Die DDR im Blick der Stasi 1971
Das Jahr 1971 war für die SED einschneidend: Im Mai vollzog sich der einzige Machtwechsel vor dem Herbst 1989.
Dr. Ronny Heidenreich, Quelle: BArch
Das Jahr 1971 war für die SED einschneidend: Im Mai vollzog sich der einzige Machtwechsel vor dem Herbst 1989. Unter dem neuen Generalsekretär Erich Honecker stieg Staatssicherheitsminister Erich Mielke in das Politbüro auf. Der Historiker Ronny Heidenreich, Mitarbeiter im Editionsprojekt "DDR im Blick der Stasi", erläutert Hintergrunde zum Machtwechsel entlang der Berichte der Stasi an die SED-Führung: Es gab Warnungen vor der wachsenden Unzufriedenheit über die Versorgungslage aber auch eine hochgeheime Einschätzung zur Wahl Honeckers durch Erich Mielke.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu Folge Nummer 72. Ich bin Maximilian Schönherr, Freund von Archiven und vertraut mit den Originaltönen, auch hier im Stasi-Unterlagen-Archiv, aber auch zum Beispiel im Deutschen Rundfunkarchiv. Meine Co-Hostin ist Dagmar Hovestädt. Sie leitet die Abteilung Vermittlung und Forschung im Bundesarchiv / Stasi-Unterlagen-Archiv.
Dagmar Hovestädt: Heute geht es um Stasi-interne Akten aus dem Jahr 1971, genauer gesagt um die Berichte aus diesem Jahre 1971 der sogenannten Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe, kurz ZAIG, der Stasi. Diese Berichte gingen ausschließlich an die Staats- und Parteiführung und waren streng geheim. Wem das jetzt vertraut vorkommt - gut aufgepasst! Wir berichten ja immer mal wieder über diese Berichte in einem Jahreskontext, denn seit über 10 Jahren arbeitet unser Forschungsbereich diesen Bestand an Dokumenten der Diensteinheit der ZAIG in einer wissenschaftlichen Edition auf.
Maximilian Schönherr: Empfehlung: Folge 67 in unserem Podcast. Da ging es um das Jahr 1959 - auch ein sehr spannendes Jahr.
Dagmar Hovestädt: Und wir haben 2021 schon mal das Jahr 1983 mit zwei Zeitzeugen bei einer Veranstaltung vorgestellt. Das basierte auch auf einem ZAIG-Band. Jedenfalls heißt diese Edition "Die DDR im Blick der Stasi".
Maximilian Schönherr: Diese Berichte sind in der Edition jahrgangsweise zusammengefasst und kommentiert. Das ergibt eine spannende Binnenansicht der DDR, quasi eine Art Chronik von 1953 bis 1989. Basis für die Berichte ist ja das, was die vielen Stasi-Offiziere im Lande bei ihren Beobachtungen und Bespitzelungen der Bevölkerung und in den Betrieben zusammengetragen haben. Historisch interessant ist dann, was sie der SED-Führung berichten und wie sie das tun. Auch die Edition über das Jahr 1971 bezieht sich nur auf die ZAIG-Akten. Der größte Teil des Buchs besteht aus ausgewählten Dokumenten, die Ronny Heidenreich nach seiner Sichtung des gesamten Jahres fand. Um diese Dokumente wissenschaftlich kommentieren zu können, recherchierte er umfassend die Geschichte der Zeit. Seine Einleitung setzt die Aktenlage in einen Zusammenhang mit der politischen Lage in der DDR im Jahr 1971.
Dagmar Hovestädt: Ronny Heidenreich ist ein Historiker, der sich sehr intensiv auch mit der Frühgeschichte des BND beschäftigt hat, also des Bundesnachrichtendienstes. Darüber sprecht ihr kurz im Gespräch. Er ist seit zwei Jahren nun im Forschungsbereich des Stasi-Unterlagen-Archivs im Bundesarchiv tätig.
Maximilian Schönherr: Für mich persönlich war das Jahr 1971 nicht so wichtig wie 1972, weil da der Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossen und ich als Schüler bei einer Klassenfahrt nach Berlin mit dem Thema konfrontiert wurde. Das Thema war, ob man überhaupt mit dem Unrechtsstaat DDR verhandeln sollte, ob das nicht einer Anerkennung der DDR als Staat gleichkäme. Viele sprachen damals gar nicht von Staat, sondern nur von der Ostzone. Es gab aber auch Mitschüler und Mitschülerinnen in meiner Klasse, die bei den politischen Veranstaltungen, meistens CDU-Veranstaltungen übrigens, die man uns in West-Berlin vorsetzte, eindeutig Position für die DDR bezogen - tolle Kinderbetreuung und so weiter. Da ging ein regelrechter Riss durch meine Klasse und das verbinde ich mit diesem Jahr 1972. In der DDR selbst war 1971 das viel wichtigere Jahr.
Dagmar Hovestädt: Aber darüber gehen wir jetzt nicht weiter ins Detail, denn das ist Inhalt deines Gespräches mit Dr. Ronny Heidenreich.
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Maximilian Schönherr: Ich spreche mit Ronny Heidenreich. Wir hatten Anfang 2020 schon mal korrespondiert miteinander. Da hatte ich gefragt, was Sie mir noch Näheres über Clemens Laby sagen können. Clemens Laby war so ein Top-Spion des Gehlen-Dienstes zur Gründungszeit der Bundesrepublik. Er hat öfter in Prozessen, die in der DDR dann wichtig wurden, seine Finger drin gehabt, darin wurde er erwähnt und der BND hat mir damals gesagt: "Den kennen wir überhaupt nicht", obwohl sie den kennen mussten. Woran das liegt? Da will ich jetzt mal nichts unterstellen. Haben Sie irgendwelche Connections zum BND?
Dr. Ronny Heidenreich: Zum BND direkt nicht. Allerdings war ich seinerzeit Mitarbeiter der Historikerkommission des Bundesnachrichtendienstes und habe mich dort mit der DDR-Spionage der Pullacher beschäftigt. Und natürlich, Clemens Laby ist eine der zentralen Figuren in der Frühzeit des Gehlen-Dienstes, die in Richtung DDR gearbeitet haben. Und unter anderem der ja auch Ihnen bekannte Fall Elli Barczatis, ist ganz untrennbar mit der Person Clemens Laby verbunden.
Maximilian Schönherr: Wir erzählen heute nicht über diesen Fall von 1955. Elli Barczatis wurde, genauso wie ihr Geliebter Karl Laurenz, 1955 hingerichtet. Nur mal kurz: Warum fand ich auf meine Anfrage von außen Clemens Laby bei denen nicht. Ich bekam also wirklich einen Bescheid: Wir kennen den nicht.
