Florian Lipps Publikation "Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR" (externer Link)
Florian Lipps Publikation "Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR" auf der Webseite des Waxmann Verlags.
MehrDagmar Hovestädt und Florian Lipp, Quelle: BArch / Hovestädt
Als in den späten 1970er Jahren ein neues Musik-Phänomen namens Punk auftauchte, hatte die Stasi ihre üblichen Analyseinstrumente geschärft. Wie schon zuvor der Rock und Beat galt ihr auch der Punk als eine "westliche Strategie", die Jugend vom sozialistischen Kurs abzubringen. Der Musikwissenschaftler Florian Lipp hat die Geschichte des Punk in der DDR erforscht und dabei interessante Binnenansichten zur späten DDR formuliert.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zu einer neuen Folge. Ich bin Dagmar Hovestädt und leite hier die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Mein Co-Host hier im Podcast ist der Rundfunkjournalist Maximilian Schönherr.
Maximilian Schönherr: Heute sprechen wir über eine Dissertation, also eine Doktorarbeit, die den Titel trägt: "Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR: Akteure – Konfliktfelder – musikalische Praxis". 2021 erschienen, 582 Seiten – ein detailreiches Eintauchen in eine Musikform des Anti-Establishments, nämlich den Punk, der in der DDR Wurzeln fasst, und wie staatliche Institutionen und natürlich insbesondere die Stasi diesem Phänomen begegneten.
Dagmar Hovestädt: Das Gespräch mit Florian Lipp, der zehn Jahre an dieser Arbeit gesessen hat, hat mir sehr viel Spaß gemacht. Das liegt sicherlich am Thema, weil das Aufeinanderprallen des Punk auf die Gesellschaft eigentlich überall für Zoff sorgte, aber natürlich in einer autoritären und diktatorischen Gesellschaft wie der DDR sich das noch mal potenzierte. Zudem ist Florian Lipp Musikwissenschaftler und Historiker und damit wirft er einen etwas anderen Blick auf die Materie.
Maximilian Schönherr: Wie und wo habt ihr euch für dieses Podcast-Gespräch getroffen?
Dagmar Hovestädt: Ich saß in meinem Büro mit Aufnahmegerät und Mikrofon und Florian Lipp in einem Landhaus bei der Familie. Deshalb hört man hin und wieder auch Vögel zwitschern und auch am Ende ein ganz leises Klavierspiel. Aber wo genau das war, habe ich nicht gefragt.
Maximilian Schönherr: Ich würde gern für die Hörerinnen und Hörer, die mit Punk-Musik wenig verbinden, diesen Musikstil und die damit verbundene Weltanschauung kurz erklären: Es fing mit dem Erfolg der Sex Pistols an. Diese englische Band hat Mitte der 1970er-Jahre die Rockmusik-Szene komplett aufgemischt, ungefähr so heftig wie zehn Jahre früher die Beatles, die Rolling Stones, Led Zeppelin, Deep Purple und so weiter, mit denen die DDR und das Ministerium für Staatssicherheit auch ihre Probleme hatten. Anfang der 1970er-Jahre war die Musik sehr brav geworden. Als typische Stilrichtung hatte sich der Jazzrock herausgeschält, mit sehr ausgefeilten Tonart- und Rhythmus-Strukturen. Die Sex Pistols dagegen sangen nicht, sie brüllten, sie spielten die Gitarren mit möglichst leeren Saiten, also in e-Moll, und mit extremer Verzerrung, vor allem aber: schnell. Einer ihrer wichtigsten Köpfe, Sid Viscious, spielte so schlecht Bass, dass man ihn bei Studioaufnahmen durch einen Profi ersetzen musste.
Dagmar Hovestädt: Punk war der Ausdruck für ein Lebensgefühl, das mit einer extremen Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen einherging. Darüber geht es kurz im Gespräch. Auch die sehr hohe Arbeitslosigkeit im England der 1970er-Jahre, die heruntergekommenen Innenstädte der USA in jener Zeit - all das gab jungen Menschen ein "No future"-Gefühl, das sie mit Punk auslebten. Wie die DDR damit umging, steht im Mittelpunkt unseres heutigen Gesprächs.
Maximilian Schönherr: Lass uns ein paar Begriffe vorab klären. An einer Stelle sprichst du von ZAIG-Berichten.
Dagmar Hovestädt: Ja, das sind die Berichte, die die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe der Stasi, also abgekürzt ZAIG, verfasste. Diese Berichte gingen als geheime Berichte an die Staats- und Parteiführung und wurden aus den Informationen, die auf Kreis-, Bezirks- und Ministeriumsebene gesammelt wurden, zusammengestellt. Wir bringen diese Sammlung auch in einer Edition heraus unter dem Titel "Die DDR im Blick der Stasi", die man auch online nachschlagen kann.
Maximilian Schönherr: Dann erwähnt Florian Lipp die AWA-Listen.
Dagmar Hovestädt: Das sind Listen, die beim Plattenauflegen in den sogenannten Tanzlokalen erstellt wurden. Anhand dieser Listen wurde auch kontrolliert, ob zu viel Westmusik oder sogar auch Punk gespielt wurde. AWA heißen diese Listen, weil die AWA - also A-W-A - die "Anstalt zur Wahrung der Aufführungs- und Vervielfältigungsrechte auf dem Gebiet der Musik" in der DDR war, also sowas wie die GEMA im Westen. Und darüber haben wir uns ja schon mal unterhalten: dass diese Listen eben auch dazu führen, dass man Gebühren für Westmusik abführen musste, wenn man sie öffentlich aufführte, und dadurch auch ein finanzieller Druck auf Westmusik lag.
Maximilian Schönherr: Ich glaube - aber leg mich bitte nicht fest -, das war Folge 40 unseres Podcasts, wo es um ein Konzert von Bruce Springsteen in der DDR ging. Und ihr unterhaltet euch darüber, welche Archive die Punk-Bewegung eigentlich verwahren. Und in dem Kontext erwähnt Florian Lipp das "Archiv der Jugendkulturen". Das ist ein eingetragener Verein in Berlin, der auch Zeitschriften, Kassetten und Flyer der Punk-Bewegung in der DDR und vieles mehr sammelt und für Besucher zur Verfügung stellt.
Dagmar Hovestädt: Und dazu gehören auch Mitschnitte der in der DDR weit verbreiteten Jugendradio-Sendung "DT64", die wir in dem Gespräch erwähnen. Das war die Jugendwelle des staatlichen DDR-Rundfunks, benannt nach dem Deutschland-Treffen der Jugend – also D.T.- das die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, im Jahr 1964 organisierte.
Maximilian Schönherr: Weißt du, was an dem Treffen so besonders war?
Dagmar Hovestädt: Das musste ich tatsächlich erst mal nachschauen. Also, diese Deutschland-Treffen gab es tatsächlich nur dreimal in der Geschichte der DDR. Sie waren als gesamtdeutsche Treffen von jungen Menschen konzipiert. Das konnte 1950 und 1954 auch so geschehen, mit Beteiligung aus Ost und West, aber dann beim dritten Mal, im Mai 1964, war die Mauer schon gebaut und damit wurde es eben auch schwieriger für das dritte und letzte Deutschland-Treffen, als gesamtdeutsche Angelegenheit zu bestehen. Aber für dieses Deutschland-Treffen 1964 wurde vom Rundfunk der DDR ein Sonderstudio eingerichtet mit dem Namen "DT64", das ein Jugendprogramm ausstrahlte. Und weil das doch recht erfolgreich war, nicht zuletzt auch, weil es Musik aus dem Westen spielte, wurde aus dem Sonderstudio ein eigenes Radioprogramm, das bis zum Ende der DDR eben Musik für junge Leute machte.
