicht heran, wenn man schreibt Auschwitz, sondern man muss schon die Namen einzeln eingeben in die Recherche und das macht es auch so schwierig eine Gesamtzahl zu nennen von ehemaligen Angehörigen der SS aus Auschwitz, die sich in der DDR aufgehalten haben und das ist auch das Stichwort. Es waren ungefähr sechs bis achttausend SS-Angehörige in Auschwitz tätig von 1940 bis 1945 und wenn ich mir überlege, dass in der Bundesrepublik 61 von ihnen verurteilt worden sind und in der DDR 35, muss ich sagen das ist für keine der beiden Seiten ein Ruhmesblatt in Anbetracht der Totenzahlen.
Gunther Latsch: Sie haben in ihrem Eingang Statement gesagt, dass ich auf eine merkwürdige Art und Weise von unterschiedlichen Ausgangspunkten herkommt die Art und Weise zum Schluss ihr Ergebnis geähnelt hat. Könnten sie es ein bisschen ausführen wie sie es gemeint haben?
Johannes Beermann: Ja also wenn man sich sozusagen die ich meinte dass jetzt vor allem wenn man sich sozusagen den Verlauf der Verfahren vorstellt. Wir kommen von einem relativ hohen Niveau der Jahre 45 bis 49 bis zur doppelten Staatsgründung, wo sozusagen relativ viele NS Täter vor Gericht standen und es eine große Zahl von Ermittlungen gab. Das flacht dann im Laufe der 50er Jahre stark ab. Bis in der BRD bis 1958 bis zur Gründung der zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen, die habe ich zwar eben schon erwähnt, aber nicht erklärt was es ist. Das ist sozusagen eine Art Vorermittlungsbehörde, die gibt es bis heute sozusagen. Deren Aufgabe ist systematisch gegen NS-Täter im In- und Ausland sozusagen zu ermitteln, Material zusammenzutragen, auszuwerten und die gibt dann sozusagen Empfehlungen bzw. Schlussberichte an lokale Staatsanwaltschaften, die sozusagen meistens über den Wohnort des Verdächtigen sozusagen, die dafür zuständig sind und die lokalen Staatsanwaltschaften ermitteln dann weiter. Also dann gibt es sozusagen bis zur Gründung dieser der zentralen Stelle flacht das ab. Dann ist es so, dass mit der Gründung auf einmal ganz viele Verfahren angestoßen werden. Das erreicht dann in den 60er Jahren so ein Höhepunkt mehr oder weniger. Es gibt dann in den 60ern in der BRD eine ganze Reihe von NS Prozessen. Nicht nur den Auschwitz-Prozess, sondern es gab dann so eine richtige Prozesswelle. Die flacht dann in den 70er Jahren wieder ab, was mit der kalten Amnestie und Verjährung vor allem zu tun hat und damit dass das sozusagen Beihilfe zum Mord nicht mehr verfolgt werden kann. Es erreichte noch so einen kleinen Peak in den 70er Jahren. Zum Beispiel mit dem Majdanek-Prozess in Düsseldorf und flacht dann halt auch sozusagen, auch wenn die Täter älter werden, sozusagen bis heute mehr oder weniger ab und das ist eine Entwicklung die irgendwie ihr Parallele auch in der DDR findet.
Henry Leide: Ja allerdings auch aus anderen Gründen.
Gunther Latsch: Waren die Polen da effizienter mit ihrer Art damit umzugehen?
Andrea Rudorff: Also allein von der Zahl her auf jeden Fall also 700 bis 800 Auschwitz-Täter sind in Polen verurteilt worden, aber eine systematische Suche hat es natürlich in Polen auch nicht gegeben. Es gab dann eben diese Listen nach denen dann ausgeliefert wurde, aber wenn das Netz nicht engmaschig genug war in den in den alliierten Besatzungszonen, dann konnten die Polen auch da wenig machen. Also es hat auch viel mit dem Zufall zu tun, ob die sozusagen erkannt worden sind als diejenigen, die auf dieser Liste stehen. Also die Listen waren natürlich weitaus größer als die 800 Personen, die jetzt dann verurteilt worden sind. Also es sind insgesamt 1800 Kriegsverbrecher ausgeliefert worden und davon wahrnimmt hatten 800 einen Auschwitz-Bezug, was jetzt nicht heißt, dass sie jetzt vor allem wegen Auschwitz verurteilt worden sind. Viele waren ja dann aufgrund der Rotation auch noch in anderen Konzentrationslagern tätig gewesen.
