Stimmen der Diktatur. Tonaufnahmen von politischen Prozessen im Stasi-Unterlagen-Archiv
Aufsatz von Dr. Jens Niederhut (BStU) mit zahlreichen Tonbeispielen auf Zeithistorische-Forschungen.de
Deckblatt der Verfahrensakte und Foto von Walter Praedel aus den 1920er Jahren aus derselben Akte, Quelle: BStU, MfS, BV Frankfurt/Oder, AU Nr. 236/62, GA Bl.52
Am 13. August 1961 begann die DDR, die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin durch eine Mauer zu verfestigen. Zwei Monate später zündete der Ofen- und Landarbeiter Walter Praedel in Ost-Brandenburg aus Protest eine Scheune an. Stasi und DDR-Justiz machten den Strafprozess zu einem politischen Exempel. Walter Praedel wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die einzigartige Sammlung von mitgeschnittenen Gerichtsprozessen im Stasi-Unterlagen-Archiv ermöglicht einen tiefen akustischen Einblick in diese Verhandlung in Frankfurt/Oder.
[Jingle]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo und willkommen zu einer neuen Folge! Mein Co-Host Maximilian Schönherr und ich, Dagmar Hovestädt, Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, begrüßen Sie. Wir laden Sie zu einer Reise in das Jahr 1961 ein, die an Dramatik kaum zu überbieten ist. Es ist das Jahr des Mauerbaus, und das ist heute, im Jahr 2021, genau 60 Jahre her. Im Sommer 1961 begann die DDR, die Grenze zwischen Ost- und West-Berlin durch eine Mauer zu verfestigen. Zuvor hatte eine neu anschwellende Welle von Menschen die DDR über das sogenannte Schlupfloch West-Berlin verlassen.In Reaktion auf den Mauerbau hielt der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin und spätere Bundeskanzler Willy Brandt am 16. August 1961 eine berühmte Rede. Darin rief er u. a. mit deutlichen Worten die Menschen in der DDR zum Widerstand gegen ihre Regierung und den Mauerbau auf. Zwei Monate später zündete ein Ofenarbeiter weit im Osten der DDR eine Scheune an. Ausgerechnet am 7. Oktober, dem 12. Jahrestag der - wie man es nannte - Republikgründung. Dafür kam er kurz vor Weihnachten 1961 vor Gericht, wurde einen Tag später zum Tode verurteilt und im Januar 1962 mit dem Fallbeil hingerichtet.
Maximilian Schönherr: Mit dieser kurzen Chronik sind wir bereits in die mittel-frühe DDR-Geschichte abgetaucht. "Mittel" deswegen, weil sich in den 1950er Jahren sehr viel getan und verändert hat. Was sich in den gesamten vier Jahrzehnten nicht verändert hat in der DDR, war die fehlende Gewaltenteilung. Warum sollte sich das auch ändern? Das war im Grunde eine Parteidiktatur. Die aktuellen politischen Verhältnisse spielten unmittelbar in die Gerichte hinein. Die DDR-Justiz war unter der Kontrolle der Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, kurz SED, der Justizministerin Hilde Benjamin und des Ministeriums für Staatssicherheit. Der Brandstifter, dessen Geschichte wir hier erzählen, war damals 50 Jahre alt. Für die Tat, bei der niemand starb, wurde er mit dem Tode bestraft, weil, ja, weil kurz zuvor die Mauer gebaut wurde, eigentlich absurd.
Dagmar Hovestädt: Der Mann im Zentrum der Geschichte heißt Walter Praedel. Er wird in den Dokumenten unterschiedlich geschrieben, mal mit ae oder e - am Schluss schien Praedel mit ae und einem zusätzlichen e vor dem l die festgelegte Schreibweise.Grundlage der Erzählung im Podcast ist der mitgeschnittene Gerichtsprozess gegen ihn, der im Stasi-Unterlagen-Archiv liegt. Er ermöglicht eine Erinnerung an diese fast vergessene Geschichte. Hören wir einen Ausschnitt aus dem Beginn des Prozesses in Frankfurt an der Oder. Es ist der Vormittag des 20. Dezember 1961. Vier Tage vor Weihnachten. Richter Walter Ziegler befragt den Angeklagten Walter Praedel.
[Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
[Richter Walter Ziegler:] Was waren denn Ihre Eltern?
[Walter Praedel:] Mein Vater war Zimmermann vom Beruf, sind beide Tod jetzt.
[Richter Walter Ziegler:] Gehörte Ihr Vater irgendwelchen Organisationen an?
[Walter Praedel:] Früher, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Nun, welche?
[Walter Praedel:] Ja, kann ich nicht mehr ausdrücken.
[Richter Walter Ziegler:] Na ausdrücken, Sie haben mir haben gesagt, dass er der sozialdemokratischen Partei angehörte.
[Walter Praedel:] Ja, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ist richtig?
[Walter Praedel:] Ja, ist richtig.
[Richter Walter Ziegler:] Wussten Sie davon?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja.
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Hat er auch mit Ihnen gesprochen darüber?
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Nein. Und hat er mit Ihnen gesprochen darüber weshalb er später dann Mitglied der SA wird? War er das?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Hat er mit Ihnen darüber gesprochen, weshalb er dann nach '33 der SA beitrat?
[Walter Praedel:] Nein, ich habe ihn nicht gefragt.
[Richter Walter Ziegler:] Nein?
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Hatte er da Funktionen gehabt in der, in der SA?
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Nein?
[Walter Praedel:] Nein, dass weiß ich.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Nein, keine Funktion gehabt.
[Richter Walter Ziegler:] Hm. Wie wurden Sie denn von zu Hause erzogen von Ihren Eltern?
[Walter Praedel:] Von meinen Vater eher schlecht.
[Richter Walter Ziegler:] Sehr schlecht? Wie meinen Sie das?
[Walter Praedel:] Der hat dauernd- der hat dauernd getrunken.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Der hat dauernd getrunken.
[Richter Walter Ziegler:] Hm. dauernd getrunken?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Und dann?
[Walter Praedel:] Dann hat's immer Ärger zu Hause gegeben.
[Richter Walter Ziegler:] Gab's Ärger?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Hat man Sie auch ein politischer Hinsicht beeinflusst im Sinne der Arbeiterklasse von Seiten Ihrer Eltern? Was macht'n ihrer Mutter?
[Walter Praedel:] Meine Mutter ist auch tot.
[Richter Walter Ziegler:] Na ja jetzt ja. Was sie damals machte? Sie haben doch bei Ihren Eltern gelebt. 1958 ist die Mutter verstorben, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] So, sehen Sie. Hatten Sie doch Ihre Mutter lange gehabt. Was machte denn die?
[Walter Praedel:] Sie war im Haushalt zu Hause.
[Richter Walter Ziegler:] Sie war im Haushalt zu Hause.
[Walter Praedel:] Nachher hatte Sie [unverständlich] gehabt.
[Richter Walter Ziegler:] Hm. Ja ich fragte Sie nun, sind Sie also von Ihren Eltern im Sinne der Arbeiterklasse beeinflusst worden, erzogen worden?
[Walter Praedel:] Schlecht erzogen worden.
[Richter Walter Ziegler:] Schlecht meinen Sie.
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Haben ein schlechtes Beispiel gehabt?
[Walter Praedel:] Jawohl.
[Richter Walter Ziegler:] War Ihnen das eine Lehre?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Schlecht erzogen.
[Richter Walter Ziegler:] Sie haben dann auch dem Alkohol zugesprochen oder nicht?
[Walter Praedel:] Ich hab natürlich mal 'ne Flasche Bier getrunken oder Schnaps getrunken, streite ich ja nicht ab.
[Richter Walter Ziegler:] Ja. Aber nicht in dem Maße wie das Ihr Vater da tat.
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Das war Ihnen gewissermaßen durch die Streitigkeiten, die es gab, 'ne Warnung?
[Walter Praedel:] Durch seine Trinkerei und alles was er gemacht hat, ja.
[Richter Walter Ziegler:] War Ihnen eine Warnung?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja. Was arbeiteten Sie denn nachdem Sie Ihre Gesellenprüfung gemacht hatten?
[Walter Praedel:] Als Dachdeckerarbeit bei meinem Großvater und im Winter bin ich am Riegelwerk und im Wald Holz abmachen.
[Richter Walter Ziegler:] Hm. Bis wann?
[Walter Praedel:] Von '34, - äh - '35 dann hab ich ihn verärgert. '36 wurde ich einberufen [unverständlich] zum Kurses 8 Wochen. Da die acht Wochen um waren-
[Richter Walter Ziegler:] Was war das für eine Einberufung? Wo denn hin?
[Walter Praedel:] Pionierausbildung.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Pionierausbildung. Pionierausbildung.
[Richter Walter Ziegler:] In der damaligen faschistischen Wehrmacht-
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] -wurden Sie eingezogen?
[Walter Praedel:] 8 Wochen, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Zum Lehrgang?
[Walter Praedel:] Zum Lehrgang, ja.
[Ende - Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
Dagmar Hovestädt: Diese Geschichte ist eine, die du, Maximilian, im Archiv entdeckt hast. Dabei hast du nicht nur die O-Töne des Gerichtsprozesses gehört, sondern auch die Akten zu dem Fall studiert. Wie bist du eigentlich auf Walter Praedel gekommen?