Maximilian Schönherr: Florian Lipp spricht in eurem Gespräch das Wort "Sampler" an. Das ist ein Begriff, der damals bedeutete - also im Wesentlichen, er hat auch andere Bedeutungen gehabt -, aber er bedeutete: Auf einer Schallplatte befinden sich Songs von mehreren Bands einer Stilrichtung, in dem Fall also Punk-Bands. In dem Zusammenhang fällt auch der Begriff "Amiga". Das war das offizielle DDR-Schallplattenlabel für, sagen wir mal, die Unterhaltungsmusik, im Gegensatz zu "Eterna", worüber die Einspielungen klassischer Musik verbreitet wurden.
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Dagmar Hovestädt: Florian Lipp, sind Sie selbst eigentlich ein Fan von Punk und New Wave?
Florian Lipp: Ich würde mal sagen: begrenzt. [lacht] Also, ich fand das auf jeden Fall immer spannend. Ich bin Jahrgang 1980, also meine popkulturelle Sozialisation hat sich hauptsächlich über Nirvana und alles, was danach kam, abgespielt-
Dagmar Hovestädt: Grunge.
Florian Lipp: -und da war Punk dann schon im ich weiß nicht wievielten Revival, was einem natürlich auch bewusst war. Aber ich muss sagen, auch insbesondere jetzt während der Arbeit mit der Dissertation: Bestimmte Sachen so aus der New-Wave-Ecke, die man dann vielleicht noch mal neu entdeckt hat, oder vieles aus den Achtzigern noch mal neu entdeckt hat, finde ich auf jeden Fall spannend und war gut, aber ich war jetzt selbst nie Punk oder eingefleischter Fan.
Dagmar Hovestädt: Und wie kommt man dann trotzdem darauf, sich das wissenschaftlich anzusehen?
Florian Lipp: Es gab ein paar biografische Bezüge. Also, ich bin selbst im Westen geboren und dort aufgewachsen, hatte aber in meiner Hamburger Zeit zum Beispiel den einen oder anderen Mitbewohner, der in der ehemaligen DDR groß geworden ist, hatte dann vielleicht mal ein paar Sachen in die Hand gedrückt bekommen und dann hat sich das im Laufe des Studiums mehr oder weniger so entwickelt. Ich habe Systematische Musikwissenschaft und Historische Musikwissenschaft studiert und hatte einen großartigen Professor dort, der dann auch Doktorvater für die Dissertation war: Friedrich Geiger, der als einen seiner Schwerpunkte "Musik in der Diktatur" hat. Und darüber kam dann eins zum anderen, dass dieses Thema sich als außerordentlich reizvoll und am Ende auch sehr ergiebig erwiesen hat. Und so kam es dann letzten Endes zu der Dissertation. Also, da kamen mehrere Fäden zusammen am Ende.
Dagmar Hovestädt: Wie so oft. Es ist ja richtig in einer Reihe erschienen: "Musik und Diktatur". Also, das ist für ihn so ein Schwerpunkt, dass man den unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten sehen kann, ne? Er schreibt, was Musik für Funktionen haben kann: in der Diktatur als systemstabilisierend, aber eben auch Artikulationsform von Dissidenzakten.
Florian Lipp: Richtig. Und dann gibt es eben noch, sage ich mal, ganz unterschiedliche Formen von Musik, die in einer Diktatur auch ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Ich meine, momentan laufen auch wieder Diskussionen zu zum Beispiel russischen Künstlern und deren Verhältnis zum dortigen Herrschaftsapparat, sage ich mal. Und letzten Endes finde ich, diese Fragestellungen, also "Welche Funktion erfüllt Musik in so einem sozialen System generell, aber insbesondere unter Diktaturbedingungen? Wie gestalten sich diese Verhältnisse zu Gesellschaft und Macht dort? Wie wird das rezipiert? Wird das gefördert oder wird das eher behindert?", außerordentlich spannend, weil eins ist, glaube ich, ziemlich klar: Sobald man sich in einem System bewegt, das eben diktatorische Züge hat oder eine Diktatur ist, gibt es in der Regel wenig Bereiche, in denen das nicht in irgendeiner Form kontrolliert oder gefördert wird oder beides gleichzeitig, in dem Moment, in dem der Staat eben Kulturpolitik, also was ganz ganz Essenzielles, für sich begreift, während sich liberale Gesellschaften, sage ich mal, auch lange Jahrzehnte dadurch ausgezeichnet haben, dass an popkulturellen Phänomenen zum Beispiel auch einfach nur Desinteresse geherrscht hat und man sich ansonsten kulturpolitisch überhaupt nicht groß damit beschäftigte.
Dagmar Hovestädt: Na, und Punk ist ja - New Wave nicht ganz, aber so ähnlich - eher ein Ausdruck von super gesellschaftskritischer Haltung und von Ablehnung, ne? Sex Pistols' "Anarchy in U.K." - Die Anarchie, das Ablehnen gesellschaftlicher Strukturen ist ja per se sozusagen gar nicht mehr einbaubar in Gesellschaftsideen.
Florian Lipp: Ja, das zum einen. Und das finde ich jetzt in dem DDR-Kontext oder insgesamt im Kontext Sozialismus besonders spannend, weil das besonders am Anfang ja gemeinhin als eine antikapitalistische Bewegung interpretiert wurde, wo sich schon ganz früh dann die Frage gestellt hat: Was gibt es eigentlich für eine sozialistische Perspektive auf dieses Phänomen?
Dagmar Hovestädt: [lacht] Gibt es überhaupt sozialistischen Punk?
Florian Lipp: Genau. Gibt es den überhaupt und wie verhält es sich dann eben, wenn dieses Phänomen, das in der DDR-Presse Ende der Siebziger teilweise auch stillen Applaus bekommen hat, solange es im Westen stattfand,- Wie verhält sich so ein System dann, wenn diese Gesellschaftskritik eben auch auf dem Boden der DDR formuliert wird, gegen das dortige System und nicht nur mehr gegen die entwickelten Industriegesellschaften des Westens, wo man ja die Herkunft des Phänomens schon ganz klar verorten kann in USA und U.K., mitten in der Wirtschaftskrise und steigender Jugendarbeitslosigkeit.
Dagmar Hovestädt: Und neokonservativen Liberalismus-Ideen der Wirtschaft, die dem auch nicht gerade Abhilfe leisten, dass man Arbeitslosigkeit bekämpfen kann, ne?
Florian Lipp: Genau.
Dagmar Hovestädt: Sie haben das gerade schon mal als Stichwort genannt. Dann würde ich gleich sofort auch gerne in das Buch einsteigen. Nur kurze Vorbemerkung dazu: Es ist ja ein sehr umfängliches Buch. Es ist Ihre Dissertation und da haben Sie zwei größere einleitende Kapitel, die ein Stück weit das Feld der Musik dort aufmachen und dann eben auch die Kulturpolitik der DDR und die Musik ein bisschen herleiten. Das würden wir jetzt hier im Gespräch nicht weiter vertiefen, aber das ist zumindest für jemanden, der das grundsätzlich mal kennenlernen will, sehr hilfreich zu lesen. Dann haben Sie zwei größere Kapitel, die sich spezifisch mit der Musik und ihrer Entwicklung beschäftigen: 1976 bis 1984, also die Entstehung und das Ankommen des Punk in der DDR, und 1985 bis 1989. In dieser ersten Phase 1976 bis 1984 (Auftauchen und Überschwappen) - Sie haben das gerade schon erwähnt -, da nähert sich die DDR - und hier sogar auch das MfS, die Stasi - dem Phänomen Punk eher aus der Westbrille. War das etwas, was Sie entdeckt haben: dass das sozusagen für die Analyse, das Bewerten dieses Phänomens Punk, eine bestimmte Einstellung schon vorgestellt hat, dass die Stasi dies im Westen in der Auswertung der Medien wahrnimmt und das damit analysiert und versucht, auf die DDR irgendwie zu übertragen?