Dr. Ronny Heidenreich: Das kann ich nicht beantworten, da ich nicht weiß, wie die Mitarbeiter des BND damals entschieden haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Zeit einfach noch nicht reif war, die Akten rauszugeben. Und dass es wirklich dann erst unsere Arbeit, also die Arbeit der Kommission, gebraucht hat und auch ein bisschen öffentlichen Druck, dass der BND gesagt hat: Okay, das sind historische Unterlagen und die stehen jetzt auch der Forschung zur Verfügung.
Maximilian Schönherr: Das heißt, es wäre sinnvoll, wenn man die Anfrage noch mal stellt?
Dr. Ronny Heidenreich: Auf jeden Fall. Auf jeden Fall würde ich das probieren, in der Hoffnung, dass die Unterlagen, die wir benutzt haben, dann auch anderen Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stehen. So weit sollte der BND heute sein.
Maximilian Schönherr: Als wir damals, 2020, korrespondierten über Clemens Laby, haben Sie noch nicht beim Stasi-Unterlagen-Archiv gearbeitet. Wo war das?
Dr. Ronny Heidenreich: 2020 war ich beim Berliner Aufarbeitungsbeauftragten beschäftigt und bin dann im Mai letzten Jahres, 2021, zum Stasi-Unterlagen-Archiv gekommen und seitdem Mitarbeiter im ZAIG-Projekt, über das wir ja heute reden werden.
Maximilian Schönherr: Genau. ZAIG steht noch mal wofür?
Dr. Ronny Heidenreich: ZAIG ist die Abkürzung für die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe, also praktisch die Nachrichtenzentrale des MfS, wenn man es kurz fassen will.
Maximilian Schönherr: MfS ist das Ministerium für Staatssicherheit und ZAIG entstand aus dem Trauma des 17. Juni 1953.
Dr. Ronny Heidenreich: Genau. Und die ZAIG war nicht nur ein Berichtsformat, sondern eine Organisationseinheit innerhalb der Staatssicherheit, die tatsächlich dafür zuständig war, den Nachrichtenfluss, also die Informationen, die das MfS gesammelt hat, auszuwerten und dann nach bestimmten Verteilern bestimmten Leuten zugänglich zu machen. In erster Linie natürlich der SED-Führung, dem Politbüro und dem Zentralkomitee der SED.
Maximilian Schönherr: Wir sprechen heute über den ZAIG-Band von 1971. Das war ein einschneidendes Jahr. Ich zitiere mal aus Ihrem Text. Erster Satz: In der Geschichte der DDR war 1971 eine Zäsur. Kann man nicht sagen, 1972 war auch eine Zäsur? Oder 1969? Also, war das Jahr 1971 was ganz Besonderes?
Dr. Ronny Heidenreich: Auch wenn es vielleicht im Rückblick nicht so wirklich als eine Zäsur erscheint, aber ja, das war es definitiv, weil 1971 sich der einzige Machtwechsel vor der friedlichen Revolution vollzog. Das heißt, Walter Ulbricht, der erste und langjährig amtierende Staats- und Parteichef, musste zurücktreten und wurde durch Erich Honecker ersetzt, der dann bis 1989 sozusagen als erster Mann in Staat und Partei die Geschicke der DDR lenkte. Und dieser Machtwechsel 1971 konnte natürlich auch nicht ohne Auswirkungen auf die Staatssicherheit bleiben, sodass diese politische Entscheidung größere Auswirkungen auf die Staatssicherheit hatte und insbesondere auch auf das Berichtswesen. Insofern war es extrem spannend, sich genau diesen Jahrgang jetzt anzuschauen.
Maximilian Schönherr: Viele Akten?
Dr. Ronny Heidenreich: Sehr viele Akten, wie immer, allerdings wenig Berichte. Das war überraschend. Wir haben 1971 rund 120 innenpolitische Berichte, die das MfS schreibt. Das ist im Vergleich extrem wenig. Um das zu verstehen, muss man sagen: Die ZAIG hat nicht nur innenpolitische Berichte, mit denen wir uns im Projekt beschäftigen, geschrieben, sondern auch außenpolitische Berichte. Das heißt, im Jahr kommt da so Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre so 1.000, 1.200 Berichte im Jahr zusammen, die dann abgegeben werden. Der innenpolitische Anteil ist aber ausgerechnet in dem Jahr, in dem Ulbricht zurücktreten muss und Honecker der neue starke Mann wird, verschwindend gering. Und wir haben uns natürlich gefragt, wieso. Woran liegt das? Und worüber berichtet die Stasi dann eigentlich in diesen wenigen Berichten, die wir kennen?
Maximilian Schönherr: Und?
Dr. Ronny Heidenreich: Zunächst erscheint das alles völlig unverdächtig. Wir haben, wenn man so auf die ZAIG-Berichterstattung schaut, gibt es so Konjunkturen. Das heißt, so 1953/1954 - nach dem Volksaufstand - fängt man mit Stimmungsberichterstattung an, dann geht es in den 50er-, 60er-Jahren sehr stark um Sabotage und Wirtschaftsprobleme. Fluchten sind natürlich immer ein großes Problem und sonstige aus Sicht des MfS sicherheitsrelevante Informationen, die man mit der SED teilen wollte oder musste. Und 1971 fügt sich, wenn man auf die Berichtsfelder schaut, das ziemlich ein. Wir haben so ungefähr 20 Berichte über Fluchten, wir haben ungefähr einen gleich großen Anteil über Wirtschaftsprobleme. Wir haben ganz, ganz wenige Stimmungsberichte, das ist ein bisschen erstaunlich. Und wir haben ansonsten noch ziemlich viel Berichterstattung über Zwischenfälle, Verkehrsunfälle, Havarien, Großbrände usw., also Sachen, die man aus den anderen Jahrgängen auch schon kennt.
Maximilian Schönherr: Also, ein Jahr zuvor, 1970, gab es in Polen Demonstrationen für den sogenannten Ostblock, also sehr heftig. Und das führte auch zu Veränderungen dort in der Parteistruktur. Hat das Auswirkungen gehabt auf 1971 in der DDR?