Maximilian Schönherr: Auf Walter Praedel bin ich durch einen Zufall gekommen, denn ich hatte viel zu tun mit den Audio Kolleginnen in eurem Archiv. Das hat ungefähr, ich glaube, ich weiß nicht mal ganz genau, 2009 habe ich den Hinweis vom SWR Archivar Georg Polster bekommen. Das euer Archiv jetzt die O-Töne langsam digitalisiert und dann auch freigibt unter bestimmten Umständen. Das was geschwärzt ist in den Akten, ist im Audiomaterial ausgepiepst. Und ich war dann öfter da und irgendwann ungefähr um 2010 habe ich den Prozess über Elli Barczatis kennengelernt und dieser Prozess der hat ja ziemlich für Furore gesorgt, als wir die nachbearbeitet haben. Es gab auch ein Hörbuch dazu usw. Elli Barczatis hat zusammen mit ihrem Lover Karl Laurenz eine Tat begangen, wofür sie beide hingerichtet wurden, das war ein kurzer Prozess auch nur an einem Tag vor dem höchsten Berliner Gericht und zwar im Jahr 1955. Eigentlich eine Liebesgeschichte mit einer Prise Spionage aber auf höchster Ebene nämlich im Büro des DDR Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Da war nämlich Elli Barczatis teilweise hat sie da gearbeitet als Chefsekretärin und dann habe ich noch einen anderen Prozess gefunden Otto Fleischer, da sind wir durch Zufall draufgekommen über einen Gehlen Spion usw. komplizierte Geschichte, aber eigentlich dann ganz einfach schnell digitalisiert, weil die Bänder von Säurefraß betroffen waren. Otto Fleischer der komplette Prozess ist mitgeschnitten worden. Fleischer war Professor für Bergbau und Chef von Kohleminen in der DDR und er bekam lebenslänglich im Jahr 1953. Klassischer Spionagefall. Es gibt die Diskussion: War es nur ein vermeintlicher Spionagefall? Ich glaube, es war ein klassischer Spionagefall. Der wollte Ersatzteile haben aus dem Westen und hat dafür Geheimnisse verraten und er bekam nur lebenslänglich. Es ist eigentlich ein typisches Todesurteil damals gewesen, aber er bekam nur lebenslänglich, weil man ihn für die Raketenforschung brauchte und da hat die Justiz vielleicht auch nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 nicht genau gewusst, wie hart oder wie moderat sie urteilen sollte. Bei Elli Barczatis spielte Stalins Tod eine Rolle. Es ist es unglaublich, das erzählte mir Karl Wilhelm Fricke Ex-Deutschlandfunk Kollege, die DDR Führung reagierte geschockt auf Stalins moderateren Nachfolger Chruschtschow und die Gerichte fällten quasi als Widerstand extra harte Urteile in dieser Zeit quasi stalinistisch super brutal. Man konnte es nicht fassen, dass Chruschtschow sogar die Stalin Ära, auf der ja Ulbricht zum Beispiel groß wurde, kritisierte.
Dagmar Hovestädt: Karl Wilhelm Fricke, den du gerade erwähnt hast, ist ja ein Opfer der harten Durchgreif-Strategie nach dem 17. Juni 1953, das ist 3 Monate nach Stalins Tod, aber für die DDR sozusagen im Doppelpack eine sehr dramatische Erfahrung aus Sicht der Machthaber. Karl Wilhelm Fricke wurde im April 1955 in einem Komplott als 25-jähriger DDR-kritischer Journalist in West-Berlin betäubt und in den Osten entführt und geriet dann in die fürchterliche Maschinerie von Stasi und politischen Strafprozessen, die auch oft geheim abliefen.
Maximilian Schönherr: Und er stand sogar vor demselben Richter der drei Prozesse, von denen wir vorher sprachen und den wir gerade kurz gehört hatten: Walter Ziegler. Fricke wurde ein Jahr nach Barczatis verurteilt, im gleichen Gerichtssaal in Berlin Mitte, und zwar zu 15 Jahren Zuchthaus. Nicht zum Tode, weil, so Fricke zu mir, die Chruschtschow-Mentalität langsam auch in die DDR-Justiz einsickerte. Das Fricke-Verfahren war ein Geheimprozess, wie auch der gegen Elli Barczatis. Ihre Schwester, also Ellis Schwester, erfuhr erst Monate nach der Hinrichtung, dass Elli tot war, aber ohne Angabe von Gründen und Umständen. Ich habe jetzt noch mal ein paar Akten nachgelesen, man hat in den 50er Jahren, 1950er Jahren, gerne nach dem man Angeklagte exekutiert hatte, gesagt: Starb an Herzinfarkt. Die DDR hat sich ein bisschen, obwohl die Todesstrafe offiziell war, hat sich geschämt, dass in dieser Detailliertheit preiszugeben. Ein Schauprozess mit West-Presse war der Prozess gegen den Bergbauingenieur Otto Fleischer. Die Strafgerichtsverhandlung, von der wir heute fünf längere Ausschnitte im Originalton hören, war ein Misch-Ding. DDR-Presse war geladen, West-Presse aber nicht. Im Saal saßen vor allem Vertreter der Stasi, der Feuerwehr, der Versicherung. Ich hab mal nachgezählt, wie viele Leute es waren in diesem Saal. Ich weiß nicht genau wie groß der Saal war, aber es klingt, er klingt fast ein bisschen intim, 90 Leute waren da. Also die Mehrheit war, also die größte Teilmenge waren Stasi-Mitarbeiter.Wie dieser Prozess am Bezirksgericht in Frankfurt/Oder ausgerichtet werden sollte, hatte nicht das Gericht bestimmt, sondern die Dramaturgie kam vom Ministerium für Staatssicherheit und dessen Chef, Erich Mielke persönlich, Tonbandmitschnitte inklusive.
Dagmar Hovestädt: Springen wir im Originalton jetzt eine Stunde weiter. Immer noch Vormittag des 20. Dezember 1961. Befragung des Angeklagten zur Motivation der Straftat, womit – nochmal zur Erinnerung – das Anzünden zweier Scheunen gemeint ist.
[Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
[Richter Walter Ziegler:] Wie waren Sie denn erstmalig auf diesen Gedanken gekommen? Wer inspirierte Sie denn dazu?
[Walter Praedel:] Darauf bin ich gekommen durch die Sender Freies Berlin und RIAS.
[Richter Walter Ziegler:] Ja. Welche Sendung denn insbesondere?
[Walter Praedel:] Und Willy Brandt.
[Richter Walter Ziegler:] Willy Brandt, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wann denn ungefähr? Wann war denn das?
[Walter Praedel:] Den Tag kann ich nicht genau sagen.
[Richter Walter Ziegler:] Nein, nein sollen Sie auch nicht. Ich habe Sie nur nach dem Monat gefragt, aber der war noch falsch. Deswegen möchte nur wenigstens den Monat haben.
[Walter Praedel:] Nach dem 13.- Nach dem 13. August.
[Richter Walter Ziegler:] Nach dem 13. August.
[Walter Praedel:] Nach dem 13. August.
[Richter Walter Ziegler:] Haben Sie diese Brandt Rede gehört, nicht?
[Walter Praedel:] Ja. Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Und da kam Ihnen erstmalig der Gedanke. So haben Sie das hier gesagt.
[Walter Praedel:] Ja, das stimmt.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Stimmt?
[Walter Praedel:] Das habe ich gesagt, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Was sagte denn der Brandt da? Was haben Sie denn da noch in Erinnerung von Brandt's Brandrede.
[Walter Praedel:] Man soll die DDR schädigen, wo man kann.
[Richter Walter Ziegler:] Schaden?
[Walter Praedel:] Schaden, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Schädigen-
[Walter Praedel:] Schädigen, ja.
[Richter Walter Ziegler:] -wo man kann. Wie?
[Walter Praedel:] Wie man kann.
[Richter Walter Ziegler:] Ja? Das war nach dem 13. August, nicht.
[Walter Praedel:] Ja, 13. August.
[Richter Walter Ziegler:] Wo Sie ärgerlich waren, dass Sie nicht mehr, wie wir vorhin festgestellt hatten, zu Ihren Westberlinbesuchen kam, am Revanchistentreffen teilnehmen konnten. Jetzt war 'ne Mauer davor, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Und da sagt Brandt: "Schädigt, wo ihr könnt!", nicht?
[Walter Praedel:] Man soll die DDR schädigen, wo man kann.
[Richter Walter Ziegler:] Ja. Und was machten sie 'n da auf Grund dieses Gedankens. Da dachten Sie doch auch schon etwas.
[Walter Praedel:] Dann hab ich das Feuer gelegt am LPG Dannenberg.
[Richter Walter Ziegler:] Nein, das war doch später. Nicht so schnell, da kommen wir schon noch schnell genug hin. Sie können Ihre Aussage dazu noch machen. In diesen Tagen nach dem 13. August, warum haben Sie da als der Brandt die Rede hielt nicht die Scheune angesteckt.
[Walter Praedel:] Weil die Scheune noch nicht ganz voll war gefahren, weil die Ernte-
[Richter Walter Ziegler:] Weil die Ernte noch nicht eingesetzt hatte, weil die Scheune noch leer war, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Und eben weil sie leer war der-
[Walter Praedel:] Regenzeit.
[Richter Walter Ziegler:] -der Schaden zu gering war, ja die Regenzeit kam. Sie wissen schon, dass nicht die Regenzeit kam, sondern weil die Scheune nicht voll war, der Schaden nicht hoch genug war, nicht? Das war doch Ihre Überlegung!
[Walter Praedel:] Dass sie nicht voll war.
[Richter Walter Ziegler:] Das war doch Ihre Überlegung oder?
[Walter Praedel:] Die Scheune noch nicht voll war, wenn die Scheune voll ist brennt es besser.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Wenn die Scheune voll ist, brennt es besser.
[Richter Walter Ziegler:] ... brennt es besser. Das ist die eine Seite und zweitens ist der...?
[Walter Praedel:] Zweitens ist von Brandt die Rede.