Florian Lipp: Für mich hat sich die Frage gestellt: Wenn man sowas wie Kulturtransfer betrachtet, worum es hier ja geht, dann gibt es eben nicht nur den Kulturtransfer - ich sage mal - der Subkultur auf die Jugendlichen, die das in der DDR adaptieren, sondern in dem Moment, in dem es sich um ein massenmediales Phänomen handelt, was Punk Ende der Siebziger dann ja war. Es gab "Der Spiegel"-Titelgeschichten über Punk. Wenn man sich die westdeutsche Berichterstattung anguckt, gab es Berichterstattung erst über die Punk-Szene, vorwiegend in England, in London, aber auch Imitation im Westen. Dann gab es Krawalle, Straßenschlachten mit der Polizei [belustigt], irgendwann Ausschreitungen, es wurde skandalisiert, es gab Skandale um Bands und so weiter und so fort. Und das wird natürlich dann nicht nur von Jugendlichen rezipiert, die dann die Musik adaptieren und die Kleidung, Haarschnitt, Mode, Fanzines [Anmerkung der Redaktion: Fan-Magazine], alles was dazugehört, sondern es gibt ja auch einen Blick der Gesellschaft auf dieses Phänomen, wenn diese Medien konsumiert werden. So, jetzt kann man vielleicht sagen: Okay, in der DDR gab es den Spiegel nicht zu kaufen. Man konnte aber auf jeden Fall über das Fernsehen Westmedien konsumieren, es gab einen Schwarzmarkt, es wurde viel unter der Hand gehandelt. Was speziell die Stasi natürlich gemacht hat: Die hat diese ganzen Westmedien immer ausgewertet, so wie das jeder Geheimdienst macht. Jeder Geheimdienst wertet Medien aus am Ende des Tages. Und meine Hypothese war, dass sich dadurch natürlich schon ein gewisses Bild einfach vorgeformt hat und das zum anderen dann eben auf dieselben Ressentiments stieß, die man schon in den Fünfzigern und Sechzigern mit Rock'n'Roll- und Beatbewegung, den Beatkrawallen in Leipzig und so weiter beobachten konnte. Und das ist natürlich insbesondere vor dem Hintergrund spannend, dass es sich ja um dasselbe Personal handelte. Die Führungsschicht im MfS hat sich ja zwischen Mitte der Sechziger, als die Auseinandersetzung mit der Beatbewegung stattfand, und den späten Siebzigern, Anfang der Achtziger überhaupt nicht groß geändert. Also, an der Spitze eigentlich so gut wie gar nicht.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, die Stasi-Offiziere, die das ja immer als Import und dann in dem Sinne auch als westliche Strategie der Unterminierung sozialistischer Jugend begreifen, sehen das nur als eine nächste Form des westlichen Versuchs an, die sozialistische Jugend vom Ziel abzubringen?
Florian Lipp: Das ist deren interner Sprachgebrauch, der eigentlich total unlogisch ist, wenn man sich anguckt, wie westliche Sicherheitsbehörden sich mit den Punks beschäftigt haben. Es gab Anfang der Achtziger einen großen Datenschutzskandal um die Chaostage in Hannover zum Beispiel. Wenn ich mich richtig erinnere, kam dabei heraus, dass die Polizei illegalerweise sogenannte "Punker-Karteien" angelegt hat und Punks im Westen auch nicht besonders was zu lachen hatten, was Sicherheitsbehörden anging. Und wie die Stasi zu dieser Interpretation kam, das wären Versuche des Westens, die eigene Jugend zu unterminieren, das scheint mir bis heute ziemlich rätselhaft. Also, es spricht eigentlich eher viel dafür, dass das so ein Sprachgebrauch ist, der sich schon relativ früh in der DDR entwickelt hat und dann einfach immer fortgeführt wurde. Aber in sich ist das eigentlich nicht schlüssig.
Dagmar Hovestädt: Ich wollte das gerne mal benennen, weil ich das schön finde, wie sozusagen die Punk-Bewegung in der Stasi-Sprache ankommt. Sie haben da ja die ZAIG-Berichte. Das Phänomen wird über die westlichen Zeitungen wahrgenommen, wird so eingeordnet, wie das in den Schlagzeilen skandalisiert wird, und dann wird berichtet aus allen Bezirken: "Ist der Punk schon angekommen in der DDR?" Also, die Nachahmung der Punkrock-Bewegung. Und der Punk wird beschrieben als eine "bewusste Verunstaltung der äußeren Erscheinung, verbunden mit fanatischer Verehrung von Rockgruppen des NSW", also des Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiets. Die "bewusste Verunstaltung der äußeren Erscheinung" gab der Stasi sicherlich ein Rätsel auf. Sie haben sich ja aber eigentlich als Musikwissenschaftler mit dem Thema beschäftigt. Da ist vielleicht der Blick auf das Ganze ein bisschen anders. Kann man das sagen?
Florian Lipp: Das hoffe ich zumindest. [belustigt] Also, was ich mir im Speziellen angeguckt habe, sind zum einen verschiedene Band-Karrieren, die je nachdem, ob sie in der ersten Hälfte der Achtziger stattfanden oder in der zweiten Hälfte der Achtziger, sehr unterschiedlich aussehen konnten. Ich habe meine Dissertation ganz grob so gegliedert, dass in der ersten Hälfte der Achtziger viele Bands eben mit äußerst harten Restriktionen belegt wurden, während man in der zweiten Hälfte der 1980er vermehrt beobachten kann, dass Punk-Bands, wenn sie sich in ihren Texten nicht allzu regimekritisch geben, auch von der FDJ gefördert wurden, im Radio liefen, auf Tour gehen konnten, nicht nur in der DDR, sondern zum Beispiel auch in Ungarn. Das fand ich eben spannend, wie sich das entwickelt hatte in der DDR, wie eben ein und dasselbe Phänomen in der ersten Hälfte und zweiten Hälfte der Dekade so eine unterschiedliche kulturpolitische Behandlung und Rezeption dort erfahren hat.
Dagmar Hovestädt: Kleiner Einschub von mir, die sozusagen die Punk-Bewegung auch biografisch miterlebt hat. Es hört sich auf ganz unterschiedliche Kontexte so an wie das, was ja im Westen letztendlich auch passiert ist: in Anführungsstrichen der "Ausverkauf" des Punks. New Wave war ja schon eine etwas gefälligere, mainstreamigere, in die Richtung Pop gehende und damit vermarktbarere und geldwerte Variante von Punk. Das ist auf eine andere Art und Weise dann ja auch passiert, also die Vereinnahmung in die bestehenden Kanäle. Also, wenn die FDJ, die Freie Deutsche Jugend, Punk-Konzerte unterstützt, dann ist der Punk schon nicht mehr der, der er mal irgendwann war, als er frisch entstanden ist.
Florian Lipp: Ja, genau. Das ist auf jeden Fall eine sehr gängige Hypothese und die ist auf den ersten Blick auch erst mal naheliegend. Ich hab dann intensiv dazu recherchiert und bin zu einem ein bisschen anderen Ergebnis gekommen letzten Endes, weil da doch sehr deutlich wurde, wenn man sich das Personal in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre in Jugendklubs anguckt: Bei FDJ-Kulturfunktionären auf der unteren und mittleren Ebene, aber eben auch Radiomoderatoren wie zum Beispiel Lutz Schramm, der eine ganz wichtige Rolle gespielt hat, da würde ich jetzt den allerwenigsten unterstellen, dass sie das Phänomen bewusst für die Zwecke der DDR vereinnahmen wollten. Ich fand es viel schlüssiger, dass man dort einfach auf Biografien trifft, die selbst popkulturell sozialisiert wurden, die einfach neue Musik spannend fanden. Bei den Jugenklubleitern könnte man auch sagen, da war bestimmt der ein oder andere Freak dabei, der dort einfach sein Ding gemacht hat. Und am Ende eben die AWA-Listen, also die Listen "Was wurde heute Abend gespielt?", was ja immer 60 Prozent DDR und sozialistisches Ausland und 40 Prozent westliche Musik sein durfte, die teilweise einfach gefälscht wurden, und es, glaube ich auch, in der DDR wirklich Leute gab, die dann einfach bewusst versucht haben, solche Eigengewächse zu fördern, genauso wie es in Westdeutschland auch die Jugendhausmitarbeiter gab, die eben ihren lokalen Bands da eine Bühne geboten haben.