Dr. Ronny Heidenreich: Das konnte nicht ohne Auswirkung bleiben. Also das, was 1970 in Polen passiert, ist, dass eine Versorgungskrise dazu führt, dass ein Teil der Parteiführung zurücktreten muss, einschließlich des Ersten Generalsekretärs. Und das ist natürlich etwas, das auch Walter Ulbricht durchaus wahrgenommen hat und auf das die Staatssicherheit und die SED reagieren mussten. Das Erstaunliche ist, dass das MfS diese Probleme im Blick hat. Also, die DDR befindet sich strukturell in einer ähnlichen Lage wie in Polen. Das heißt, man hat in den 60er-Jahren - maßgeblich von Ulbricht vorangetrieben - eine Modernisierung der Wirtschaft versucht, weitgehend mit Liberalisierung, was dazu führte, dass die Konsumgüterproduktion zurückging und es eine Versorgungskrise gab, also genau wie in Polen Ende 1970. Und das MfS sieht die Gefahr, gerade vor dem Eindruck der Ereignisse in Polen, dass das auch in der DDR möglicherweise oder potenziell systemgefährdend oder machtgefährdend werden könnte. Das Erstaunliche ist, dass das MfS darüber nicht mit Ulbricht spricht, sondern die wenigen Berichte, die dazu geschrieben werden, die gehen an Erich Honecker und Erich Honecker ist zu diesem Zeitpunkt bereits - ein offen erklärter, ist ein bisschen zu viel gesagt in diesen Konstellationen - ein Kritiker Ulbrichts, der seit Monaten daran arbeitet, den alten Staats- und Parteichef abzusetzen, um unter anderem auch eine Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik herbeizuführen mit dem Ziel, durch verstärkte Sozialmaßnahmen sich die Loyalität der Bevölkerung zu erkaufen und damit die Herrschaft der SED und auch seine Herrschaft dann zu stabilisieren. Also, insofern ist es tatsächlich erstaunlich, dass Walter Ulbricht seit dem Frühherbst 1970 über die innenpolitische Lage, insbesondere über die Wirtschaftslage und über die Versorgungslage, vom MfS nicht mehr informiert wird.
Maximilian Schönherr: Klingt fast nach Drahtzieher: Mielke, der Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, der Ulbricht, dem inzwischen schon ziemlich alten Staatschef, einfach Informationen vorenthält. Oder wollte der Ulbricht dieses sowieso nicht lesen? Könnt ja auch sein.
Dr. Ronny Heidenreich: Das können wir leider mit dem, was wir hier haben, nicht abschließend beurteilen. Aber der Eindruck drängt sich auf jeden Fall auf, dass Mielke - nolens volens - es einfach so gehandhabt hat, sich frühzeitig auf die Seite der Kritiker zu schlagen, die Ulbrichts Absetzung wollten, unter anderem und vor allem auch, weil sie die Wirtschaftspolitik für verfehlt hielten. Ein zweiter großer Streitfall zwischen dem Ulbricht- und dem Honecker-Flügel, wenn man sie so bezeichnen möchte, war auch die Deutschlandpolitik. Also, Ulbricht als jemand, der auch gegen Moskauer Widerstände versucht, diesen Annäherungskurs zwischen beiden deutschen Staaten voranzutreiben, Honecker als jemand, der davon überhaupt nichts hält, damit sich in Übereinstimmung mit der Moskauer Führung weiß, und auch Mielke, der aus der Logik seines Apparates heraus und ein mehr oder weniger offen erklärter Gegner dieser Annäherungspolitik ist, weil er in den Augen der Staatssicherheit - und das ist erklärte Politik in diesen Jahren: die Öffnung gegenüber dem Westen - potenziell herrschaftsgefährdend ist und das MfS sich bemüht, sowohl die SED davon zu überzeugen, dass man dort eher kleinere Schritte geht und natürlich bemüht ist, eine umfassende Überwachung der Kontakte, die nun plötzlich möglich werden müssen, sicherzustellen. Das heißt, es gab für Mielke eigentlich ziemlich viele gute Gründe, sich gegen Ulbricht zu stellen. Ob und in welcher Form er das offen getan hat, jenseits dessen, dass wir das an den Berichten ablesen können, das können wir zurzeit nicht abschließend beantworten.
Maximilian Schönherr: Aber wie können Sie aus den Berichten lesen, dass das nicht an Ulbricht geschickt wurde. An dem Verteilerkopf?
Dr. Ronny Heidenreich: Genau. Man sieht es an den Verteilern und an den Postausgangsbüchern. Die ZAIG - oder die Poststelle der ZAIG - hat ausführlich dokumentiert, wer welchen Bericht bekommen hat. Das war schon aus Gründen der Sicherheit im Selbstverständnis der Staatssicherheit wichtig, um nachvollziehen zu können, wo welche Informationen liegen, die ja alle geheim gestempelt waren und nicht weitergegeben werden durften, also Geheimhaltungsvorschriften und -unterlagen, wie das in allen Geheimdiensten üblich ist. Insofern sieht man sehr schön, wer mit wem über welche Themen gesprochen hat. Und das lässt natürlich auch Rückschlüsse darüber zu, welche Wirkungsmächtigkeit diese Stasi-Berichte eigentlich überhaupt hatten, jenseits des Umstandes, dass sie geheim gestempelt waren und an die SED gingen. Aber es ist schon sehr interessant, darauf zu schauen: Wer redet hier mit wem über was.
Maximilian Schönherr: Weiß man denn - das ist jetzt nur eine kurze Frage in Klammern -, ob die überhaupt gelesen wurden? Also, wenn Honecker jetzt der Adressat war, einer der Adressaten: Hat er es gelesen? Gab es irgendeine Rückmeldung, eine Quittung quasi?
Dr. Ronny Heidenreich: Das ist genau eine Frage, die sich Mielke bezeichnenderweise Ende 1970 stellt, zum ersten Mal, soweit wir das sehen in den Akten, und die ZAIG anweist, systematisch nachzuprüfen, welche Informationen im Apparat eigentlich darüber vorliegen, was mit den Berichten passiert, wer sie liest, und wenn sie gelesen wurden, ob man irgendwie sieht, was daran interessant war durch Streichungen, Anmerkungen oder sogar Rückfragen. Und diese Bestandsaufnahme, die Mielke anordnet, liegt dann so Anfang 1971 vor und ist erstaunlich. Trotz der Geheimhaltungsvorschriften, die das MfS erlassen hat, und dieser strikten Rückgabepolitik - das heißt, die Berichte waren in einer bestimmten Zeit zu lesen und dann zurückzugeben -, hat die ZAIG weder einen Überblick, auf welchem Wege die Berichte zugestellt wurden, noch ein Überblick darüber, wie viel von den Berichten wiedergekommen ist, und schon gar kein Überblick darüber, was mit den Berichten inhaltlich passiert ist. Und es gibt damals einen Verteilerkreis von ungefähr 50 Personen, die diese Stasi-Berichte bekommen, und am Ende stellt sich raus: Es gibt nach dem, was man an Information vorliegen hat, praktisch nur fünf Leser, die überhaupt offensichtlich regelmäßig sich mit den Berichten auseinandersetzen. Dazu gehören Honecker und einige Leute, die man dem Honecker-Flügel zurechnen kann in dieser Zeit. Dazu gehört auch Ulbricht, der allerdings eher die außenpolitischen Berichte liest und weniger die innenpolitischen Berichte. Und man muss auch feststellen, dass man doch in vielen Fällen überhaupt gar keine Information hat, weil die Berichte zwar rausgeschickt wurden, aber es nie eine Art von Rückmeldung gab und damit auch die Berichte nicht wieder an die Staatssicherheit zurückgingen. Das heißt, das Bild, das sich dann Anfang 1971 für Mielke abzeichnet, ist ambivalent. Einerseits die wichtigen Leute, die aus seiner Wahrnehmung wichtigen Leute wie Honecker, lesen die Berichte, darüber hinaus allerdings ist es schwer zu beurteilen, was eigentlich die Wirkung dieser ZAIG-Berichte ist, die abgesetzt werden. Und das ist nicht nur in der Zentrale so, sondern die ZAIG fragt dann auch in den Bezirken nach, sie fragt in den Kreisen nach. Und dort ergibt sich immer wieder das gleiche Bild.