[Richter Walter Ziegler:] Hm?
[Walter Praedel:] Von Brandt.
[Richter Walter Ziegler:] Zweitens ist, was entsprechend dem was Brandt ja fordert, Schaden zuzufügen, ist der Schaden höher, nicht.
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja, ja, lieber Angeklagter die Aussagen machen Sie schwerer, wenn man in solcher Situation ist, aber Sie wissen doch warum, was war und wie Sie darauf gekommen sind oder nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Sie sind doch auch nicht geistig minderbemittelt, nicht?
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Sie sind doch untersucht worden? Ja?
[Walter Praedel:] Jawohl.
[Richter Walter Ziegler:] Von Doktor Zitsch, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Psychiatrischen Sachverständigen. Da sagt, da liegt nichts da, keine Anzeichen für irgendeine Geisteskrankheit oder Schwachsinnigkeit, keine Anzeichen nicht die geringsten. Das ist das Ergebnis eines Gutachtens. 27.11.1961 Blatt 162 der Akten, aber die Situation ist natürlich für Sie nicht einfach. Na gut.Also das war in den ersten - in den Tagen - in den ersten Tagen nach dem 13. August, da fassten Sie schon diesen Gedanken?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Scheune anbrennen.
[Walter Praedel:] Scheune anbrennen, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Geht nicht, leer, zu geringer Schaden, ja?
[Walter Praedel:] Ja. Wenn er voll ist.
[Richter Walter Ziegler:] Voll ist besser.
[Walter Praedel:] Ist besser, ja, brennt besser, mehr Schaden.
[Richter Walter Ziegler:] Deshalb taten Sie es also in dieser Zeit noch nicht?
[Walter Praedel:] Nein. [Richter Walter Ziegler:] Hm. Und dann? Wie ging es denn weiter?
[Walter Praedel:] Dann hab ich es gemacht.
[Richter Walter Ziegler:] Nein, noch nicht, gleich. Da kam doch erst noch was anderes.
[Walter Praedel:] Da habe ich bei meiner Schwägerin Pflaumen gepflückt.
[Richter Walter Ziegler:] Wann waren das? Ende September, nicht?
[Walter Praedel:] September war's, ja, Ende September.
[Richter Walter Ziegler:] Haben Sie ihr gesagt... wie?
[Walter Praedel:] 24., 24. September.
[Richter Walter Ziegler:] Ja, ja erinnern Sie sich ruhig. 24. September war's, da haben Sie für die Schwägerin Pflaumen gepflückt.
[Walter Praedel:] Da hab ich Pflaumen gepflückt, hab ich mitgenommen nach Hause und dann haben wir Pflaumenmus von gekocht.
[Richter Walter Ziegler:] Ja, da war die Scheune nun schon-
[Walter Praedel:] Da war die Scheune voll.
[Richter Walter Ziegler:] Haben Sie gesehen?
[Walter Praedel:] Habe ich gesehen.
[Richter Walter Ziegler:] Haben Sie nachgeguckt?
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Wie sehen Sie das, wenn Sie nicht hingucken?
[Walter Praedel:] Da sind Bretter, da kann man durchsehen. Die Bretter sind ungefähr so weit auseinander.
[Richter Walter Ziegler:] Na ja, haben Sie doch hingeguckt. Wie sieht dann die Scheune jetzt aus? Ist nun bald soweit, nicht?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Und warum haben Sie es dann am 24. nicht gemacht?
[Walter Praedel:] Hatte noch keine Gelegenheit dazu.
[Richter Walter Ziegler:] Na wieso? Hatten Sie keine Streichhölzer dabei?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Oder was?
[Walter Praedel:] Weil da viele haben da gearbeitet auch in den Gärten da, Obst gepflückt.
[Richter Walter Ziegler:] Waren andere Menschen in der Nähe?
[Walter Praedel:] Ja, auch.
[Richter Walter Ziegler:] Ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Obst gepflückt?
[Walter Praedel:] Pflaumen und Äpfel gepflückt, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wollten Sie also nicht machen? Wären Sie beobachtet worden, ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Da hatten Sie Angst?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja, na und nu?
[Walter Praedel:] Und da wollte ich am 5. Oktober, 5. Oktober machen und da ging es auch nicht.
[Richter Walter Ziegler:] Warum nicht?
[Walter Praedel:] Weil da auch so viel Betrieb war.
[Richter Walter Ziegler:] Am 5. Oktober wollten Sie es wieder machen?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Sind Sie da extra hingegangen? Sie wohnten ja nicht dort.
[Walter Praedel:] Nein.
[Richter Walter Ziegler:] Wo wohnten Sie?
[Walter Praedel:] In Torgelow. 10 Minuten ab mit dem Fahrrad.
[Richter Walter Ziegler:] 10 Minuten weg. Wie kam Sie denn immer dahin und beim 24. waren Sie Pflaumen pflücken, nicht?
[Walter Praedel:] Ich fahr oft über Dannenberg nach Hause.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] fahr ich-
[Richter Walter Ziegler:] Weswegen waren Sie drüben? Sind Sie alle Tage drüben?
[Walter Praedel:] Nein, alle Tage nicht.
[Richter Walter Ziegler:] Nein.
[Ende - Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
Dagmar Hovestädt: Wenn man dem Richter zuhört, beschleicht einen ein ekelhaftes Gefühl mich zu mindestens. Eine suggestive Frage nach der anderen und Walter Praedel gibt sich denen fast willenlos hin. Da ist so eine oberlehrerhafte Überlegenheit im Ton von diesem Richter, so ein strenger Vater, der mit einem ungezogenen Kind spricht, das keine Chance hat, sich der Strafe für sein Tun zu entziehen, das ist so glasklar.Und es ist auch klar, dass der Richter die Antworten, die er hören will, aus ihm rausholt, egal wie. Da ist auch kein Verteidiger der interveniert, der hier irgendwie sagt, dass es keine zulässige Frage, Suggestivfrage ist. Ich habe mich beim Zuhören dann gefragt: Was muss eigentlich in den Wochen zwischen der Tat Anfang Oktober '61 und dem Prozess im Dezember in der U-Haft passiert sein, dass der Mann so willenlos und willig vor dem Richter steht?
Maximilian Schönherr: Das ergibt sich aus den Protokollen, die ich gelesen habe, die wiederholen sich dauernd, weil nämlich Praedel in der Untersuchungshaft dauernd dieselben Fragen beantworten sollte und diese Verhörprotokolle sind alle erhältlich bei euch im Archiv und die decken sich quasi, kann man übereinander legen und es fast immer gleich. Das heißt er wurde einer Verhörroutine unterzogen, wo er immer präziser immer dasselbe dann sagte. Man weiß natürlich nie genau bei den Verhörprotokollen, ob er das wirklich so gesagt hat. Also manchmal sind Formulierungen drin die sicherlich von dem Ofenarbeit- übrigens ein Ofenarbeiter ist jemand der Öfen herstellt. Also Praedel stellt Öfen her und ich glaube der Wortschatz wurde eben oft in den Mund gelegt, aber keiner weiß warum übrigens diese Aufnahmen gemacht wurden. Wir können nur Vermutungen anstellen. Hast du eine Vermutung warum es Mitschnitte von Gerichtsprozessen gibt?
Dagmar Hovestädt: Also offenkundig ist, dass das quasi Routine war, denn wir haben ja eine ganz einzigartige, sehr umfangreiche Sammlung mitgeschnittener Prozesse. Diese sind alle politischer Natur und immer auch von der Stasi begleitet, also im Prozessgeschehen, in der Vorbereitung, in der U-Haft. In der Bundesrepublik war es zum Beispiel verboten, Prozesse mitzuschneiden, bis auf wenige Ausnahmen.
Maximilian Schönherr: Auschwitz Prozess.
Dagmar Hovestädt: Zum Beispiel der Auschwitz Prozess und ein paar andere Sachen, aber das ist eben wirklich die Ausnahme, weil es in der Regel nicht vorgesehen war das mitzuschneiden aus bestimmten prozessualen Gründen oder wie man das in der Bundesrepublik entschieden hat.Aber diese Mitschnitte haben einerseits dem MfS ermöglicht, diese Prozesse propagandistisch auszuschlachten, selbst wenn sie zunächst sogar auch geheim stattfanden, das konnte man im Nachhinein, wenn da doch Material drin war, was man hilfreich fand, umdefinieren und das benutzen. Und das ist eine Vermutung: Die Stasi wollte hier wahrscheinlich auch immer wieder kontrollieren, ob ihre Ermittlungsarbeit in der U-Haft, ihre Prozess-Strategie, ihre Verhörmethoden usw. diese Farce eines rechtsstaatlich anmutenden Prozesses gerecht wird. Was man nur vermuten kann ist, ob sie diese Prozesse selber wirklich regelmäßiger nachgehört hat und ausgewertet hat und wie das dann wieder in die Strategie zu nachfolgenden Prozessen eingeflossen ist, das ist nicht ganz klar. Das wäre aber ein ziemlich gutes Forschungsthema, würde ich sagen. Unsere Forscher hier im Stasi-Unterlagen-Archiv sind jedenfalls dabei, ein Projekt zu starten, bei dem wir über 300 politische Prozesse online stellen werden und dabei kann man dann auch genau so eine Frage, warum haben sie das gemacht, wie haben sie damit gearbeitet und wo lässt sich feststellen, dass frühere Prozesse, neue Strategien oder Verbesserungen in nachfolgende Prozesse haben umsetzen können, das kann man dann mal erforschen.