Dagmar Hovestädt: Das ist ja Teil Ihrer These, dass es in der zweiten Hälfte oder in der zweiten Phase - 1985 bis 1989 - einfacher war, weil gesellschaftlich insgesamt Freiräume neu entstanden auf eine bestimmte andere Art. Ich habe zu der ersten Phase noch zwei Fragen, bevor wir in die zweite noch mal einsteigen. In dieser ersten Phase von 1976 bis 1984, die Sie ja als Krise, Politisierung, Eskalation und Repression beschreiben, also die etwas härtere Gangart, da gibt es so eine kulturelle Schranke, die für eine Band eine Rolle spielt, und die haben Sie sich ein bisschen genauer angeguckt, nämlich die sogenannten Einstufungskommissionen. Das muss man vielleicht mal kurz erklären, was das eigentlich ist und warum eine Punk-Band überhaupt irgendwie in Berührung kam mit sowas.
Florian Lipp: In der DDR war es so, dass bis auf Privaträume und kirchliche Räume eigentlich alle potenziellen Veranstaltungsorte entweder direkt oder indirekt in staatlicher Hand waren. Entweder wurden die Kulturhäuser von Betrieben oder der FDJ betrieben oder von anderen gesellschaftlichen Institutionen. Aber in der DDR konnte ich jetzt nicht einfach als Privatperson einen Musikklub aufmachen und dort spielen lassen, wen ich wollte. Das bedeutet auf der anderen Seite, dass man damals einfach da eine Instrument hat zu entscheiden, wer dort auftreten darf und wer nicht. In der DDR wurde das so gelöst, dass Bands, die legal öffentlich auftreten wollten, sich zuvor einem sogenannten Einstufungsverfahren unterziehen mussten. Das bedeutete, die Band musste vor einer kleinen Kommission aus Kulturfunktionären, Musiklehrern, Musikpädagogen, auch Musikwissenschaftlern und Parteifunktionären vorspielen. Dann gab es einen sehr standardisierten Bewertungsbogen, da wurden dann Punkte vergeben und wenn die Band - in Anführungsstrichen - "gut genug" war, hat sie diese Einstufung erhalten und darauf basierend dann die Spielerlaubnis, auch "Pappe" genannt in Musikerkreisen. Das war mehr oder weniger getarnt als - ich sage mal - Qualitätssicherung. Das ging so weit, dass basierend auf den Einstufungskriterien, wie gut die erfüllt wurden, dann auch der Stundenlohn, also die Gage, festgelegt wurde, ob ich dann als Musiker 6,50 Mark oder 8,50 Mark bekommen habe, Zuschläge jeglicher Art und so weiter und so fort. Und das war auch ein Instrument, um eine ziemlich strikte Separierung zwischen Amateurmusikern und sogenannten Profimusikern vorzunehmen. Die Amateure brauchten alle einen festen Arbeitsplatz und durften das dann quasi nur nach Feierabend betreiben - das war jedenfalls die Intention -, während die Profimusiker und eben auch die Rockmusiker, die das vollberuflich machen wollten, eben zuvor da noch ein Musikstudium absolvieren sollten und einen entsprechenden Abschluss. Da kann man sich vorstellen: Okay, bis die fertig studiert haben, ihr Studium abgeschlossen haben und dann eingestufter Profi-Rockmusiker sind, sind die wahrscheinlich schon mal wesentlich älter als Newcomer im Westen, sage ich mal. Auf der anderen Seite wird es dann natürlich in Bezug auf Punk richtig spannend, weil wer hauptberuflich Punk-Musiker sein möchte, wird wahrscheinlich eher kein Musikhochschulstudium antreten und wahrscheinlich erst mal auch wenig Lust und Laune verspüren, sich so einem Einstufungsprozedere zu unterziehen. Und das habe ich mir dann eben näher angeguckt mit sehr interessanten Fallbeispielen. Es gab Bands, die haben sich dem komplett verweigert, haben dann eben nur in Privaträumen oder auch in Kirchenräumen gespielt. Das ist auch eine interessante Konstellation. Es gab aber auch zu Beginn der Achtziger schon Bands, die da wesentlich pragmatischer erst mal vorgehen wollten, ganz oft dann aber an solchen Einstufungsverfahren gescheitert sind, weil zum Beispiel solche Kulturfunktionäre oder Musikwissenschaftler oder wer auch immer auf Betreiben der Stasi dann eben vorgefertigte Argumente vorgetragen haben wie: Ihr könnt leider noch nicht gut genug Gitarre spielen, aber wir bezahlen euch gerne zwei Jahre den Unterricht und dann könnt ihr es noch mal versuchen. Ein bisschen wie bei "Jugend musiziert".
Dagmar Hovestädt: Es gibt in dem Buch einige Fotos und eines ist von so einer Punk-Band, die dann bei irgend so einer Kommission vorspielt. Das ist echt ein toller Moment, der da so eingefangen ist, sich diesem Verfahren zu unterziehen. [belustigt] Das hat natürlich eine gewisse Absurdität, wenn man sich das alles so vorstellt, aber so waren die Verhältnisse und es war ja eine Kontrolle darüber, was zugelassen wurde, was akzeptiert war, was sich überhaupt in dem Sinne in der zugelassenen Öffentlichkeit artikulieren konnte. Jetzt sind Punk-Bands ja auch gern Garagen-Bands oder Hinterhof-Bands. Das gehörte ja auch ein Stück weit zur Authentizität dazu, dass man eben gerade nicht in dem jeweils akzeptierten, etablierten Kulturbetrieb funktionierte. Also, das gehört so ein bisschen noch mehr in diese Steuerungsphase, Repressionsphase. Die zweite Frage dazu ist natürlich die, was die Stasi dann besonders macht in der Phase der Repression, wenn man etwas verhindern, unterdrücken will: Sie versucht, Informationen zu sammeln und die Szene von innen heraus aufzulösen, zu unterminieren. Und da gehören natürlich die Inoffiziellen Mitarbeiter dazu. Das haben Sie sich genauer angesehen, auch eigentlich mit einem eher gemischten Ergebnis, kann man sagen, nicht? Sie haben ein paar Fallbeispiele über Versuche, IM zu gewinnen, mit denen zu arbeiten. Das ist nicht so einfach für die Stasi, mit den Punks ein gewinnbringendes Verhältnis zu schaffen.