Maximilian Schönherr: Ich will mal gerade die Protagonisten, nur Männer übrigens, aufzählen, die hier in dieser 1971er Gemengelage die wichtige Rolle spielen, und zwar um ihr Alter festzustellen. Mielke, der Stasi-Chef, ist geboren 1907, Honecker ist geboren fünf Jahre später, ist also jünger. Ulbricht ist viel älter, nämlich 1893 geboren. Und dann gibt es noch einen Namen, den wir bisher nicht erwähnt haben, der quasi mit in der Konkurrenz stand zu Honecker, und das ist Willi Stoph. Der ist geboren 1914, auch in Berlin so wie Mielke, das heißt, der ist der Jüngste von allen. Warum kam Willi Stoph nicht an die Macht, sondern es blieb bei Honecker? Wegen Honeckers herzlicher Verbindung - kann man fast schon sagen - zu Mielke?
Dr. Ronny Heidenreich: Genau. Dass Honecker und Mielke ein inniges Verhältnis hatten, das wissen wir vor allem aus den späten 70er-, 80er-Jahren. Also, es ist ein bisschen immer noch eine Forschungsfrage, wie dieses Verhältnis 1971 schon aussah. Aber es deutet viel darauf hin, dass Honecker und Mielke auch schon zu diesem Zeitpunkt ein sehr enges Verhältnis hatten. Unter anderem schon allein deshalb, weil Honecker ja als Sekretär für Sicherheitsfragen innerhalb des Parteiapparates für die Stasi verantwortlich war. Also, das heißt, die beiden kannten sich seit Jahren von Berufs wegen, wenn man so will. Ob Stoph ein Nachfolger hätte werden können anstelle von Honecker, das ist auch eine Frage, die ein bisschen unbeantwortet bleiben muss. Zeitgenössisch ist es so, dass vor allem auch in der Westpresse sehr stark darüber spekuliert wird, ob Stoph, der ja 1970 bei den Begegnungen mit Willy Brandt in Erfurt und dann in Kassel [betont: der] Repräsentant der DDR war, nicht aufgrund dieser herausgehobenen Funktion damals doch designierter Nachfolger werden könnte. Die Stasi-Unterlagen liefern uns einen kleinen Hinweis darauf, dass es eventuell tatsächlich eine Option Stoph gegeben haben könnte, und zwar insofern, als dass Erich Mielke für Honecker persönlich nach der erzwungenen Abdankung von Walter Ulbricht ein Stimmungsbild anfertigen lässt. Und da werden ganz verschiedene Meinungsäußerungen wiedergegeben, meistens zustimmend, aber natürlich auch ein bisschen kritisch. Und unter diesen kritischen Stimmungsäußerungen taucht ganz unvermittelt die Einlassung auf, dass man sich in der Bevölkerung erzähle, es gebe innerhalb der SED-Führung Fraktionskämpfe. Namentlich Stoph sei jemand, den man für einen würdigen Nachfolger halten würde. Und das ist eine Information, die taucht sonst nirgends auf. Ich habe sie ja auch in den Parteiberichten, also den Berichten, die die SED selber aus ihren Untergliederungen aus der ganzen Republik bekommen, nicht gefunden, sondern nur dort. Und dann habe ich mir die Frage gestellt, was da dran ist, und bin dann in den Unterlagen des Parteiapparates über einen Vorgang gestolpert, der wie folgt aussah: Ein Mitarbeiter von Willi Stoph war 1969 über Rumänien in den Westen geflohen. Und dieser Mitarbeiter Stophs wird dann im April 1971, als im Westen die Spekulation über eine Ablösung Ulbrichts auch ins Kraut schießen, von der Welt sozusagen als Kronzeuge präsentiert für die Machtkämpfe in Ostberlin. Und für Willi Stoph ist das natürlich eine ziemliche Katastrophe insofern, als dass er sich jetzt gegenüber seinen Kollegen im Politbüro und ZK schriftlich erklären muss, was es mit diesem Fall auf sich hat, und eingestehen muss, dass er den Geheimnisverrat durch das Überlaufen seines engen Mitarbeiters praktisch nicht habe verhindern können. Und das wiederum ist aber eigentlich ein Sicherheitsfall, für den das MfS zuständig gewesen wäre. Also, eigentlich wäre es an Mielke gewesen zu erklären, was es damit auf sich hat, wieso es überhaupt hätte passieren können. Aber das passiert nicht. Und die Sache ist insofern auch noch mal ein bisschen merkwürdig, weil das MfS 1969 von der Flucht wusste, allerdings es auch 1969 unterlassen hatte, die SED-Führung über diesen Vorfall zu informieren. Das heißt, das deutet ein bisschen darauf hin, ausgelöst durch die Pressekampagne im April 1971 im Westen, dass Willi Stoph unmittelbar in den kritischen Tagen vor der Absetzung von Walter Ulbricht, die ja bekanntermaßen am 3. Mai dann offiziell stattfand, von Honecker noch mal in die Schranken gewiesen wurde, indem man ihm praktisch nachgewiesen hat, dass er oder sein Apparat unzuverlässig arbeiten und damit als neuer starker Mann in der SED praktisch auch ausscheiden würde. Und das sind unter anderem - da komme ich noch mal auf den Anfang zurück - gewisse Parallelen auch zum Fall Elli Barczatis. Auch da gibt es ja 1955, als die Aburteilung dann auch im Westen publik wird, Spekulationen, ob nicht damals Otto Grotewohl, der genau wie Stoph ja Ministerpräsident war, möglicherweise innerhalb der SED-Führung durch diesen aufgedeckten Spionagefall diskreditiert werden sollte. Also, insofern gibt es da einige Parallelen zwischen beiden Fällen, ohne dass man abschließend sagen kann, wie sie einzuordnen und zu bewerten sind. Aber es gibt Hinweise darauf.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Maximilian Schönherr: Hing Walter Ulbricht an der Macht? Wurde er kalt abgesägt?