Henry Leide: Also ganz kurz nochmal da einzuhaken. Ich habe den Eindruck, dass den Polen schlicht und ergreifend die Verdächtigen ausgegangen sind. Nachdem die Amerikaner zum Beispiel gesagt haben wir liefern keinen mehr an Polen aus und die Briten auch. Die Russen waren eh sehr restriktiv und ich glaube dann 55 spätestens ist ja auch keiner von diesen SS-Leuten freiwillig in Polen geblieben, sondern die haben ja zugesehen, dass sie gen Westen kommen. Die Situation ist in der DDR natürlich eine andere gewesen. Also 1966 ist der SS-Hauptsturmführer Horst Fischer in der DDR verurteilt worden. Der war stellvertretender Standortarzt in Auschwitz-Monowitz und er war zwar der höchstrangigste SS-Mediziner, der je vor einem deutschen Gericht gestanden hat, aber zugleich auch der letzte NS-Täter der in Auschwitz für Auschwitz-Taten in der DDR verurteilt wurde. Meine Recherchen haben aber ergeben, dass es kein Mangel an Verdächtigen gab, die persönlichen in Auschwitz in Verbrechen involviert waren oder zumindest ihren Dienst in Auschwitz versehen haben und deswegen in dringendem Tatverdacht standen. Das Problem war aber einfach, dass die DDR das Auschwitz Problemen gen Westen schlicht delegiert hat. Also Auschwitz war ausschließlichen ein Problem der Westdeutschen, weil angeblich alle Verdächtigen in gen Westen geflohen sind.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das waren wesentliche Ausschnitte der Veranstaltung zur Buchpräsentation "Auschwitz und Staatssicherheit", vom Januar 2019. Zuletzt zu hören war Henry Leide, der Autor der Studie und ein Kollege hier im Stasi-Unterlagen-Archiv. Moderiert hat der Journalist Günter Laatsch und mitdiskutiert haben Dr. Andrea Rudoff, HIstorikerin beim Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt / Main sowie Johannes Beermann, Archiv-Leiter im Fritz-Bauer-Institut.Die Veranstaltung ist in kompletter Länge auf dem YouTube Kanal des Stasi-Unterlagen-Archivs nachzusehen. Der Link ist unter www.bstu.de/podcast zu finden, genauso wie der Link zu einem PDF der Studie.
Maximilian Schönherr: Und nun, wie immer, das Archiv zum Hören.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich mit meinen Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Wir hören heute einen Ton aus Dresden. Die Kassette ist beschriftet mit Erfahrungsbericht "Erich" und die Notiz "Exemplar 18" deutet darauf hin, dass es als Schulungsmaterial gedacht sein könnte. Erich berichtet über seine Zusammenarbeit mit dem MfS, erläutert seinen Auftrag und unterteilt den Auftrag in vier Komplexe, außerdem berichtet er, dass er die Zustimmung seiner Ehefrau zu seiner Arbeit als IM hat. Wir hören jetzt von den 59 Minuten die 3 Minuten in denen er über Nützlichkeit und die Gefahren von Vorabinformationen reflektiert.
[Erich:] Persönliche Informationen über die betreffenen Personen bis auf eine bis auf die vermutlichen Neigung des einen zur Homosexualität nicht gegeben. Heute schätze ich ein, dass beim späteren persönlichen kennenlernen diese persönlichen Information sehr nützlich sein können. Persönliche Informationen wie zum Beispiel bevorzugte Getränke, bevorzugte Musik, bestimmte Literatur, die bevorzugt wird, das heißt konkret welche Schriftsteller, welche Bücher, auch Intensität des Alkoholgenusses und der gleichen Dinge, sind meiner Meinung nach sehr wichtig, das heißt deren Kenntnis für die spätere Anpassung für die Herstellung eines persönlichen Kontaktes. Zu mindestens zur Präzision wäre es mir darauf angekommen Fakten zu erfahren, wirklich nur die Fakten, keine Charakteristik, keine Wertung einzelner Eigenschaften. Diese sollte man sich und muss man sich im direkten persönlichen Kontakt erarbeiten, eine Wertung der Persönlichkeit. Wohingegen mir Kenntnisse durchaus nötig erscheinen. Kenntnisse über die bestimmte, über bestimmte persönliche Eigenarten. So war es mir zum Beispiel möglich über zu, zu, zu der einen Person sehr schnell einen guten persönlichen Kontakt zu kriegen, zu bekommen über Fragen der Volksmusik vor allem Lateinamerikas. Das dies so gut möglich war, hing aber nur damit zusammen, dass ich selbst persönlich da über Kenntnisse verfüge, hätte, wäre dem nicht so gewesen, hätte mir diese Möglichkeit gefehlt, hätte hingegen diese Information gehabt, hätte ich mich gezielt darauf vorbereiten können. Ich sehe nicht die Gefahr einer Beeinflussung, einer subjektiven Beeinflussung durch solche Art Kenntnisse. Hingegen würde ich eine Charakteristik der Persönlichkeit einer Wertung in meinem geführten Sinne nicht für günstig halten, da ich darin die Gefahr sehe, dass bestimmte Eigenarten, bestimmte Dinge schon unter diesem Blickwinkel einer Fahndung charakteristisch, Charakteristik gegeben werden und so Fehler auftreten können. Ich bin schon der Meinung, dass man sich die Charakteristik einer Persönlichkeit selbst erarbeiten muss, dass man sie verinnerlicht haben muss um wirklich, äh, sich zuverlässig darauf stützen zu können.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Musik]
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