Maximilian Schönherr: Jedenfalls die Tonqualität, ist mir aufgefallen, von mitgeschnittenen Strafprozessen nimmt interessanterweise über die Jahre ab. 1961 ist sie noch ziemlich gut, viel später ist sie richtig schlecht, aber in jedem Fall war sie 1955 am aller besten. Damals befanden sich im Obersten Gericht der DDR vermutlich nur zwei Mikrofone, eines für den Richter, eines für den Angeklagten bzw. für die Zeugen. Beim Walter Praedel-Prozess müssen es mehr gewesen sein, denn wir hören nahtlose Wortwechsel zwischen Richter, Staatsanwalt und dem Angeklagten. Warum in den späteren 1960er Jahren die Aufnahmequalität abnahm, weiß ich nicht. Vielleicht hatte die Stasi, die im Hintergrund tätig war um diese Bandmaschinen zu bedienen, keine gute Erfahrungen mit dem Mischpult, könnte sein.Übrigens sparte die Stasi mit Bandmaterial, das war bei mir, der echt gerne Rocksendungen mitgeschnitten hat im Westen, auch so. Ich hab immer wieder die Bänder, weil sie so teuer waren, überspielt. Und es gab auch tatsächlich Knappheit, was längere Bänder angeht. Im Mitschnitt der Verhandlung in Frankfurt an der Oder hört man zu Beginn jedes Bands eine Sekunde lang das, was zuvor aufgenommen worden war. Auch das ist regelmäßig der Fall, bei vielen O-Ton-Aufnahmen bilden bisweilen sehr skurrile Altaufnahmen einen total sachfremden Auftakt oder ein schräges Ende.
Dagmar Hovestädt: Lass uns mal einordnen, wie es zu dem harten Urteil kam.Die politische Großwetterlage hieß: Mauerbau. Die SED gab sich große Mühe, den Bau als eine notwendige Maßnahme gegen die zu große Einflussnahme der Bundesrepublik zu verkaufen, aber die Flüchtlingszahlen spielten natürlich keine Rolle bzw. wenn dann war das der Westen, der die einfach rübergelockt hat und das waren alles Menschen, die sozusagen dem Westen in die Falle gegangen sind.Sie nannte die Berliner Mauer bspw. einen "antifaschistischen Schutzwall". Die Notwendigkeit des Mauerbaus wurde in der Partei und auch in intellektuellen Kreisen vielfach akzeptiert, nicht zuletzt, weil vielen klar war, dass ein weiteres Ausbluten des Landes die DDR noch stärker schwächen würde. Geflohen waren ja vor allem Menschen mit Initiative und mit vielen Fähigkeiten, die fehlten einfach an vielen Stellen der Gesellschaft. Und in weiten Teilen der DDR-Bevölkerung war der Mauerbau ein Schock. Ungezählte Familienbande zwischen Ost und West waren plötzlich gekappt. In Berlin selber waren auch Zugangsmöglichkeiten zu Arbeitsplätzen zwischen Ost und West gekappt. Das eigene Land wurde damit wirklich auf der emotionalen Ebene im Mindesten und auch faktisch zum Gefängnis, so beschrieb das Willy Brandt auch in seiner großen Rede am 16. August beschrieben, die ja auch beim Land- und Ofenarbeiter Walter Praedel auf offene Ohren stieß – zumindest wird das im Prozess als ein Punkt für seine aus SED-Sicht radikale Anti-Haltung behauptet.
Maximilian Schönherr: Also, das war in der DDR sicherlich auch im Westen ein Erdbeben dieser Mauerbau und die politische Gemengelage hat sich in dem Jahr eigentlich krass geändert. Der Widerstand gegen die DDR war plötzlich in der allgemein Bevölkerung groß. Die haben sich natürlich in der Regel nicht getraut irgendwas zu tun, aber bei Praedel war es zum Beispiel ganz konkret so, der war so zwei, drei Mal im Jahr bei seiner Verwandtschaft im Westen und dann ging er auch zu Landsmannschaftstreffen, aber wirklich nur ein paar Mal und das waren eigentlich Privatbesuche.
Dagmar Hovestädt: Also Landsmannschaftstreffen von Menschen die noch weiter im Osten gelebt haben und das war ja so eine Kriegsfolge und da vertrieben waren und sich in der Bundesrepublik zu mindestens viel stärker artikulieren konnten dazu.
Maximilian Schönherr: Also ich würde sagen: typisch faschistische Organisationen, die die Grenzen von 1939 wieder herstellen wollten. Die meinten, das vor dem Krieg, das hat alles gepasst Oder-Neiße-Linie usw., aber er war kein großer Held dort. Er hat es halt besucht, weil er aus Pommern kam, ging halt mal zu solchen Landsmannschaftstreffen.
Dagmar Hovestädt: Er wohnte in Torgelow in der Mark Brandenburg, ein winziges Dorf ungefähr eine Autostunde nord-östlich von Berlin nicht weit von der polnischen Grenze. Die nächste Stadt ist Eberswalde im Norden von Torgelow.
Maximilian Schönherr: Praedel und seine Frau waren gern bei der Schwägerin, nur ein paar Minuten mit dem Fahrrad im Nachbardorf namens Dannenberg, auch ein winziges Dorf. Die Schwägerin arbeitete in der Landwirtschaft und war seit Jahren empört über das marode Dach des Viehstalls. Wegen der Enteignung in der DDR war es nicht ihr Stall, aber es war ihr Job, sich um den Stall zu kümmern und auch um das Heu und das Vieh zu kümmern.Weil es auch im letzten Winter dauernd reingeregnet hatte und deshalb die Schweine und Kälber krank und das Heu nass wurden, starteten sie und Praedel mehrere Eingaben bei der LPG. Ich muss immer nachgucken wofür die Abkürzung genau steht, aber sie steht für Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft mit dem Namen "Neue Ordnung". Sie sollen doch endlich dieses Dach zu reparieren. Die LPG reagierte aber nicht, was bei der Schwägerin Frust und bei Praedel allmählich eine tiefe Verachtung für diese staatliche Organisationsform der Landwirtschaft in der DDR, eben die LPG bewirkte. Dass er sich also dann genau an diesen Scheunen zu schaffen machte, er wollte eigentlich alle vier abfackeln, war ganz passend.Dass er sich den 12. Jahrestag der DDR-Gründung aussuchte, war, das wurde ihm angehängt im Prozess, mehr oder weniger Zufall. Der Wind stand nämlich gut. Und er kannte sich mit Brandlegung aus dem 2. Weltkrieg aus. Er hatte es gelernt. Die Sonne schien, und die meisten Leute waren in den benachbarten Kleinstädten von Ost-Brandenburg, um eben genau jenen sogenannten Republiksgeburtstag zu feiern. Wir haben ja gerade gehört, dass Praedel schon in den Wochen zuvor Ansätze zur Brandstiftung unternommen hat, aber es waren immer Leute da.
Dagmar Hovestädt: Vor Gericht drehte man ihm aber dann wohl einen Strick daraus: Brandstiftung ausgerechnet am 12. Jahrestag – das konnte ja wohl kein Zufall sein?
Maximilian Schönherr: Genau, das wurde ihm laufend in diesem Prozess unterstellt vom Staatsanwalt und vom Richter.
Dagmar Hovestädt: Aber selbst das erscheint für die Todesstrafe etwas überzogen, ein schwerer Fall von Sachbeschädigung, Brandstiftung am nun na ja Volkseigentum, aber ohne Todesfälle und bei einer offenkundig zerfallenden Scheunen. Praedel aber konnte man eben auch eine politische Motivation unterstellen, in dem man ihn immer wieder mit dieser Rede von Willy Brandt konfrontierte und seinem Westradio und seinen Besuchen im Westen. Wobei ich im Gegensatz zu dir nicht wirklich sicher bin, ob er nun genau diese Rede wirklich gehört hat oder irgendetwas anderes von den West-Berliner Sendern. Er ist einfach so willig, alles zuzugeben, was ihn reinreitet. Das finde ich bemerkenswert an diesen Tonaufnahmen.
Maximilian Schönherr: Also Willy Brandt hat in der Rede nicht direkt gesagt "Leistet Widerstand", sondern er hat gesagt, die leisten nur kein Widerstand, weil die Panzer dauernd davor stehen, da steckt das Implizit drin. Praedel hat diese Rede gehört im Sender Freies Berlin, das sagt er in den Vernehmungsprotokollen und auch im Prozess und er gibt auch die ganze Peripherie zu, das heißt, er die Kommentarsendungen drumherum gehört, der hat RIAS Treffpunkt gehört, wo das natürlich auch diese Rede noch einmal durchgezogen wurde und darüber diskutiert wurde. Und diese Gemengelage hat bei ihm diesen Widerstand bewirkt.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Maximilian Schönherr: Lass uns jetzt einen weiteren O-Ton aus dem Prozess einspielen. Hier geht es in dieser Phase der Argumentation nicht um die Brandstiftung Anfang der 1960er Jahre, sondern um eine Tat in den 1940er Jahren, die Praedel als einfacher Soldat der Wehrmacht begangen hatte.Nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilte ihn dafür ein sowjetisches Militärgericht zu 25 Jahren Zwangsarbeit. Nach 7 Jahren Zwangsarbeit wurde er begnadigt. Wir hören den Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert. Borchert war ein hohes Tier, nämlich stellvertretender Generalstaatsanwalt der DDR, und eigens für diesen Prozess von Berlin nach Frankfurt/Oder gekommen.
[Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Waren Sie freundschaftlich eingestellt zur Säuberung?
[Walter Praedel:] Nein, ich war nicht freundschaftlich eingestellt.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sie waren nicht freundschaftlich eingestellt. Sie hatten, was? Freundschaft oder Hass?
[Walter Praedel:] Hatte mal Hass.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Warum?