Dr. Ronny Heidenreich: Nein. Der Machtkampf zwischen Honecker und Ulbricht dauerte schon ein paar Jahre. Die endgültige Entscheidung, Ulbricht tatsächlich abzusetzen und Honecker als Nachfolger zu installieren, ist nach allem, was wir wissen, auch relativ kurzfristig gefallen. Das definitive Einverständnis der sowjetischen Führung, ohne die so ein Schritt nicht umzusetzen war, lag erst im April 1971 vor. Was man aber auch sieht, ist, dass Ulbricht schon 1970 die Gefahr einer Palastrevolution erkannt hat und versucht hat, Honecker schon im Sommer 1970 abzusetzen - damals als Chef des ZK-Apparates -, aber dann die sowjetische Führung verfügt hat, dass Honecker in Amt und Würden bleibt. Das heißt, diese Geschichte hatte einen längeren Vorlauf. Und auch dann der nächste Höhepunkt unmittelbar zum Jahresende 1970, als auf dem ZK-Plenum im Dezember Ulbricht, also Ulbricht schon in Person, über den Umweg seiner Wirtschaftspolitik, öffentlich auch erstmals in der Kritik steht und man dann auch sieht, dass es innerhalb der SED-Führung keineswegs so einmütig zugeht, wie das im Neuen Deutschland präsentiert wurde, sondern da durchaus schon Richtungskämpfe zu verzeichnen waren.
Maximilian Schönherr: Wenn Ulbricht, der ja außenpolitisch seine Prioritäten setzte und für eine Annäherung zum Westen war, jedenfalls mit Gesprächen, und Stoph dann vielleicht vorgeschickt hat - wie auch immer, jedenfalls hat Willi Stoph diese Kontakte mit Willy Brandt damals gemacht -: Wie kommt es, dass dann Honecker übernimmt, der im Prinzip gegen diese Annäherung ist, und trotzdem in dem Jahr 1971 so - in Anführungszeichen - "tolle" Sachen passieren zwischen West und Ost? Nämlich: Es bahnen sich die Ostverträge an, das Vier-Mächte-Abkommen, das Transitabkommen. All das läuft in 1971 eben auch parallel, und das, obwohl der neue Staatschef eigentlich nicht dafür ist. Wie geht das zusammen?
Dr. Ronny Heidenreich: Das lässt sich ganz einfach beantworten. Honecker war nicht der Mann, der das entschieden hat. Entschieden wurde das in Moskau. Einen Konflikt zwischen Ulbricht und Moskau gab es unter anderem bei der Zeitpunkt- und Schwerpunktsetzung, die man bei der Annäherung der beiden Blöcke setzen sollte. Also, Ulbricht agierte, um es schlicht zu sagen, einfach zu eigenständig. Honecker war jemand, der sich streng an die Vorgaben aus Moskau gehalten hat und den von Moskau - gerade 1971 - gewünschten zurückhaltenden Kurs auch absolut umgesetzt hat. Das Erste, was Honecker nach seinem Machtantritt auch öffentlich verkündet, ist, dass die DDR eng zur Sowjetunion hält und natürlich eine absolute Abgrenzungspolitik gegenüber der Bundesrepublik verfolgt, ganz im Gegensatz zu dem, was Ulbricht immer an vorsichtigen Annäherungsversuchen öffentlich bekannt gegeben hat.
Maximilian Schönherr: Ich finde besonders interessant an dieser Buchreihe und auch an Ihrem 1971er Band, dass man aus dem Kleinteiligen der Akten auf das Große schließen kann. Zum Beispiel, was wir am Anfang erwähnt haben: dass Ulbricht bestimmte Nachrichten von ZAIG gar nicht bekommt, Honecker aber schon, obwohl Honecker noch gar nicht an der Spitze ist. Also, da merkt man, wie Strippen gezogen werden. Das kann man jetzt fester oder lockerer interpretieren, aber jedenfalls geht es ungefähr in diese Richtung. Ich will jetzt mal eine spezielle--, damit unsere Hörerinnen und Hörer auch mitkriegen, was in diesem Buch für Akten sind. Man kann übrigens das Buch runterladen, man kann es aber auch gegen eine Schutzgebühr kaufen. Ich gehe mal auf eine Sache vom 23. Juli 1971 ein, und zwar Verteiler. Darüber haben wir vorhin auch gesprochen. Im Verteiler sind Stoph, über den wir gerade sprachen, Mittag, Schürer, Kleiber, Weiß, Steger und Sölle und dann im MfS auch noch ein paar Leute, die das lesen sollten. Da geht es darum, dass-- Ich zitiere: "Über die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten am Elektronischen Buchungsautomaten (EB) im VEB Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt, die dabei in der Vergangenheit entstandenen Hemmnisse und die im Rahmen eingeleiteter Untersuchungsmaßnahmen erkannten leitungsmäßigen Versäumnisse der Generaldirektion des VEB Kombinat Zentronik wurden dem MfS bekannt. Die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten am EB - also dem Elektronischen Buchungsautomaten - wurden im Juli 1970 nach siebenjähriger Dauer aufgrund einer Entscheidung des Ministers für Elektrotechnik und Elektronik abgebrochen."
Dr. Ronny Heidenreich: [zustimmend: Mh, mh.] Zehn, fünfzehn Seiten, ja.
Maximilian Schönherr: Warum darf die DDR das nicht weiterbauen? Warum wurde das abgesägt? Ein Buchungsautomat war ja quasi so eine elektronische Registrierkasse, also ein Vorgänger eines PCs.
Dr. Ronny Heidenreich: Genau, aber schon ein bisschen mehr automatisiert als eine Registrierkasse. Da ging es wirklich dann um die Anfänge der Computerisierung. Zunächst hat das MfS behauptet, das sei so. Grosso modo geht es um folgendes Problem: Die DDR hat sozusagen die Verpflichtung gegenüber der Sowjetunion übernommen, bestimmte Programme im Bereich der Elektronisierung zu entwickeln und zu übernehmen. Dann stellt man 1971 plötzlich fest: Im Westen gibt es bessere Technik und - schlimmer noch - die Sowjets sind bereit, diese Technik zu kaufen, sodass die eigenen Entwicklungsprogramme, die hinterherhängen, ein bisschen obsolet werden. Das MfS versucht, gerade in diesem Bericht, den Schwarzen Peter den Wirtschaftsfunktionären zuzuschieben, indem man zum einen sagt: Wir haben Hinweise darauf, dass die mit der Entwicklung und der Vermarktung dieser Forschungsvorhaben betrauten Mitarbeiter Westkontakte haben. In Zweifeln behauptete das MfS sogar nachweisen zu können, dass dort Dinge in den Westen verschoben wurden. Zum anderen werden die Außenwirtschaftsunternehmen kritisiert, die nicht in der Lage sind, ordentliches Marketing dafür zu machen und die Sachen - gerade namentlich in Moskau - an den Mann zu bringen. Zum Dritten werden die Entscheidungen des Wirtschaftsapparates, also in den Ministerien, kritisiert, die diese Planvorgaben, wie das hier offiziell hieß, unzureichend umgesetzt hätten. Ende der Geschichte ist: Der Buchungsautomat kommt dann doch irgendwann, in modifizierter Form. Also, das MfS hat mit der Einlassung, dass das abgebrochen worden sei, nicht ganz recht. Wenn man das in einem breiteren Kontext sieht, ist das vielleicht auch noch eine Nachwirkung der Ulbricht'schen Modernisierungspolitik der 60er-Jahre, weil gerade Computerisierung, also überhaupt die Modernisierung der DDR-Wirtschaft durch neue Rationalisierungsmaßnahmen, Einsatz von Technik und so weiter--
Maximilian Schönherr: Kybernetik auch.