Florian Lipp: Ja, das kann man so auf jeden Fall unterstreichen. Also, um vielleicht noch mal ein bisschen den Kontext zu geben: Dadurch, dass die Kirche eben einer der wenigen Orte war, aufgrund von engagierten Jugendpfarrern oder auch Jugenddiakonen, die aus heutiger Perspektive dort eher als Streetworker - das wäre vielleicht heute ein gängiger Begriff - fungierten, hatten sich dort für die Punks einfach gewisse Freiräume geboten, die auch genutzt wurden. Das mündete zum Beispiel darin, dass das erste Punk-Festival in der DDR 1983 in der Christuskirche in Halle stattfand, wo sich DDR-weit zum ersten Mal mehrere Bands getroffen haben und dort gespielt haben. Das Publikum ging jetzt nicht in die Tausende, das waren wahrscheinlich eher 200 Leute oder ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger, aber die Kirche war auf jeden Fall ein wichtiger Auftrittsort. Dadurch hat das aus Perspektive des MfS eine ganz andere Brisanz noch mal bekommen, weil die Kirche, insbesondere diese Jugenddiakone, die teilweise der anarchistischen, pazifistischen Strömung gefolgt sind, in der DDR eben der Feind schlechthin waren. Das war aus der Perspektive des MfS die DDR-Opposition schlechthin, das zieht sich ja auch mehr oder weniger weiter bis zum Ende durch. Dadurch sind die Punks vermehrt ins Blickfeld geraten. Dann gab es Auftritte, zum Beispiel im Rahmen der Blues-Messen, in denen Punk-Bands wie "Namenlos" Vergleiche zwischen MfS und SS in der Öffentlichkeit gezogen haben. Und darauf folgte dann von Mielke persönlich dieser Befehl "Härte gegen Punk", was auf der anderen Seite in vielen Inhaftierungen resultierte, es wurden Leute in den Westen abgeschoben regelrecht. Es wurde dann versucht, mehr IMs unter den Punks zu gewinnen. Und es wurde auch versucht, eben die Szene von innen heraus zu zersetzen. Andere Maßnahmen waren z. B. Einberufung zum Wehrdienst und noch einiges mehr. Was die IM angeht, die IM Gewinnung, würde ich auch sagen, das war insgesamt- also auf der einen Seite ist es natürlich erst mal überraschend, dass es unter Punkbands überhaupt IMs gab. Auf der anderen Seite muss man dazu sagen, das waren eben Jugendliche, 17, 18, teilweise auch erst 16, vielleicht Anfang 20, die nachweislich massiv unter Druck gesetzt wurden. Die auch versucht wurden, psychisch zu destabilisieren. Es gibt Richtlinien des MfS zu dieser IM Gewinnung unter Jugendlichen, die am Ende sogar in recht pseudohaften Doktorarbeiten an der juristischen Hochschule mündeten, aus denen einfach ganz klar ersichtlich ist, wie sehr man auch versucht hat, psychisch labile Jugendliche anzusprechen, massiv unter Druck zu setzen und dann eben für sich zu gewinnen. Auf der anderen Seite hat man auch das Phänomen, wie das so oft ist, dass sich eben Musiker auch regelrecht angedient haben, damit auch gutes Geld gemacht haben, sich von der Stasi haben bezahlen lassen und wirklich Übermaßen berichtet haben, ohne dass die Not ersichtlich wäre. Also wirklich nur um des eigenen Vorteils willen. Was man aber auch sehen kann, ist - ich habe das am Beispiel der Band "Planlos" versucht zu zeigen - wo quasi in verschiedenen Phasen eigentlich alle Bandmitglieder einmal angesprochen wurden. Oder zumindest vorgeladen wurden. Und am Ende aber niemand von denen mit der Stasi kollaboriert hat. Ohne das jetzt in der Folge zu erkennbaren Nachteilen, also erkennbare Nachteile in dem Sinne, die Diskriminierung war aufgrund des eigenen Punkseins auf jeden Fall schon vorhanden, es war aber nicht so jedenfalls in dem Beispiel, weil sie sich verweigert haben, als IM dort zu fungieren, dass daraufhin noch mal eine zusätzliche Strafe gefolgt wäre. Das konnte ich nicht feststellen. Also man konnte dort auch einfach Nein sagen in dem Moment.
Dagmar Hovestädt: Das kann man durchaus durch die Literatur, die Untersuchungen bis lang bestätigen. Es ist niemand bestraft worden, der Nein sagt. Man wurde nicht mal unbedingt bestraft worden, wenn man sich dekonspirierte, nachdem man Ja gesagt hat. Das ist immer in der Regel glimpflich abgegangen. Aber man wusste es einfach nicht, das war so ein bisschen das Problem. Man wusste nie die Konsequenz. Was ist die Konsequenz dieses Handelns? Sie haben ja, das beeindruckt an der Arbeit auch, nicht nur die vielen Quellen ausgewählt und ich geh davon aus, dass Sie in den Unterlagen des MfS feststellen konnten, dass jemand sehr ausführlich berichtet hat oder sich der Berichterstattung verweigert hat. Sie haben ja aber auch mit einigen Punks gesprochen oder ehemaligen, die in der Szene aktiv waren. Haben Sie da auch mit jemandem gesprochen, der als IM gearbeitet hat?
Florian Lipp: Nein, das habe ich ehrlicherweise nicht. Also, das hat sich so einfach nicht ergeben.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Dagmar Hovestädt: Dann würde ich jetzt noch mal zu der zweiten Phase kommen, die Sie beschrieben haben mit "Kontrollverlust, Liberalisierung, neue Toleranz oder Vereinnahmung", was wir eben schon mal ein bisschen angesprochen haben. Und da haben Sie die Kapitelüberschrift geschrieben, dass "das MfS die Kontrolle verliert". Das liest man natürlich gerne. [lacht] Aus meiner Perspektive zumindest. Was genau ist da passiert? Was meinten Sie damit?
Florian Lipp: Ich habe das versucht an dem Einstufungssystem zu beschreiben. Und vielleicht muss man dazu vorwegsagen, dass das MfS in der zweiten Hälfte der 80er auch einfach ganz andere Probleme irgendwann hatte. Also die Zahl der Antragssteller, die in den Westen ausreisen wollten, stieg und stieg. Mit Gorbatschows Machtantritt ist auch eine gewisse Konfusion innerhalb des Apparats zu beobachten, weil Dinge, die bis dorthin galten, über Jahrzehnte auf einmal ins Wanken gerieten und auch eine gewisse Orientierungslosigkeit einsetzt. Und zum anderen kann man eben auch sehen das der Druck von unten aufgrund schlechter Versorgungslage und so weiter immer größer wird. Genauso wie auch dieses Spannungsfeld der Öffentlichkeit mit der Sowjetunion, dass dort auf einmal bestimmte Sachen erlaubt sind, die in der DDR nicht erlaubt sind. Was eben zu der internen Diskussion führt. Wenn man jetzt zurück zu dem Einstufungssystem geht, kann man dort eben beobachten, dass es in der zweiten Hälfte der 80er mehr und mehr junge Funktionäre gab, Mitarbeiter in Kulturhäusern und so weiter und so fort. Die sich eben nicht mehr so dezidiert an die Vorgaben gehalten haben. Dort auch mehr und mehr ihre Freiräume ausgetestet haben. Es gibt ein schönes Fallbeispiel: Die Band mit dem Namen "Der Demokratische Konsum", bei der die Stasi über verschiedene Kanäle versucht hat die Einstufungskommision zu beeinflussen, dass sie keine Einstufung bekommen. Das hat alles nichts genutzt. Am Ende hat die Band doch eine Einstufung bekommen, auch wenn sie ihre Spielerlaubnis nie abgeholt hat am Ende des Tages. Was der Stasi aber diesen Machtverlust einfach vor Augen geführt hat. Was dann, konnte ich in dem Fallbeispiel nachweisen, am Ende dann bis hoch zu Schabowski eskaliert ist, der damals SED Bezirksleiter für Berlin war. Dann kann man, heute würde man sagen, wunderschönes Behörden-Pingpong nachvollziehen. Wo sich unterschiedliche Institutionen dann gegenseitig die Schuld geben, wie diese Band dort jetzt eben durchrutschen konnte - in Anführungsstrichen. Und das war eben nicht nur dieses eine Beispiel, sondern das die Stasi auch vermehrt feststellen musste, es gibt Jugendklubs, da treten jetzt eigentlich ständig Bands auf, die gar keine Spieleerlaubnis haben. Das ist jetzt nur ein ganz ganz kleiner Teil der DDR-Gesellschaft, führt aber dann doch ziemlich eindrücklich vor Augen, wie eben so ein schleichender Machtverlust einsetzt. Und eben Akteure, zumindest auf dieser unteren Ebene, immer mehr ihre Freiräume testen.