[Walter Praedel:] Zu 25 Jahre Zuchthaus wurd ich bestraft.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Haben sie sich freiwillig gemeldet im Bataillon 365, dem Mord-Bataillon, zur Spezialtruppe in diesem Mord-Bataillon unter Leitung der Sturmbrigade Reichsführer SS? Haben Sie sich da freiwillig gemeldet?
[Walter Praedel:] Ja, [unverständlich].
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Entsprach das ihrer Einstellung? Hatten Sie bereits damals einen Hass?
[Walter Praedel:] Ne, damals noch nicht.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Damals noch nicht?
[Walter Praedel:] Ne.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Wollten Sie möglichst viele sowjetische Bürger erschießen?
[Walter Praedel:] Ich habe den Hass bloss gehabt wegen den 25 Jahren.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Wollten Sie damals möglichst viel sowjetische Bürger erschießen?
[Walter Praedel:] Nein.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Nein?
[Walter Praedel:] Nein.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Ihnen ist aber das Protokoll vorgelesen worden?
[männliche Stimme 1:] Soll ich nochmal vorlesen?
[Walter Praedel:] Ich habe bloß nicht... Sechs Mann und Drei sind Neune.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Bloß...?
[männliche Stimme 1:] [theatralisch] Naja, bloß... natürlich bloß... bei der Auffassung. Ich war mit dem Erschießen einverstanden und sagte mir: Mit jedem erschossene Partisanen ist ein Mensch im russischen Staat weniger, der gegen die Deutschen kämpft. Ich hatte einen Hass auf die Sowjetunion, aber die Truppenführung noch geschürt wurde. Ich fand es richtig, wenn man gesagt wurde, der sowjetische Staat muss man nicht werden und die Menschen ausgerottet werden. Dann spricht man von "bloß" Neune.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Das war Mord. Neunfacher Mord? Ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sind Sie also zurecht bestraft worden? Wenn Sie sich das heute überlegen. Wegen neunfachen Mords, Brandstiftung, zurecht bestraft?
[männliche Stimme 1:] [unverständlich]-
[Walter Praedel:] Ich bin richtig bestraft worden.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sie sind richtig bestraft worden. Und dann heute noch Hass? Und dann kam noch der Friedensvertrags-Entwurf. Ja? Den haben Sie mal gelesen, den die Sowjetunion vorgeschlagen hat?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Was haben Sie dazu so gedacht? Waren sie damit einverstanden? Waren Sie damit einverstanden mit dem Friedensvertrag, den die Sowjetunion vorschlägt, ohne Grenzforderungen, ohne Annexion, ohne Revanchismus?
[Walter Praedel:] Nein.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Warum denn nicht? Weil es keine Gebietsforderungen gab?
[Walter Praedel:] Nein.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Deswegen oder weshalb waren Sie damit nicht einverstanden? Muss doch einen Grund gehabten haben, dass Sie nicht einverstanden waren.
[Walter Praedel:] Weil ich meine Heimat wiedersehen mag.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sie wollten Gebietsforderungen drin haben, ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Revanchismus? Landsmannschaftstreffen? Ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Am 13. August, setzt sich ja dann fort, da waren Sie auch nicht einverstanden?
[Walter Praedel:] Nein.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Warum nicht? War das eine Beschränkung Ihrer Freiheit?
[Walter Praedel:] Ich wollt grad fahren nach Berlin hin.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Also Ihre Freiheit ist beschränkt, ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sie können nicht mehr zum Landsmannschaftstreffen fahren?
[Walter Praedel:] Zu meiner Schwägerin auch fahren.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Zur Schwägerin fahren? Sie in Westberlin informieren, ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Die Freiheit sich in revanchistisch zu betätigen ist beschränkt, ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Das ist auch der Sinn des antifaschistischen Schutzwalls.
[Ende - Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
Dagmar Hovestädt: Der Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert. Anders als der Richter, ist ja nicht ganz so pseudo-schleimig im Ton, finde ich, sondern schneidender und fordernd.
Maximilian Schönherr: Das war quasi eine Standard-Rollenverteilung in den Gerichtsprozessen, die ich gehört habe. Der Richter tat immer so ein bisschen neutral, was er nicht war. Die Suggestivfragen und so weiter. Und der Anwalt musste ein bisschen spitzer formulieren. Das ist vielleicht im allgemeinen Gerichtsprozessen, aber es war hier wirklich immer, immer der Fall. Auch in anderen Prozessen kommt er richtig scharf rüber und geht sofort auf die große politische Perspektive, während der Richter sich ja dann mit-, mit Rindern in einem Stall auseinandersetzen muss.
Dagmar Hovestädt: Also auch hier finde ich, hört man wieder diese Unentrinnbarkeit der verlangten Antwort. Walter Praedel versucht hin und wieder, er selbst zu sein und seine eigene Motivation zu begründen. Aber damit kommt er ja nicht weit, wird er sofort wieder eingefangen. Er gibt dann schnell wieder klein bei oder für mich hat sich das auch fast erleichtert an, wenn er seine Antwortvorschlag da beipflichten kann. Damit ist er erlöst von diesem ständigen Hagel an diesen fordernden Fragen. Interessant ist ja, dass hier auch auf eine Straftat bzw. ein Kriegsverbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg in seiner Zeit in der Wehrmacht zurückgegriffen wird. Praedel, Jahrgang 1911, war seit Kriegsbeginn als Soldat in der Wehrmacht und war zu Kriegsende in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten. 1948 dann wurde er von einem sowjetischen Militärtribunal für die Erschießung von 8 Zivilpersonen, die im Prozess als Partisanen bezeichnet wurden, zu 25 Jahren Haft verurteilt. Diese Geschichte wieder aufzurollen und sie seiner Persönlichkeit als prägend zuzuordnen, ist ja klare Strategie. Kommen wir nun zur eigentlichen Brandstiftung. Der Richter Walter Ziegler befragt dazu den Angeklagten. Es ist die einzige Passage in dem Prozess, wo Walter Praedel einigermaßen flüssig redet. Es taucht das Wort Strohmiete auf. Das bezeichnet eine größere Aufschichten von Strohballen.
[Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
[Walter Praedel:] 7. Oktober, denke ich bin mir sicher, nich wahr? Weil die Feier ist am 12. Jahrestag der Republik, weil da alle sind zur Feier und viele sind zum Mittagessen. Da hab ich das am 7. Oktober in Brand gelegt.
[Richter Walter Ziegler:] Mittags?
[Walter Praedel:] Mittags, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Was hatten Sie denn diesmal drüben zu tun?
[Walter Praedel:] Ich habe Kartoffeln ausgemacht bei meiner Schwägerin auf dem Feld, mit meiner Frau.
[Richter Walter Ziegler:] Wer war denn da alles dabei?
[Walter Praedel:] Meine Frau und um 9:30 Uhr kam Hans Kascheike (phon.) mit seine Frau.
[Richter Walter Ziegler:] Hm.
[Walter Praedel:] Und meine Frau ging dann hin zu meiner Schwägerin und hatte Mittag da vorbereitet und wir haben die Kartoffeln ausgemacht. Ungefähr bis 11 Uhr war mein Neffe mit seiner Frau da. Um 11 Uhr haben die das Feld verlassen und ich bin dann da geblieben-
[Richter Walter Ziegler:] Warum?
[Walter Praedel:] Und hab noch eine Schnitte Brot gegessen und hab ne Zigarette noch geraucht und hab die Kartoffelsäcke zugebunden. Denn wenn nicht und jetzt - da ich schon beobachte, wie der Wind am besten geht, die Gedanken gefasst, es in Brand zu legen am 7. Oktober.
[Richter Walter Ziegler:] Da werden wahrscheinlich keine Menschen da sein-
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] -die gehen dann Mittagessen. Nachher gehen sie zur Feier, nich?
[Walter Praedel:] Zur Feier ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja und nun?
[Walter Praedel:] Dann bin ich vom Feld runtergegangen, ungefähr Viertel nach 11 war das gewesen, ging ich runter zu meiner Schwägerin und hab mir gewaschen und hab die Jacke ringehangen im Flur und hab anschließend zu Mittag gegessen. Wie ich mit Mittag fertig war, war die Tür von vorne von der Stube auf und habe gesehen, wie spät es war. War ungefähr 5 vor 12, die Tür stand ungefähr so 40 Zentimeter auf. Da bin ich rausgegangen, nach draußen und hab mir ne Zigarette angeraucht im Hof.
[Richter Walter Ziegler:] Hmm. Wo waren denn die anderen?
[Walter Praedel:] Die waren drinnen in der Stube, in der Küche, noch. Und dann bin ich noch hier reingegangen und hab gesagt zu meiner Frau: Ich geh mal rüber zu Brandt und sage Bescheid, er soll dann wieder die Kartoffeln holen, die wir ausgebuddelt haben. Dann hab ich mir auf die Bank nochmal rauf gesetzt und habe dann noch meine Zigarette weiter geraucht da, mit mein Neffe Hans Kascheike (phon.). Und dann bin ich nachher nach Brandts rübergegangen und habe gefragt, ob Otto Brand da war, da sagt die junge Frau Brandt: Er ist nicht da, ist noch im Feld, die arbeiten noch. Dann bin ich ungefähr [unverständlich] 10 bis 15 Minuten aufgehalten. Dann bin ich wieder zurückgekommen. Nein, da hab ich erst mal bekommen die Rente vom Schwiegervatern. 158 Mark.
[Richter Walter Ziegler:] Wer gab Ihnen die?
[Walter Praedel:] Die alte Frau Brandt.
[Richter Walter Ziegler:] Gab Ihnen die?
[Walter Praedel:] Ja, 158 Mark. Und dann kam ich zurück-
[Richter Walter Ziegler:] Nahmen se mit?