Dr. Ronny Heidenreich: Kybernetik, exakt - etwas war, worauf Ulbricht einen großen Schwerpunkt gelegt hat, zulasten anderer Industriezweige, die Honecker für wichtig hielt. Insofern, genau. Der zweite Punkt ist, dass natürlich diese Programme nicht unmittelbar mit dem Machtantritt von Honecker abgestoppt wurden durch ein Dekret, sondern das waren Aushandlungsprozesse, die da stattfanden und die am Ende dann schon dazu führten, dass bestimmte Bereiche, die Ulbricht sehr geschätzt hat, nicht weiterverfolgt wurden, sodass man diesen Bericht auch noch ein bisschen als eine Auswirkung der Abkehr von der Ulbricht'schen Wirtschaftspolitik sehen kann, wenn es auch im Detail hier um Fragen geht, die von technisch Sachverständigeren als mir beurteilt werden müssten.
Maximilian Schönherr: Ist es ein Bericht?
Dr. Ronny Heidenreich: Es ist definitiv ein Bericht, genau.
Maximilian Schönherr: Es geht in diesem ZAIG-Bericht durchaus um die Ost-West-Verbindungen. Also, es geht da zum Beispiel um die Kooperation zwischen Nixdorf und Astra-Werken und so weiter. Ich zitiere noch mal einen Satz daraus: "Durch das Fehlen des EB - also des Elektronischen Buchungsautomaten - begann bereits seit 1968 das Vertriebsnetz des VEB Buchungsmaschinenwerk Karl-Marx-Stadt im [fragend: NSW]--
Dr. Ronny Heidenreich: Nichtsozialistischen Ausland, also im Westen.
Maximilian Schönherr: -zu schrumpfen, das bis zu diesem Zeitpunkt eine große Stabilität im Absatz von DDR-Erzeugnissen besaß."
Dr. Ronny Heidenreich: In diesen MfS-Berichten - so mein Eindruck - steckt auch immer eine gewisse Interpretation und damit letztendlich auch eine Handlungsempfehlung für die Leser, wie mit diesem Problem umzugehen sei, gerade im Wirtschaftsbereich. Das sagt Mielke auch auf einer zentralen Dienstkonferenz im März 1971 - auch sehr erhellend, gerade weil die Wirtschaft halt in dem machtpolitischen Gefüge des Jahres immer eine große Rolle spielt, weil es halt diese Flügelkämpfe gibt - hinter verschlossenen Türen zu seinen Mitarbeitern: Ich weiß, dass das, was wir hier in der Wirtschaft tun, diese kleinteilige Überwachung - wir schauen in Betriebe rein, wir schauen uns das Verhalten von Funktionären an, wir kritisieren das, wir geben das weiter nach oben, damit dort Dinge abgestellt werden, die aus unserer Sicht nicht richtig laufen - umstritten ist, nicht nur innerhalb des eigenen Apparates, sondern offensichtlich auch - darauf bezieht er sich explizit, leider ohne Namen zu nennen - von außen. Das heißt, dieses Hineindirigieren des MfS in die Wirtschaft war etwas, das 1971 offensichtlich ein Streitfall war zwischen der Regierung, dem Parteiapparat und dem MfS, führt aber dann nicht dazu - das sehen wir an den Berichten -, dass das MfS die Finger davon lässt, sondern dieser Wirtschaftsschwerpunkt zieht sich in den 70er-Jahren durch, tritt dann aber bezeichnenderweise in den 80er-Jahren, um das mal ein bisschen weiter auszugreifen, in den Hintergrund. Da werden dann andere Berichtsfelder wie die Beobachtung von Opposition und Kirche sehr viel wichtiger.
Maximilian Schönherr: Ja. Während die Kirchen 1971 überhaupt keine Rolle spielen.
Dr. Ronny Heidenreich: So gut wie gar keine. Es gibt fünf, sechs Kirchenberichte und die gehen auch nicht an die SED-Führung, sondern die gehen an die zuständige ZK-Abteilung, also innerhalb des Parteiapparates die Abteilung, die sich mit den Kirchen beschäftigt. Das heißt, das sind praktisch Arbeitsunterlagen, denen nicht mal das MfS eine große politische Relevanz beigemessen hat.
Maximilian Schönherr: Finden Sie in den ZAIG-Akten Dinge über das Transitabkommen, also vor allem die Erleichterung für Westbürger, über die Transitautobahn nach Westberlin zu fahren? Findet sich darüber oder über das Vier-Mächte-Abkommen irgendwas, wie das in der Bevölkerung resoniert?
Dr. Ronny Heidenreich: Nein. Man findet 1971 bezeichnenderweise weder etwas über den ersten großen Parteitag, als Honecker sozusagen seine ersten programmatischen Grundsatzreden hält, etwas, das ihn durchaus interessiert haben dürfte.
Maximilian Schönherr: VIII. Parteitag.
Dr. Ronny Heidenreich: Der VIII. Parteitag, genau. Man findet weder etwas über das Transitabkommen noch über das Vier-Mächte-Abkommen. Das scheint offensichtlich keine Rolle gespielt zu haben. So legen das die Berichte nahe. Wir wissen aber aus dem Hintergrundmaterial, dass das MfS natürlich sehr viele Personalressourcen und Zeit darauf verwendet hat, genau diese Vorgänge zu beobachten. Warum dann letztendlich aber kein Bericht daraus geschrieben wurde, das war auch eine Frage, die wir versucht haben zu beantworten. Es scheint ein bisschen so, dass das MfS diese ganzen Überwachungsmaßnahmen ohnehin mit dem SED-Parteiapparat abgestimmt hat. Also, die waren während dieser entscheidenden Phasen miteinander in Kontakt, sodass die MfS-Informationen möglicherweise über den Parteiapparat schon an Honecker und andere führende Funktionäre ging und man keinen eigenen Bericht mehr geschrieben hat. Das lässt sich aber nicht abschließend beantworten. Aber es bleibt bezeichnend, dass sich zu diesen großen, gerade für Deutschland und international wichtigen Ereignissen 1971 in der ZAIG so gar nichts darüber findet.