Dagmar Hovestädt: Das liest sich in dem Buch genau so, dass da zwischen den etwas "hardlinigeren" Stasi Leuten, die quasi der eigenen Lehre anhingen und der Partei, die an bestimmten Rändern liberaler wird oder offener wird, zumindest im Kulturbetrieb. Parallel sind ja trotzdem auch noch Menschen festgenommen worden, die demonstriert haben. 1988 im Januar bei der Rosa-Luxemburg/Karl-Liebknecht Demonstration. Es gab halt nach wie vor hartes Durchgreifen, auch von SED-Funktionären. Gleichzeitig gibt es in diesem Musikbereich eben Orte, wo sich das weiter ausdehnt. Und Sie machen ja auch eine Politbürobeschlusssituation 88 für eine weitere Liberalisierung im Kulturbereich verantwortlich.
Florian Lipp: Genau. Also in diesem Beschluss vom Anfang 1988 ging es darum, dass erkannt wurde, dass die Jugendarbeit der FDJ einfach überhaupt gar keine Erziehungskraft mehr hat. Das war meiner Interpretation nach eigentlich so der Ausgangspunkt. Und man eben Phänomene beobachten musste, wie einen aufkeimenden Rechtsradikalismus unter Jugendlichen. Der sich dann eben auch in diesem Überfall von Neonazis und Skinheads auf einem Konzert in der Zionskirche geäußert hat.
Dagmar Hovestädt: Das war 1987 im November?
Florian Lipp: Genau. Das war 1987. Was natürlich außerhalb der DDR medial verarbeitet wurde. Wozu viel publiziert wurde. Wodurch aber auch innerhalb der DDR ein gewisser Druck entstand. Wie kann das sein, dass es bei uns rechtsradikale Jugendliche gibt? Weil das Thema wurde einfach durchgehend tabuisiert über die Jahrzehnte. Und dann gab es eben noch diverse andere Faktoren, dass man erkannt hat, man hat nicht genügend kulturelle Angebote für die Jugendlichen. Wenn die Jugendklubs vier Tage die Woche geschlossen haben [lacht] und dort einfach nichts stattfindet, dann suchen sich die Jugendlichen eben woanders, sag ich mal, ihre kulturellen Angebote. Also all solche Überlegungen flossen da mit ein. Und die entscheidende Passage darin ist, dass Jugendliche nicht mehr nach ihrem Aussehen beurteilt werden sollten, sondern gemäß ihrer Einstellung zum Sozialismus, was immer das heißen soll. Die Folge war, dass innerhalb der FDJ dann eine große Initiative startete, mehr jugendkulturelle Angebote zu machen. Die Türsteher wurden auf einmal angewiesen - und das waren FDJ Mitglieder - die Punks und die Gruftis und die Heavy Metals und auch die Skinheads eben nicht mehr abzuweisen, sondern rein in die Klubs zu lassen, was dann oft zur Folge hatte, dass am nächsten Tag dann doch die Volkspolizei vor der Tür stand, [lacht] die den Beschluss noch nicht verarbeitet hatte und dann eben kritisch bei den Jugendklubleitern nachgefragt hat, was denn das Publikum hier soll. Das hat auf der einen Seite dann eben ganz viele Türen geöffnet. Das hat auch ganz viel Zugang zu Ressourcen geöffnet. Ich würde sagen, es hat aber auch einfach ganz viel internes Chaos in diesen Behörden und Strukturen einfach befördert. Weil gleichzeitig alles was an Richtlinien jemals erlassen wurde, also MfS intern, wie mit Jugendlichen umgegangen wird, das Einstufungswesen, dieser ganze, sage ich mal, Humus an Verordnungen, Richtlinien und so weiter, die eigentlich alle aus den 60ern bis Mitte 70er stammten, die waren ja weiterhin noch aktuell. Und so gab es natürlich dann immer mehr interne Konflikte. Was aus meiner Perspektive zu einem Zunehmenden erlahmen dieses ganzen Apparates geführt hat.
Dagmar Hovestädt: In den zeitlichen Kontext ordnen Sie auch einen Dokumentarfilm ein, den ich damals in Westberlin auf der Berlinale sehen konnte. Nämlich "Flüstern und Schreien". Der auch für den Westen plötzlich so ein Schaufenster war, in eine super lebendige und eigentlich im Westen durchaus vertraute Jugendszene, die man aus der DDR, wenn man das ein bisschen oberflächlicher gesehen hat, so gar nicht kannte.
Florian Lipp: Dieser Film ist auch ein schönes Beispiel, weil der eben auch durch verschiedenste [lacht] Zensurinstanzen durchgerutscht, verhandelt, geschnitten wurde und so weiter. Ich glaube, er ist auch typisch dafür, es gibt so ein paar Szenen, wo dann auch diese ganze Verdruckstheit zum Vorschein kommt. Also dieser Volkspolizist, der sich dort auf einmal super liberal gibt. Die Jugendlichen, die dort interviewt werden. Die teilweise sehr verschüchtert über ihre Situation am Arbeitsplatz berichten. Wenn ich mich richtig erinnere, wird sogar das Tabuthema Arbeitslosigkeit angeschnitten. Dann gibt es in der DDR Presse wahre Jubelarien auf diesen Film. [lacht] Was dann interessanterweise, auch wieder von Musikjournalisten, die sich zu dem Zeitpunkt auch schon ihre Freiräume verschaffen konnten, in Publikationen wie der "Melody und Rhythmus" zum Beispiel aber auch diese Beilage zu der Zeitschrift mit dem schönen Namen "Unterhaltungskunst", kritisiert wird. Woher diese plötzliche Liberalität eigentlich kommt. Während Punk in den vorangegangenen Jahren ebenso restriktiv behandelt wurde. Also selbst das konnte dann in den letzten beiden Jahren der DDR auch publiziert werden, wenn eben der Rezipientenkreis eher klein war. Und sich das dadurch der Kontrolle dann wieder entzogen hat.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie eigentlich für die Arbeit auch sehr viel von der Punk und der New Wave Musik gehört?
Florian Lipp: Ja. Also es gibt ja die ganzen Mitschnitte und Playlists von Lutz Schramm, "DT 64".
Dagmar Hovestädt: Von der Radiosendung?
Florian Lipp: Genau. Parocktikum hieß die Sendung, die ganz wichtig war, die ab 1986 lief. Es gibt ein paar Sampler, die auf LP veröffentlicht wurden und dann eben geschmuggelt wurden und am Ende im Westen erschienen. Es gibt aber auch Leute, wie "Punko" [Giuseppe "Pino" Avanzato] von "Planlos", der Zuhause, und da bin ich sehr sehr dankbar dafür, ein großartiges Archiv an Musikkassetten immer noch hat, die mittlerweile digitalisiert sind. Wo ich mich ja durch sehr sehr viele tolle Aufnahmen durchhören konnte.
Dagmar Hovestädt: Das heißt so zur Einstimmung des Schreibens wird immer kurz ein paar Kassetten gehört, damit das sozusagen [lacht] lebendig wird. Der Gegenstand, über den man da schreibt.
Florian Lipp: Ja, oder man eben darüber auch einfach einen Eindruck bekommt. Und das ist unentbehrlich. Um welche Musik handelt es sich da? Die auch von anderen beschrieben wird. Und weil eben die Zahl der Veröffentlichungen wirklich begrenzt ist. Also das muss man sich auch einfach vor Augen führen. Bis auf ganz wenige Amiga-Sampler, über deren Qualität man sich streiten kann und eben diese vier LPs, die Sampler, die bruchstückhaft im Westen erschienen sind, gibt es einfach nichts an zeitgenössischen Veröffentlichungen. Es gab danach - jetzt so ab den späten 90ern findet einfach so ein kontinuierlicher Fluss von Nachveröffentlichungen statt. Oder es werden Webseiten betrieben, wo ehemalige Akteure ihre Aufnahmen hochladen. Aber offizielle Publikationen in den 80ern ist einfach sehr sehr dünn.