[Walter Praedel:] Hab ich mitgenommen, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wem haben Sie das Geld gegeben?
[Walter Praedel:] Meiner Frau.
[Richter Walter Ziegler:] Ihrer Frau, hmm.
[Walter Praedel:] Dann kam ich zurück von Brandts, und da war meine Frau auf dem Hof, Hans Kascheike (phon.) war auf dem Hof und die Frau Kascheike (phon.) waren am Hof gewesen und hab meine Frau das Geld gegeben. Und meine Schwägerin kam ja auch noch raus und hat sich auf die Treppe hingesetzt auf'n Stein-, Steintreppe. Und dann hab ich mir jetzt hier eine Zigarette angeraucht, eine zweite Zigarette, die ich noch hatte - drei hatte ich noch drin gehabt, die zweite Zigarette hab ich noch angeraucht, Casino - da sagt meine Schwägerin: Kann einer ein paar Flaschen Bier holen? Dann ist die Frau Kascheike (phon.)hingefahren und hat vier Flaschen Bier geholt und eine Brause. Und da sag ich zu meiner Frau-
[Richter Walter Ziegler:] Woher wissen Sie denn das, dass sie vier Flaschen Bier und eine Brause ge-, waren Sie noch da als sie zurück kam?
[Walter Praedel:] Ich war noch da gewesen, war auf die Bank und hab gesessen, weil meine Schwägerin und wir saßen noch alle draußen, nicht wahr.
[Richter Walter Ziegler:] Für wen war denn das Bier?
[Walter Praedel:] Sollt jeder zwei Flaschen trinken, ich und mein Neffe.
[Richter Walter Ziegler:] Sie auch?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Denke, man war so dagegen, dass sie tranken, auch nur eine Flasche Bier. Deswegen gab's so viel Ärger mit Schwiegereltern und mit der Frau.
[Walter Praedel:] Zwei Flaschen Bier.
[Richter Walter Ziegler:] Wie? Und dann kriegten Sie doch zwei Flaschen Bier?
[Walter Praedel:] Meine Frau hat ja geschimpft, nicht wahr, vorhin schon.
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Walter Praedel:] Meine Frau hat ja vorhin schon geschimpft.
[Richter Walter Ziegler:] Hmm.
[Walter Praedel:] Ich sollt kein Bier holen.
[Richter Walter Ziegler:] Hmm. Aber Sie kriegten doch Ihre zwei?
[Walter Praedel:] Aber ich hab sie nicht getrunken.
[Richter Walter Ziegler:] Warum nicht?
[Walter Praedel:] Soll ich weitererzählen jetzt?
[Richter Walter Ziegler:] Ja.
[Walter Praedel:] Und da hab ich meine Zigarette, hab ich mir das-, hab ich zu meine Frau noch gesagt: Geb ihr mal Geld mit, dass se mir noch paar Zigaretten mitbringt. Ich hab keine Zigaretten mehr, ich hab nur noch eine gehabt in der Schachtel drin. Da hat se ihr fünf Mark gegeben und ist dann hingefahren und hat das Bier und Zigaretten geholt. Ich hab meine Zigarette ungefähr jetzt hier halb-, dann bin ich auch aufgestanden von der Bank und hab herausgeholt Papier.
[Richter Walter Ziegler:] Woraus geholt?
[Walter Praedel:] Aus der Küche.
[Richter Walter Ziegler:] Aus der Küche.
[Walter Praedel:] Aus der Küche hab ich Papier rausgeholt, [unverständlich].
[Richter Walter Ziegler:] [unverständlich]?
[Walter Praedel:] Ja, [unverständlich]. Und bin damit gegangen nachher austreten. Braucht nicht austreten gehen, ich habe bloß klein-
[Richter Walter Ziegler:] Brauchten nicht, taten aber so und die anderen sollten glauben?
[Walter Praedel:] Ja, aber ich habe bloß klein gemacht. Und da hab ich mich auf die Toilette draufgesetzt und hab die Türe etwas aufgemacht, da konnt ich sehen bis zum Dunkhaufen bis am anderen Zaun rüber zum Nachbarn.
[Richter Walter Ziegler:] Haben sie beobachtet?
[Walter Praedel:] Ja, keinen gesehen.
[Richter Walter Ziegler:] Keinen gesehen.
[Walter Praedel:] Nein. Dann bin ich nachher aufgestanden und hab meine Zigarette, war noch bisschen dran an der Zigarette, und hab sie ausgetreten auf der Toilette. Bin dann um Schuppen rumgegangen, da konnt ich wieder in hochgucken rechts nach der MTS-
[Richter Walter Ziegler:] Keinen gesehen. Ja, bis zur MTS kann man da durchsehen.
[Walter Praedel:] Kann man durchsehn, ja-
[Richter Walter Ziegler:] Wodurch? Wodurch? Zwischen...?
[Walter Praedel:] Wenn ich den Schuppen rumgeh.
[Richter Walter Ziegler:] Ja ja, wo zwischen durch kann man da sehen? Was steht denn da?
[Walter Praedel:] Rechts der Rinderviehstall und links die bei-, drei Scheunen.
[Richter Walter Ziegler:] Rechts der Rinderviehstall, links die drei Scheunen, nich?
[Walter Praedel:] Ja, kann man bis oben hin sehen.
[Richter Walter Ziegler:] Da kann man durchsehen, wenn man um den Schuppen rum ist, bis zur MTS-Station.
[Walter Praedel:] Ja, kann man ruff sehen. Und-
[Richter Walter Ziegler:] Auch niemand zu sehen?
[Walter Praedel:] Auch niemand zu sehen. Dann bin ich da zum Schuppen hingegangen, an die Strohmiete und hab da nochmal umgedreht, hab ich auch noch keinen gesehen.
[Richter Walter Ziegler:] Was für eine Strohmiete?
[Walter Praedel:] Von meiner Schwägerin die Strohmiete.
[Richter Walter Ziegler:] Wo war die?
[Walter Praedel:] Vom Scheunengiebel ungefähr gut nen halben Meter ab, nen Meter, halben Meter ab.
[Richter Walter Ziegler:] Man kann also sagen, gut einen halben Meter ab, sie war dicht am Scheunengiebel.
[Walter Praedel:] Ja, dicht am Scheunengiebel, ja-
[Richter Walter Ziegler:] Ja?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Nich?
[Walter Praedel:] Ja. Dicht am Scheunengiebel.
[Richter Walter Ziegler:] Wie groß war denn diese Strohmiete?
[Walter Praedel:] Sind so ungefähr über 20 Bund haben gelegen da, die waren gebündelt alle, nich, mit der Presse.
[Richter Walter Ziegler:] Restbunde?
[Walter Praedel:] Restbunde warn's gewesen, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Große?
[Walter Praedel:] Ja, so mittelgroße.
[Richter Walter Ziegler:] Ja, hmm.
[Walter Praedel:] Und da hab ich mir-, hab ich auch keinen gesehen. Da hab ich meine Schachtel rausgeholt, des-, die Casino-
[Richter Walter Ziegler:] Haben Sie nochmal beobachtet ob Menschen in der Nähe sind?
[Walter Praedel:] Ich hab mich bloß nochmal umgedreht, ja.
[Richter Walter Ziegler:] Ja.
[Walter Praedel:] Hab keine gesehen. Und habe die Schachtel rausgeholt und habe 'ne Zigarette angeraucht, mich gebückt und habe dann in der Nähe von 40, 50 Zentimeter rangehalten am Stroh.
[Richter Walter Ziegler:] Aber erst die Zigarette?
[Walter Praedel:] Erst die Zigarette, ja. Und dann hab ich'n Streichholz reingehalten.
[Richter Walter Ziegler:] Warum denn eigentlich erst die Zigarette? Da war ihnen noch so [unverständlich]-
[Walter Praedel:] Da hab ich noch geraucht-
[Richter Walter Ziegler:] ... bei der Durchführung dieser Dinge?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Warum? [Sprechpause] Wenn nun doch einer gekommen wär, den Sie nicht gesehen hatten. Wenn nun doch einer gekommen wär, den Sie nicht gesehen hatten.
[Walter Praedel:] Wenn einer gekommen wär, den ich nicht gesehen hätte, nicht wahr... und ich bin doch gesehen worden.
[Richter Walter Ziegler:] Was hätte Sie denn dem gesagt, wenn da einer gekommen wär, der gesehen hätte, sie. Hä? Was hätten Sie denn da gesagt?
[Walter Praedel:] Ja, was soll ich weiter sagen? Der hätte gesagt: Was hast du denn hier gemacht? Hast Feuer angesteckt.
[Richter Walter Ziegler:] Ja. Und was hätten Sie denn da gesagt?
[Walter Praedel:] Ich habe Brandstiftung gemacht.
[Richter Walter Ziegler:] Ne, ne. Was denn für ne Brandstiftung? Das ist mir aus Versehen passiert, wie ich ne Zigarette angesteckt habe, nich?
[Walter Praedel:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Deswegen steckten Sie die doch vorher an, sagen se das mal ruhig. Sagen se das mal ruhig, dass Sie die deswegen vorher angesteckt hatten, wenn doch einer kam, dann konnten Sie sagen: "Das ist Versehen.", nich?
[Walter Praedel:] Versehen durch die-
[Richter Walter Ziegler:] So war es doch gedacht.
[Walter Praedel:] Versehen durch die Zigarette.
[Richter Walter Ziegler:] So war es doch gedacht, oder nich?
[Walter Praedel:] Das habe ich im Protokoll nicht angegeben.
[Richter Walter Ziegler:] Nein?! Haben Sie nicht angegeben?
[Walter Praedel:] Nein, glaube ich nicht.