Maximilian Schönherr: Auch über die Beliebtheitsskala von zum Beispiel Stoph, Honecker, Ulbricht oder Mielke oder Brandt. Brandt war offenbar in der DDR - jedenfalls bei meinen Verwandten - ziemlich beliebt wegen dieser Öffnungsversuche, dieser Annäherungen, die er gemacht hat, und wegen des Kniefalls in Polen. Darüber findet man nichts in ZAIG?
Dr. Ronny Heidenreich: Stimmungsberichterstattung ist 1971 etwas, das so gut wie gar nicht vorkommt. Es gibt zwei, drei Stimmungsberichte, eigentlich nur einen wirklichen, und zwar den über den Machtantritt von Honecker und die Abdankung von Ulbricht, als das MfS tatsächlich versucht zu ergründen: Wie ist die Stimmung im Lande eigentlich? Insofern spielt diese Berichtsform, die Anfang der 50er ja praktisch das Tagesgeschäft der Stasi gewesen ist, 1971 keine große Rolle. Und dass 1971 überhaupt dieser Bericht über die Abdankung von Ulbricht geschrieben wurde, dürfte damit zusammenhängen, dass Honecker ganz persönlich ein Interesse daran hatte, genau das zu erfahren. Was man nämlich aus den Unterlagen sieht, ist, dass Honecker aus seinem Apparat, aus den Bezirken, Berichte bekommen hat, dass es durchaus ein bisschen kritische Stimmen gab, dass es Unverständnis gab über den Zeitpunkt und auch die Form, in der Walter Ulbricht zurücktreten musste, und Honecker dann unmittelbar - unmittelbar -, nachdem er der neue Generalsekretär wird, Mielke bittet, dort tätig zu werden und mit den Quellen des MfS nachzuschauen, wie die Stimmung im Lande ist. Um es kurz zu machen: Mielke bestätigt, dass es Kritik gibt, aber die ist letztendlich vernachlässigbar und die Mehrheit der Bevölkerung steht hinter dem neuen starken Mann an der Spitze der SED. Was tatsächlich auch nicht ganz falsch sein dürfte, weil man darf auch nicht vergessen: Honecker war 58, Ulbricht war 77. Also, Ulbricht stand sozusagen für eine "alte" DDR und durchaus gab es einem großen Teil der Bevölkerung auch Hoffnung, dass mit Honecker eine neue Phase in der DDR anbrechen würde, mit ein bisschen mehr Offenheit, Weltläufigkeit, was sich ja dann Anfang der 70er-Jahre auch in den Weltfestspielen 1973 ein bisschen abzuzeichnen scheint.
Maximilian Schönherr: Hat sich denn die - sagen wir mal - Freundschaft zwischen Mielke und Honecker auf Mielkes Karriere ausgewirkt? Er war ja zum Beispiel noch nicht im Politbüro.
Dr. Ronny Heidenreich: Ja, definitiv. Auch deshalb ist 1971 so ein wichtiges Jahr, auch für die Staatssicherheit. Mielke steigt als Kandidat in das Politbüro auf. Das heißt, er war noch nicht Vollmitglied. Darauf muss er noch fünf Jahre warten, aber er hat zum ersten Mal Zugang zum inneren Führungszirkel der SED. Der Aufstieg von Erich Mielke zum Kandidaten des Politbüros war etwas, das für das MfS 1971 von großer Bedeutung war. Das war etwas, das seit dem Rücktritt seines Vorvorgängers, Wilhelm Zaisser, der 1953 abtreten musste, nicht mehr möglich war. Ganz praktisch hatte das die Auswirkung, dass Erich Mielke jetzt Zugang zu den Tagesordnungspunkten - ganz schlicht den Tagesordnungspunkten - der Politbüro-Sitzungen hatte. Das heißt, Mielke wusste jetzt aus erster Hand: Was wird dort besprochen, welche Themen interessieren. Und was Mielke dann natürlich auch tut, ist, dieses Material sofort an die ZAIG weiterzugeben. Da werden Ende 1971, Anfang 1972 neue Informationswege etabliert mit der Maßgabe, an die ZAIG Informationen einzuholen, die mutmaßlich auf den Politbüro-Sitzungen behandelt werden und dort von Interesse sein könnten. Das heißt, der Gestaltungsspielraum für die Staatssicherheit, Einfluss auf die Entscheidungen des Politbüros zu nehmen, ist mit der Aufnahme Mielkes in diesen Führungszirkel erstmals wieder gegeben. Und die spannende Frage mit Blick auf die nächsten Jahre wird tatsächlich jetzt sein, inwiefern Mielke von dieser Möglichkeit Gebrauch macht, um das MfS sozusagen stärker auch im politischen Entscheidungsprozess der DDR zu verankern. Weil das ist ja etwas, das hatte er ja Anfang des Jahres gesehen durch diese Bestandsaufnahme, die gemacht wurde. Das ist etwas, das auch für Mielke eher so im Graubereich gelegen haben dürfte. Man wusste, er war gut gelitten bei Honecker, man wusste aber nicht, wie es in der übrigen SED-Führung und in der Regierung aussah. Das ändert sich mit seiner Aufnahme in das Politbüro.
Maximilian Schönherr: Die Ostverträge waren dann ein Jahr später und da war ich mit meiner Schulklasse - ich glaube, das war in der 10. oder 11. Klasse, Gymnasium - in Westberlin und wir wurden dann vorwiegend vor CDU-Leute gesetzt und die haben uns erklärt, dass die Ostverträge ganz schlecht für uns sind. Das war in der SPD-Regierung damals, Willy Brandt eben. Ist der Band über 1972 schon in Arbeit?
Dr. Ronny Heidenreich: Das darf ich verraten: Ja, er ist in Arbeit. Es wird der nächste Band sein, der - wenn alles gutgeht - Ende 2023, Anfang 2024 dann auch erscheinen wird. Also, ich sitze gerade dran.
Maximilian Schönherr: Und die letzte Frage: Haben Sie bei diesen Berichten - das sind ja, ich weiß jetzt nicht, wie viele da sind: als Faksimile einige, aber transkribiert sehr viele - einen, der Ihnen wirklich eine totale Neuigkeit beschert hat? Ein Beispiel?
Dr. Ronny Heidenreich: Wenn man das so sagen darf: Meine Lieblingsgeschichte ist der wahrscheinlich größte Edelmetallraub in der Geschichte der DDR - im Berliner Metallhüttenwerk -, der Ende 1971 erst durch eine Denunziation eines leitenden Mitarbeiters, direkt an Honecker gerichtet, ins Rollen kommt.
Maximilian Schönherr: Direkt an Honecker, also nicht über Mielke?