Dagmar Hovestädt: Es gibt ja sogar ein Punkmuseum, wo das versucht wird zu sammeln, in Pankow.
Florian Lipp: Genau. Das funktioniert eher wie so ein Archiv. Aber das ist natürlich auch faszinierend zu sehen, was da für Privatinitiativen dann auch weiter daraus entstanden sind. Für Sachen oder Archivalien, würde ich mal sagen, für die sich auch kein staatliches Archiv irgendwie offiziell zuständig fühlt. Auch das Archiv der Jugendkulturen z. B., dass, seit ich es kenne, sich eigentlich durchweg in prekären Verhältnissen befindet und sich so durchkämpft, dort einfach eine ganz wichtige Aufgabe auch übernimmt, die so die etablierten und staatlichen Archive einfach nicht übernehmen.
Dagmar Hovestädt: Deswegen abschließend noch mal die Frage zum Archiv. Sie haben ja das MfS-Archiv oder die historischen Unterlagen der Stasi als "Ersatzarchiv" bezeichnet. Wahrscheinlich, weil die Lücke aus ganz anderen Gründen da doch durchaus in unseren Überlieferungen geschlossen wird, die aus offiziellen Gründen sonst fehlen würde. Die Stasi hat ja Punkmusik nicht gesammelt und auch die Szene nicht beobachtet, weil sie Fans der Musik waren [lacht], sondern weil sie ja einen ideologisch-politischen Auftrag hatten. Aber deswegen ist ja trotzdem einiges zu finden, ausgerechnet über die Punkbewegung und in den Unterlagen der Staatssicherheit.
Florian Lipp: Genau. Also das wirft erst mal natürlich forschungsethische Fragen auf, weil das natürlich häufig unter also wirklich gravierenden Verletzungen von Privatsphäre und Menschenrechte zustande kam. Also wir sprechen über Briefe, die abgefangen wurden. Wir sprechen über Fotos, die heimlich in Wohnungen gemacht wurden. Wir sprechen über Auswertungen zu Plattensammlungen, die die Stasi in Wohnungen gefunden hat. Wir sprechen über die Auswertung von Adressbüchern, aus denen hervorgeht, dass einzelne Punks Verbindungen zu teilweise Dutzenden von Labels, Privatlabels, Kleinlabels im Westen hatten. Also solche Sachen. Es gibt dann natürlich Fotografien der Stasi, auch von Kleidungsstücken, Schmuck und so weiter. In dieser Hinsicht funktioniert die Stasi dann eben als Ersatzarchiv, wobei das Zustandekommen dieser Archivalien natürlich sehr vorbelastet ist.
Dagmar Hovestädt: Das führt natürlich dazu, das haben Sie auch ein bisschen artikuliert, das die Recherche im Stasi-Unterlagen-Archiv, damals noch beim BStU, für den Nutzenden, also in diesem Fall für Sie, nicht immer ganz so befriedigend ist, weil natürlich da was zwischengeschaltet ist und Sie nicht direkt in unser Archiv gehen und sich selber alles aus dem Archiv nehmen können, sondern wir das ja immer vorsortieren, damit wir dem Schutz der Privatsphäre der darin genannten Personen gerecht werden, während wir gleichzeitig ihrem Forschungsinteresse gerecht werden wollen.
Florian Lipp: Ja. Was ich daran eben am kritischsten fand, war so dieser zeitliche Faktor. Also, wenn ich also z. B. in ein Landesarchiv gehe, da finde ich meine Findbücher, da kann ich die Akten bestellen, die in den Findbüchern verzeichnet sind und in der Regel bekommt man die nach wenigen Stunden, spätestens am nächsten Tag ausgehändigt. Und dann macht eben so ein mehrwöchiger Archivaufenthalt einfach Sinn, weil ich die Findbücher abarbeiten kann, als Historiker. Die Akten bestellen kann, sie durchsehen kann und dann die Kopien gegebenenfalls anfordern kann. Und damit ist dann eine Archivrecherche, wenn sie unter diesen Bedingungen stattfinden kann, innerhalb weniger Tage oder weniger Wochen abgeschlossen, weil das Material, das man sehen will, ja auch endlich ist. Man kann aber direkt nachrecherchieren. Beim BStU damals war die Herausforderung zum einen eben diesen Nutzungsantrag zu stellen, der schon eine sehr detaillierte Beschreibung dessen erfordert, was man überhaupt dort Erforschen will. Und dann ist die Bereitstellung eben aufgrund dieser eingebauten Filter, die es ja zurecht gibt, kann sich da eben über Monate hinziehen. Und man hat dann einfach nicht so viele Versuche, auf Material zu stoßen und auch nicht mehr so viele Gelegenheiten nachzurecherchieren zu einem bestimmten Fall. Weil auf der einen Seite tickt natürlich die Uhr, wenn es darum geht, die Dissertation fertig zu stellen und auch das Stipendium ist natürlich endlich. Dass ich früher diese Dissertation erhalten habe, das hat freundlicherweise die Gerda Henkel Stiftung über mehrere Jahre übernommen, ohne die das überhaupt nicht zu bewältigen gewesen wäre. Aber da hat sich für mich im Laufe der Recherche schon öfter die Frage gestellt, warum das alles so lange dauert. [lacht] Warum gibt es nicht mehr Findbücher, die ja im Fall MfS Unterlagen dann auch mehr oder weniger individuell erstellt werden. Oder man teilweise auch das Gefühl hat, man bekommt hier jetzt einfach nur dieselben Akten zur Verfügung gestellt die vorangegangene Forscher auch schon in der Hand hatten, die zu dem Thema recherchiert haben. Aber dieser Eindruck, da ist erst mal nicht viel Neues dabei, obwohl der Bestand ja riesig ist, das fand ich teilweise dann auch einfach etwas irritierend. Ich kann aus Perspektive des Archivs das total gut nachvollziehen, das ist einfach ein unglaublich zeitintensiver und komplizierter Prozess ist, den man aber bestimmt an der einen oder anderen Stelle vielleicht ein bisschen auch mit Digitalisierung beschleunigen könnte und ein bisschen straffen könnte.
Dagmar Hovestädt: Ja, insofern ist Ihr Feedback so wichtig wie das vieler anderer zu sagen: "Wir brauchen mehr Findmittel". Da arbeiten wir schon länger dran. Wir sind ja jetzt Teil des Bundesarchivs und da ist ja auch noch mal der Versuch, die Findmittel in die dort vorhandenen online Tools mit einzugliedern, invenio und auch Basis, das sind die Formate, die das Bundesarchiv für das online Vorrecherchieren zu Beständen da hat, daran arbeiten wir. Aber es bleibt eine komplexe Materie, weil die Stasi hat es ja auch nicht als klassisches Archiv hinterlassen, sondern es ist die Gesamtdokumentation des Jahres 1989 weitestgehend. Und die ist ja auch nicht eben so wie ein ganz normales Ministerium abgelegt, sondern eben immer sehr ineinander verwoben, hochredundant. An vielen Stellen gibts zu gleichen Dingen leicht unterschiedliche Informationen. Das machts eigentlich sehr spannend, weil es ja immer auch das Arbeiten, das Wirken der Geheimpolizei zeigt. Aber es macht es auch für die Nutzung und die Recherche doch ein bisschen herausfordernd. Gut, Florian Lipp, abschließend noch die Frage: Hören Sie nach wie vor Punkmusik? Beschäftigt Sie das Thema weiter?
Florian Lipp: [lacht] Ich muss ganz ehrlich gestehen, wenn ich nicht gerade Anfragen wie für diesen Podcast bekomme, bin ich damit gerade nicht mehr so zu Gange. [lacht]
Dagmar Hovestädt: [lacht] Dann freue ich mich umso mehr, dass das geklappt hat. Ich danke für die Zeit und das spannende Erzählen. Also ein sehr lesenswertes Buch, wenn man einfach mal in DDR Geschichte der letzten 15 Jahre eintauchen will und ein Faible für Musik hat, das ein bisschen verstehen will. Musik und Diktatur ist insgesamt ein spannendes Thema. Zwischen Freiheit, individueller Ausdrucksweise und gesellschaftlichem Anspruch. Wünsche Ihnen weiter alles Gute und vielen Dank für das Gespräch.