[Richter Walter Ziegler:] Na, sagen Sie mal. Hab ich das erfunden?
[Walter Praedel:] [unverständlich nuschelnd]
[Richter Walter Ziegler:] Wie?
[Ende - Ausschnitt aus dem Strafprozess Praedel 1961]
Maximilian Schönherr: Walter Praedel über den Tag, an dem er die Scheune anzündete.
Dagmar Hovestädt: Man ist fast froh, Ihnen mal erzählen zu hören. Also nicht nur einsilbig, etwas zuzugeben. Er wirkt-, er wirkt auf mich nicht unbedingt wie ein Mensch, der sehr komplex über das Leben nachdenkt oder sich ideologisch in eine Weltordnung hier einordnet, oder Überzeugungstäter wird. Ich wollte eigentlich so gerne nochmal von ihm hören, dass er seinen Frust, seine Empörung über das Regime, das einfache Menschen daran hindert, ihre Arbeit zu machen, dass er das nochmal artikuliert. Aber er konzentriert sich ganz intensiv auf all die vielen Details des Tages. Das scheint ihm dann auch irgendwie so etwas wie ein bisschen Souveränität zu geben und ihm auch irgendwie Kraft zu spenden. Und dann bremst ihn der Richter wieder aus mit der unterstellten Ausrede, da geht es ja um das Zigarette anzünden und nicht. Da ist Walter Praedel dann noch so ehrlich und sagt, dass er das gar nicht in der Vernehmung so gesagt hatte.
Maximilian Schönherr: Ich sehe die Sache etwas anders, weil ich ja den ganzen Prozess O-Ton gehört habe. Praedel ist einfach zu nichts mehr fähig. Der spult Dinge runter, die er schon tausendmal in der U-Haft runtergespult hat und jetzt plötzlich vor dem Gericht zu sagen - Und das Publikum im Gericht macht sich ja lustig. Es gibt eine Stelle, wo Walter Ziegler sagt: Wir haben ja ein psychologisches Gutachten, psychiatrisches Gutachten anfertigen lassen und sie sind ja nicht schwachsinnig - Und dann gibt's Gelächter im Publikum. Das heißt, die sind alle natürlich gegen Praedel. Die wissen alle, der hat hier nichts mehr zu lachen und der hatte auch nichts mehr zu lachen. Und ich fand es auch schön, dass man ihn mal ein bisschen flüssiger reden hört. Aber es ändert an dem ganzen Vorgang leider gar nichts. Das Urteil stand schon vorher fest. Die Verhandlung endete mit dem Plädoyer des Staatsanwalts und einer kurzen Rede des Pflichtverteidiger Karl Elvers am Nachmittag des 20. Dezember 1961. Also wir hören den ganzen Tag 20. Dezember. Mit einer langen Mittagspause, weil ein paar Zeugen nicht erschienen waren. Auch interessant. Man weiß nicht, warum die nicht erschienen waren. Die waren aufgelistet. Und ich möchte sagen, Ziegler kann durchaus Drahtzieher gewesen sein, dass die Zeugen nicht kamen. Kann nur sein. Also sie haben zwei ganz willfährige Zeugen verhört und die anderen kamen einfach nicht, das ist ein bisschen ungewöhnlich für DDR-Verhältnisse in der DDR Juristerei. Und dann sagt [Richter Walter Ziegler:] Wir sehen uns morgen um 15 Uhr zur Urteilsverkündung wieder. Und diese endet dann so: [Ausschnitt aus der Urteilsverkündung - Strafprozess Praedel 1961]
[Stuhlrücken] [Richter Walter Ziegler:] Ich verkünde im Namen des Volkes das folgende Urteil: Der Angeklagte wird wegen Diversion in schweren Fall, Paragraph 22, Paragraph 24 Absatz 1, Absatz 2 Buchstabe B StGB zum Tode verurteilt. Dem Angeklagten werden die bürgerlichen Ehrenrechte auf Lebenszeit aberkannt. Das Vermögen des Angeklagten wird eingezogen. Der Angeklagte wird verurteilt an die deutsche Versicherungsanstalt Bezirksdirektion Frankfurt Oder in Höhe von 63'896 Mark 95 Schadensersatz zu zahlen. Die Auslagen des Verfahrens hat der Angeklagte zu tragen.
[Stuhlrücken]
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] In einer Zeit aggressiver Kriegsdrohungen und offener revanchistische Forderungen suchte der Angeklagte durch sein Verbrechen, die verbrecherischen Machenschaften der Ultras wirksam zu unterstützen. Auf dem fünften gesamtbosnischen Sowjet-Kongress im Juli 1918 erklärte Lenin: Ein Revolutionär, der nicht heucheln will, kann auf die Todesstrafe nicht verzichten. Die Arbeiterklasse zieht im Kampf für die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft friedliche Methoden gegenüber der Anwendung von Gewalt vor, welche Formen und welche Schärfe jedoch der Klassenkampf annimmt, das hängt in erster Linie vom Verhalten des Klassenfeindes selbst ab. Da, wo er an den Grundlagen unseres Staates rüttelt, muss er mit den entschiedensten Abwehrmaßnahmen rechnen. In voller Übereinstimmung mit den Interessen des deutschen Volkes und den Grundsätzen der Gerechtigkeit wird deshalb in der programmatischen Erklärung des Staatsrates unmissverständlich hervorgehoben: Den Gegner schlagen wir, wo er sein Haupt erhebt. Ihn packen wir unversöhnlich an, mit ihm sprechen wir eine harte Sprache, denn wir hassen die Militaristen und Revanchisten, die vor dem Volk über und über mit Schuld beladen sind und wiederum alles vernichten wollen. Diese absolute Wahrheiten mögen auch alle diejenigen erkennen, die es noch heute für nötig halten, sich ideologisch mit der NATO und mit den Bonner Ultras zu verbinden. Auch sie befinden sich auf einem sehr gefährlichen Weg, der früher oder später damit endet, dass sie sich vor den Gerichten der Arbeiter und Bauern-Macht werden verantworten müssen. Da der Angeklagte sich mit seinem Verbrechen skrupellos außerhalb der Gesellschaftsordnung in der Deutschen Demokratischen Republik stellte, machte das Gericht von deren Paragraph 32 StGB gebotene Möglichkeit, dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte auszusprechen gebrauch. Da der Angeklagte in seiner Tätigkeit an der Deutschen Demokratischen Republik nach 1955 nur seine materiellen Vorteile im Auge hatte und sonst nur den Hass gegen den Sozialismus in seinem Herzen nährte, erkannte das Gericht entsprechend dem Antrag des Staatsanwalts auf die Einziehung seines Vermögens. Diese Entscheidung beruht auf Paragraph 22 Strafrechtsergänzungsesetz. Der unmittelbare materielle Schaden, den der Angeklagte verursachte, wurde von der deutschen Versicherungsanstalt unbeanstandet auf 63'896 Mark 95 Pfennig spezifiziert. Dieser Schaden ist durch den Angeklagten unter Verletzung der Strafgesetze vorsätzlich verursacht worden. Er ist daher gemäß Paragraph 823 BGB zum Ersatze dieses Schadens verpflichtet. Die deutsche Versicherungsanstalt hat rechtzeitig, d. h. vor Eröffnung des Hauptverfahren, diesen Schaden am Regresswege geltend gemacht, sodass der Angeklagte, gemäß Paragraph 268 StPO zur Schadensersatzleistung verurteilt worden ist. Die Entscheidung über die Auslagen des Verfahrens beruht auf Paragraph 353 der Strafprozessordnung in Verbindung mit der StkVO folgen dann die Unterschriften.Angeklagter Praedel, ich habe Sie noch darüber zu belehren, dass Sie gegen dieses Urteil Berufung einlegen können, wenn Sie meinen, dass Sie zu Unrecht oder zu hart bestraft worden sind. Sie können sich eine Woche lang überlegen, ob Sie von diesem Recht Gebrauch machen wollen. Das heißt, Sie müssen sich schlüssig werden bis zum Donnerstag der nächsten Woche. Bis zu diesem Zeitpunkt muss Ihre Erklärung beim Bezirksgericht eingegangen sein, wenn Sie ein Rechtsmittel einlegen wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder Sie legen es durch Ihren Verteidiger ein oder Sie lassen sich aus der Haftanstalt zum Bezirksgericht zur Geschäftsstelle vorführen und geben dann hier Ihre Erklärung zu Protokoll. Das ist die zweite Möglichkeit. Also entweder hier zu Protokoll oder durch Ihren Verteidiger und bis zum Donnerstag der nächsten Woche, wenn Sie von dem Recht der Berufung Gebrauch machen wollen. Haben Sie das verstanden?
[Walter Praedel:] Jawohl.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Sie können sich darüber auch noch mit Ihrem Verteidiger unterhalten.
[Walter Praedel:] Jawohl.
[Staatsanwalt Karl-Heinz Borchert:] Damit schließe ich die Sitzung des ersten Strafsenats des Bezirksgerichts Frankfurt Oder.