Dr. Ronny Heidenreich: Nein, nein, nein. Nicht über Mielke, sondern da schreibt jemand aus der Planungs- oder Wirtschaftsabteilung direkt an Honecker: Ich weiß, dass hier seit Jahren Dinge verschoben werden und in den Bilanzen gibt es Diskrepanzen von mehreren Millionen Mark. Honecker lässt dann eine Untersuchung einleiten und im Rahmen dieser Untersuchung gerät das MfS ein bisschen in Bedrängnis, weil es nämlich nicht nur so ist, dass Planziffern gefälscht wurden, sondern weil aus diesem Metallhüttenwerk in Dimensionen auch Platin und Gold verschwunden ist. Und dieses Platin und Gold - das musste das MfS dann einräumen - ist nicht nur verschwunden, sondern wurde wahrscheinlich auch an westliche Geheimdienste verkauft. Zu allem Überfluss stellt sich dann raus - aber das berichtet das MfS dann nicht mehr, das steht in dem Bericht nicht drin -, dass der Dieb, wenn man so will, ein guter Bekannter des Mielke-Stellvertreters Bruno Beater ist und für diesen mehrere Jahre gearbeitet hat, und Beater, also der Mielke-Stellvertreter, auch gewusst hat, dass dieses Platin entwendet und an westliche Geheimdienste verkauft wird. Man bereinigt diesen Fall dann stillschweigend, weil der Mann halt nicht nur mit dem MfS und mehreren westlichen Geheimdiensten verbandelt war, sondern sehr wahrscheinlich auch als Waffenhändler für einen sowjetischen Militärgeheimdienst zugange war, und die Sache dann sozusagen im Zuge der Amnestie 1972 offiziell durch eine Begnadigung beendet werden kann. Und dieser harmlose ZAIG-Bericht, der erst mal sehr unverfänglich daherkommt - da fehlt ein bisschen Platin und es gibt Differenzen in den Abrechnungen -: Wenn man da ein bisschen dahinterschaut, was ich dann gemacht habe, war ich ein bisschen überrascht, was da alles hinter so einem ZAIG-Bericht noch stecken kann.
Maximilian Schönherr: Ja, und man hat zwei Leute verhaftet und zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, die die kleinen Fische waren.
Dr. Ronny Heidenreich: Genau.
Maximilian Schönherr: Herr Heidenreich, was machen Sie heute noch?
Dr. Ronny Heidenreich: Was ich heute noch mache? Ähm, wir bereiten - das darf ich, glaube ich, in diesem Rahmen auch schon erzählen - eine Sonderedition zum Volksaufstand 1953 vor, wo es nicht nur darum geht, wie die Staatssicherheit die Erhebung wahrgenommen hat, sondern auch, was die SED darüber gewusst hat, die Volkspolizei und nicht zuletzt die westlichen Geheimdienste, also Verfassungsschutz, damals die Organisation Gehlen und der Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst. Insofern ist das ein neues spannendes Projekt, das dann im Frühjahr nächsten Jahres - vielleicht auch in diesem Rahmen - näher vorgestellt werden kann.
Maximilian Schönherr: Und was machen Sie daran konkret heute Nachmittag? Lesen?
Dr. Ronny Heidenreich: Die letzten Überarbeitungen an dem Manuskript vornehmen, das dann ans Lektorat geht und dann sozusagen in die Endphase der Fertigstellung übergeht.
Maximilian Schönherr: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Dr. Ronny Heidenreich: Sehr gerne.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war Dr. Ronny Heidenreich, Bearbeiter des Bandes über das Jahr 1971 aus der Edition "Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung". Der Band ist im Oktober 2022 erschienen und enthält eine zentrale Auswahl an Dokumenten. Ein Jahr später werden alle Dokumente des Jahrgangs dann auch online gestellt, nämlich auf der Webseite zum Editionsprojekt.
Maximilian Schönherr: Die hat die URL, also die Internetadresse www.ddr-im-blick.de.
Dagmar Hovestädt: Dort sind bereits 13 Jahrgänge zu finden. 1959 und 1971 werden im Laufe des Jahres 2023 freigeschaltet. Bis dahin sind sie, wie alle anderen Bände auch, über den Verlag Vandenhoeck & Ruprecht zu beziehen.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet wie immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Die Hauptabteilung XIV mit Dienstsitz in Berlin-Hohenschönhausen war unter anderem für die Sicherung und Durchführung des Untersuchungshaft- und Strafvollzuges im MfS zuständig. Ausgehend von einer behaupteten ständigen Bedrohung waren Schulungen notwendig, die auch mittels Dia-Ton-Vorträgen erfolgten. Zwei Ausschnitte eines Tones zu einem solchen Dia-Ton-Vortrag geben einen einerseits akustischen Eindruck zur allgemeinen Gefahrenlage und andererseits zum Umgang damit. Von den 219 Minuten mit mehreren Fassungen hören wir drei.
[Archivton Beginn]
[Ausschnitt 1]
[Sprecher:] Ausgehend von der gegenwärtigen Klassenkampfsituation und den Tendenzen terroristischer Aktionen in der Welt muss auch in Zukunft mit Versuchen terroristischer Angriffe gegen Personen und Einrichtungen in der DDR gerechnet werden. Eine wesentliche, nicht zu unterschätzende Gefahrenquelle sind in diesem Zusammenhang vor allem die imperialistischen Geheimdienste und der von ihnen gesteuerte Terrorismus. Im Rahmen seiner gegen die DDR gerichteten feindlichen Konzeptionen sind verstärkt Aktivitäten gegen die staatliche Ordnung und Sicherheit sowie gegen staatliche Einrichtungen und besonders in letzter Zeit gegen die Untersuchungshaft- und Strafvollzugseinrichtungen zu erkennen. In seinem differenzierten Vorgehen gegen die Untersuchungshaftvollzugseinrichtungen, so auch gegen die des MfS, geht der Feind davon aus, [verzerrte Stimme aufgrund technischer Störung: dass sich in diesen Vollzugseinrichtungen] Personen konzentrieren, die ihren feindliche beziehungsweise negative Grundeinstellung zur sozialistischen Gesellschaft bereits offenbart haben, und er hofft, mit diesen Kräften in der von ihm angestrebten Richtung wirksam zu werden.
[Ausschnitt 2]
[Sprecher:] Angriff und Abwehr erfolgt mit MPi. Angriff mit der eigenen Waffe blockieren und die Waffe des Gegners aus der Angriffsrichtung schieben. Kolbenschlag zum Kopf.Achtens: Demonstrationen. Fesselung der Hände und Füße unter Zuhilfenahme einer MPi. Abtransport des Gefesselten. Fesselung der Hände und Füße mit Sicherungsschlinge am Hals. Fesselung der Hände mit Sicherungsschlinge am Hals. Fixierung und Halten eines Gegners durch zwei Personen. Fixierung und Halten eines Gegners in der Rückenlage. Anlegen einer Schließfessel. Die angelegte Schließfessel. Die angelegte Schließfessel auf dem Rücken. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel bei Widerstandsleistung. Das Führen einer Person mit angelegter Schließfessel bei Widerstandsleistung unter Zuhilfenahme der Führungskette.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."