Florian Lipp: Ich danke Ihnen.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war Florian Lipp, der Seine 2021 erschienene Dissertation "Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR" vorgestellt hat. Ich möchte als jemand, der das Stasi-Unterlagen-Archiv ebenso wie Florian Lipp von außen nutzt, also über Rechercheanträge, sagen, dass ich seine Kritik verstehe. Es dauert, bis wir das gefundene Material einsehen können. Aber ich weiß eben auch, warum das so ist. Zunächst mal hat das Ministerium für Staatssicherheit kein schön geordnetes Archiv hinterlassen. Hinterlassen wollte es sowieso nichts. 111 km Akten heißt ja nicht, dass ich beim Punk Kilometer 77 aufsuche und dann alle Unterlagen über Punkmusik in der DDR finde. Es können sich Vermerke in noch völlig unerschlossenen Archivalien befinden, vielleicht auf Tonbändern oder auf von der Stasi zerrissenen Schreibmaschinendurchschlägen. Und wenn eine Mitarbeiterin des Archivs dann einiges zusammengetragen hat, muss sie all die Passagen schwärzen, wo persönliche Daten geschützt werden müssen, ein komplexer Vorgang also. Habe ich das ungefähr richtig so gesagt?
Dagmar Hovestädt: Genau, das hatte ich im Gespräch ja auch schon so ungefähr versucht zu erklären. Der Schutz der persönlichen Daten ist eben eine sehr wichtige und zentrale Angelegenheit. Aber eben auch sehr zeitraubend. Und dann versteh ich auch, dass wir insbesondere im Vergleich zu anderen offiziellen Archiven die Nutzenden bisweilen auf eine ungewohnte Geduldsprobe stellen. Das können wir immer nur erläutern, woran das liegt, damit man es besser auch vorher weiß und Verständnis dafür mitbringt. Unser Podcast endet wie immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferungen des MfS. Die Eingabe des Suchbegriffs "Glück" bei der Recherche im Erschließungsprogramm ergab drei Treffer im Audiobestand des MfS. Eher unerwartet sind die ersten beiden, weil es sich um Kriegsverbrecherprozesse von 1968 und 1972 handelt, bei denen ein Richter "Glück" hieß. Der dritte Treffer ist eine Sendung zur politischen Schulung des Funkstudios Adlershof des Wachregiments Berlin aus der Mitte der 1980er-Jahre. In einer Umfrage beantworten hier Angehörige des Regiments die Frage nach ihren Vorstellungen von Glück. Hören sie selbst.
[Archivton]
[Radiosprecher:] Und wer sich jetzt immer noch nicht darüber im klaren ist, worin für ihn der Sinn des Lebens besteht, wann er glücklich ist, der sollte sich folgendes Ergebnis einer Umfrage zu diesem Thema anhören. Nicht als Vorgabe gedacht, sondern als Anregung.
[Sprecher 1:] [lautes Hintergrundgeräusch] Glücklich sein, das bedeutet für mich Frieden. Das ist das wichtigste eigentlich, würde ich sagen.
[Sprecher 2:] [Motorengeräusche im Hintergrund] Na erstmal nen Zuhause zu haben, wo man sich geborgen fühlt. 'Ne Freundin zu haben, wo man weiß, wo man mal hingehen kann.
[Sprecherin 1:] [Eine Rede ist im Hintergrund zu hören] Na auf jeden Fall erstmal, das wichtigste ist, dass auf der ganzen Welt erstmal Frieden ist. Also, das für mich, da bin ich echt glücklich, ja. Das meine Familie, dass da alles funktioniert, alle gesund sind, das auf Arbeit alles gut läuft, das man Erfolg hat.
[Sprecher 3:] Anderen Bürgern und anderen Menschen zu helfen.
[Sprecher 4:] [Musik im Hintergrund] [Weitere Störgeräusche im Hintergrund] Ein bisschen kompliziert. Es gibt nen persönliches Glück. Dazu gehört der Frieden, das Glück in der Familie, die Befriedigung in der Arbeit. Und die Dinge alle gemeinsam [Ein Gegenstand fällt klirrend auf den Boden] machen das Glück wohl aus, wobei die Befriedigungen in der Arbeit nen wesentlichen Anteil mit am Glück hat, wenn man den anderen Dingen auch den entsprechenden Stellenwert einräumt. Und da könnte es wirklich manchmal noch besser sein.
[Sprecher 5:] Glück? Joah, bei mein Mädel zu sein, vielleicht, ne Wohnung zu haben, [Zustimmendes "Hmm" aus dem Hintergrund] arbeiten gehen.
[Sprecher 6:] So direkt Gedanken darüber macht man sich da nicht. Zu leben wie ich's mag.
[Sprecher 7:] Na wenn ich nach Hause gehe. Na weil ich dann wieder arbeiten kann.
[Sprecher 8:] Bin weil ick hier drinne bin, nach Moos keen Ausgang hab. Es regnet. Bin unausgeschlafen. Na ja, gehe Sonnabend wieder auf Moos zu Sonntag. Wer soll'n da glücklich sein?
[Sprecher 9:] Also für mich gehört zum Glück auch mit, dass man eben sein eigenes Leben führen kann. Und da würde mich - für mich mit dazugehören eben ne eigene Wohnung.
[Sprecher 10:] Na ne Beschäftigung haben.
[Sprecher 11:] Das mit der Freundin alles klar geht.
[Sprecher 12:] [Motorengeräusche im Hintergrund] Na,dass ich nach Hause gehe in 161 Tagen. Bei meiner Frau und mit meinem Kind.
[Sprecher 13:] Vielleicht auch nen bisschen Geld, heh.
[Sprecher 14:] Na Glück ist, wenn man mal beim Lotto nen Fünfer hat, wa? Oder beim Kegeln alle Neune trifft.
[Sprecherin 2:] Glück ist für mich, leben zu können, schaffen zu können in einer ruhigen Welt, in einer ruhigen Umgebung. Ohne Angst zu haben, die Sirenen könnten heulen, die Bomben könnten fliegen.
[Sprecher 15:] Na, wenn, wenn einem alles so gelingt, wie man sich dit vorstellt.
[Sprecher 16:] Für uns ist Glück, wenn man als Trainer der Sektion Judo Erfolge bei unseren Kindern sehen.
[Sprecher 17:] Ja, Glück hat jemand mal gesagt, gibt's eigentlich nicht. Es gibt bloß die Bereitschaft glücklich zu sein.
[Sprecher 18:] Nen juten Beruf haben, wo man auch nen bisschen jut verdient.
[Sprecherin 3:] Dass man einer gesicherten Zukunft entgegengehen.
[Sprecher 19:] Erstmal in unserem Staat eben geborgen zu sein, das ist mir das Wichtigste. Dass man weiß, was einen [pollterndes Hintergrundgeräusch] in der Zukunft erwartet, dass man also sicher ist, dass man nach der Regimentszeit [pollterndes Hintergrundgeräusch] dann sein Arbeitsplatz hat, dass man den sicher hat und dann dass man persönlich eben auch Erfolge hat in seinem Leben. [zustimmendes "Hmm" im Hintergrund] Eben weiterkommt. Vor allem eben viel lernt in seinem Leben.
[Ausschnitt aus dem Lied "Stille" von Pankow: Ich glaub, es gibt das Glück. [Wiederholung]]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Florian Lipps Publikation "Punk und New Wave im letzten Jahrzehnt der DDR" auf der Webseite des Waxmann Verlags.
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