[Ende - Ausschnitt aus der Urteilsverkündung - Strafprozess Praedel 1961]
Das Ende eines politischen Prozesses. Walter Praedel, so wird er zum Schluss belehrt, kann Rechtsmittel dagegen einlegen. Es soll bis zum Schluss wie ein ganz ordentlicher Strafprozess dann doch auch sich anhören. Walter Praedel wird zum Tode durch das Fallbeil verurteilt, und am 25. Januar 1962, vier Wochen später, wird das Urteil vollstreckt. Was für mich recht deutlich wird und da entfaltet der Mitschnitt eine ganz eigene Kraft, Töne bringen die handelnden Menschen emotional nah. Hier wird aus einem recht einfachen Mann, der eigentlich ein schreckliches Leben hatte, also in die faschistische Weltkriegsmaschinerie gerät, zum Mörder in der Wehrmacht wird, in einem sowjetischen Straflager sieben Jahre verbringt und dann mit diesem doch, finde ich, grottigen Leben wird dann als ideologischer Überzeugungstäter dargestellt, der am Ende auch noch als Beleg für die revanchistische Haltung der Bonner-Regierung herhalten muss und sodann mit dem Tode bestraft wird. Was eigentlich ein fürchterliches Leben unter zwei Diktaturen - ein recht leichtes Ziel für eine komplett übereifrige politische Justiz. Ist der Prozess bzw. das Todesurteil eigentlich sehr weit verbreitet worden, damals 61/62?
Maximilian Schönherr: Gab zwei längere Artikel in der DDR Presse, wo immer von einem faschistischen, unbelehrbaren Täter die Rede war. Mehr hab ich dann nicht mehr lesen können. Ich habe ein Interview von ein Jahr vorher, nämlich 1960 mit Ziegler gelesen - das ist im Stadtarchiv von Frankfurt an der Oder - da erzählt Ziegler seine eigene Karriere ganz anders, als sie in Wirklichkeit war. Er lügt eigentlich hier von vorne bis hinten. Er sagt quasi er kam aus dem Nichts plötzlich in Frankfurt an der Oder an und die ganze Vorgeschichte seiner quasi Strafversetzung aus Berlin tauchte da nicht auf. Es gibt ein bisschen DDR Presse, aber dann wurde der Praedel völlig vergessen. Und in diesem Archiv ist eben die ganze Dokumentation da und das ist wirklich wieder großartig gewesen, das zu lesen. Ich höre ja original O-Töne, seit ich Rundfunk mache und je mehr ich höre, desto mehr weiß ich die Qualität der Länge zu schätzen. Und mir gehts nicht nur um das Persönliche, das man den Praedel kennenlernt, den lernen wir eigentlich nur teilweise kennen.
Dagmar Hovestädt: Ja, auch die Richter und Staatsanwälte und diese ganze Maschinerie. Du hörst ja, von jedem kriegst du was mit, nicht nur von Praedel selber.
Maximilian Schönherr: Genau. Und in meinem Beruf, dem Rundfunk-Journalismus ist es ja üblich, dass man in vier Minuten Beitrag macht, jetzt über irgend-, irgendeine Geschichte, die in den 1950er Jahren passiert ist und man nimmt dann zweimal 30 Sekunden O-Ton raus aus irgendeinem Archiv, deutsches Rundfunkarchiv oder eben auch aus eurem Archiv. Und dann kriegt man den Kontext zwar mit, man versteht die ganze Situation. Aber dieses Impertinente des Durchhörens ist eine andere Qualität. Und als wir hier und auch im Archivradio die operative Psychologie beleuchtet haben, hier im Podcast auch - ich hab das vorher Forschern gezeigt, diese O-Töne, die ich gefunden habe in eurem Archiv und die sagten, also Historikern, die sagten: Wir haben immer nur Akten gelesen und dadurch, dass wir das hören, ordnen wir das anders ein. Ich bin kein Historiker, ich weiß nicht, wie die das jetzt anders einordnen, aber das hat eine eigene Qualität. Es ist also nicht unbedingt nur Kosmetik.
Dagmar Hovestädt: Ausschnitte von diesem Strafprozeß hat mein Kollege Jens Niederhut in seinem Online-Aufsatz über die Tonüberlieferung im Stasi-Unterlagen-Archiv auch mit dazu online gestellt. Aber der gesamte Strafprozeß, von dem wir hier Ausschnitte gehört haben gegen Walter Praedel, geht ab Juni 2021, dank dir, im Archiv Radio des Süd-West Rundfunks in voller Länge online. Dafür hast du ja dann auch einen Antrag gestellt gehabt bei uns hier im Archiv und anschließend dann auch - und für alle vorhersehbare Zeit - ist er dann in der Audiothek der ARD nachzuhören. Gräbst du eigentlich noch weiter in Sachen Praedel?
Maximilian Schönherr: Glaube nicht. Es gibt jetzt diesen O-Ton des Prozesses. Auf den Webseiten des Archivradios werden viele Scans von Originaldokumenten des MfS, also aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv zu diesem Prozess zu sehen sein. Und der Wikipedia-Artikel über Walter Praedel und auch über den Richter steht auch ganz gut da. Ich bin ja kein Historiker, sondern ich bin interessierter Zuhörer. Deswegen now for something completely different.
Dagmar Hovestädt: Ein mit allem zuvor gehörten völlig unverwandter, ganz anderer Originalton aus dem Audiobereich des Stasi-Unterlagen-Archivs.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferung des MfS. Ursel Lorenzen berichtete am 28.03.1988 in der Bezirksverwaltung Dresden über ihre Tätigkeit als sogenannte Kundschaften der HVA der Auslandsspionage. Sie war seit den frühen 60er Jahren als Sekretärin bei der NATO in Brüssel beschäftigt, wo sie für den britischen Direktor Terrence Moron arbeitete. Durch diese Position hatte sie Zugang zu geheimen Dokumenten, unter anderem über das Krisenmanagement der NATO. 1968 wurde Ursel Lorenzen vom HVA Offizier Dieter Will für die Agententätigkeit rekrutiert. Gewarnt durch die Festnahmen im Rahmen der Aktion "Anmeldung" des Verfassungsschutzes zog die HVA sie am 5. März 1979 aus Brüssel ab. In der DDR heiratete Ursel Lorenzen Dieter Will. Den materiell bescheidenen sozialistischen Alltag, empfand das Paar bald als trist und enttäuschend. Nach einigen Umzügen erhielt das unzufriedene ehemalige Agenten-Paar schließlich eine luxuriöse Villa in der Nähe des Berliner Tierparks. Basierend auf den Erinnerungen von Ursel Lorenzen entstand 1989 der Dreiteiler "Vera - Der schwere Weg der Erkenntnis" des DDR-Fernsehens.
[Archivton]
[Ursel Lorenzen:] Von allergrößter Bedeutung natürlich war selbstverständlich die Partnerschaft mit und die Liebe zu Dieter, das Vertrauen, das ich in ihn hatte, sein unerschütterliches Bewusstsein, mit dem er mir immer wieder Kraft gab. Zur Meisterung der psychologischen Situation im persönlichen Leben eines Kundschafters gehört die intelligente Gestaltung desselben sowie die Wahrnehmung aller verbleibenden Möglichkeiten. Eine der wichtigsten Kraft und Regenerationsquellen für uns waren die Urlaube im Winter und im Sommer, die wir so optimal wie möglich gestalteten. Die Wochenenden, an denen wir es einrichten konnten wegzufahren und speziell für mich, aber bis zu einem gewissen Grade auch für Dieter, die Tage, die wir regelmäßig bei meiner Familie in Hamburg verbrachten. Die Erfolge in der Arbeit, jede gelungene operative Handlung, waren für uns beide ein sehr großer psychologischer Ausgleich und eine Befriedigung oder besser gesagt sie stärkten unser Bewusstsein für die Sicherung des Friedens, eine effektive Tat vollbracht zu haben. Während einer zwanzigjährigen Tätigkeit müssen viele besonders angespannte Situation gemeistert und Anpassungsleistungen erbracht werden. Um hierfür die Kraft zu finden, muss man eben sein Leben dementsprechend einrichten und gestalten. Das bzw. die Leben des Kundschafter müssen zu einem völlig normalen Phänomen und dürfen zu keiner Belastung werden. Die Grundlage aller Voraussetzung meines Erachtens ist, ein solides Leben zu führen, auf seine Gesundheit zu achten, eine hohe Disziplin sich zu eigen zu machen und immer mit einem hohen Bewusstsein der Wichtigkeit und Notwendigkeit der Arbeit leben. Die ganze Problematik des psychologischen Ausgleichs wurde bei uns deshalb zweitrangig, weil sie so gut wie nicht existierte, was natürlich der Arbeit zu Nutzen kam. Den notwendigen Ausgleich haben wir beide in unserer Partnerschaft gefunden, die dadurch, dass sie streng genommen mit unserer Kundschafterarbeit begonnen hatte, auch parallel mit dieser Aufgabe entwickelt und gestärkt wurde und zu einer solchen Kraft anwuchs, die eigentlich allem widerstand und die es uns gestattete, auch die schwierigsten Situationen verhältnismäßig unkompliziert zu meistern. Was unter Umständen für andere Kundschafter zu einem Problem werden kann, war bei uns seit langem in unser normales Leben integriert. Wir kannten nur das Leben im Ausland. Wir lebten seit Jahren mit anderen Völkern, kannten ihre Sitten und Gebräuche, so dass die in diesem Zusammenhang notwendigen Anpassungsleistungen für uns nicht existierten. Aber wo einem Kundschafter manchmal erheblich Anpassungsleistungen abgefordert und abverlangt werden, ist bei Differenzen und Konflikten mit Einzelpersonen. Diese Konflikte, die ohne Zutun des Kundschafters entstehen können, müssen aber bewältigt werden. Im Normalfalle würde auch ein Kundschafter sie irgendwie lösen, doch sollten sie in irgendeinem Zusammenhang mit seiner Arbeit stehen, muss er sie so bewältigen und überwinden, dass dadurch nie die Arbeit oder gar die Stellung gefährdet werden kann. Dies kann im schlimmsten Fall über Jahre hinweg zu einer ganz enormen Anpassungsleistung ausarten, wobei hier wieder die tägliche Aussprache und Diskussion mit dem Partner den erwünschten und notwendigen Ausgleich herbeiführen müssen.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."