Der "große Bruder"
Dieser Band veranschaulicht anhand neu ausgewerteter Dokumente mit vielen konkreten Beispielen die unterschiedlichen Facetten der KGB-Präsenz in der DDR.
Douglas Selvage und Maximilian Schönherr bei der Aufnahme des Podcasts, Quelle: BArch
Das Verhältnis zwischen den "befreundeten" Geheimdiensten KGB und Ministerium für Staatssicherheit der DDR wurde durch den Begriff "großer Bruder Sowjetunion" geprägt. So hat der Historiker Douglas Selvage seine Studien über die beiden östlichen Dienste überschrieben, die er zusammen mit dem Historiker Georg Herbstritt jetzt in einem Buch veröffentlicht hat. Im Gespräch illustriert er die Facetten dieser nicht unproblematischen Zusammenarbeit.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu unserer neuen Folge. Zusammen mit Dagmar Hovestädt führe ich Sie durch diese Stunde. Dagmar Hovestädt leitet die Abteilung Kommunikation und Wissen im Bundesarchiv im Bereich Stasi-Unterlagen-Archiv. Ich bin Maximilian Schönherr, kenne vor allem den Audiobereich des Archivs. Ich arbeite als Journalist und ehrenamtlich für die Wikipedia.
Dagmar Hovestädt: Heute geht es um das Zusammenspiel von Geheimdiensten, ganz speziell um das Verhältnis des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zum sowjetischen Geheimdienst KGB. Auch wenn wir uns mit dem Podcast von aktuellen Entwicklungen in der Regel fernhalten, so ist dieses heutige Thema eben doch auch sehr aktuell, weil der Befehlshaber des jetzt im März 2022 stattfindenden russischen Krieges gegen die Ukraine ein ehemaliger KGB-Agent ist. In diese Geschichte einzutauchen und zu schauen heißt, ein Verständnis entwickeln zu können, wie eine Weltsicht geprägt wurde. Der KGB beziehungsweise seine Vorgänger waren nicht nur Vorbild und Anleitung für den Aufbau der DDR-Geheimpolizei. Die Sowjetunion war insgesamt das große Vorbild der gesellschaftlichen Ordnung. Die SED-Führung ließ kaum eine Gelegenheit aus, dem großen Bruder im Osten öffentlich zu huldigen. "Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen" war das Motto der Massenorganisation Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, kurz DSF, der zuletzt weit über sechs Millionen DDR-Menschen angehörten. Und in der Schule war vor allem Russisch die erste Fremdsprache.
Maximilian Schönherr: Diese "Freundschaft" spielte auch im Innenleben der Stasi eine durchgängige Rolle und hatte in den Akten sogar eine eigene Abkürzung. Das habe ich jetzt gelernt durch das Buch, um das es heute geht. F bedeutet Freunde. Es wurde sofort durchgewunken, wenn an den Akten ein F dabeistand. Der Geheimdienst der "Freunde" hieß ab 1954 KGB, zuvor NKGB – deutsch: Volkskommissariat für Staatssicherheit. Sein Aufbau war die Blaupause für das 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit. Tausende sowjetische Agenten bauten das MfS mit auf. Gemäß dem Vorbild aus Moskau wurde das MfS in Berlin eine Mischung aus Inlands- und Auslandsgeheimdienst sowie eine Geheimpolizei. Da liefen in der jungen DDR also KGB- und MfS-Offiziere herum, die wiederum jeder mit ihren eigenen Intentionen Spitzel warben. Da stellt sich die Frage: Wie vertrugen die sich in der freien Späh-Wildnis? Zogen sich die Sowjets irgendwann, als die DDR einigermaßen selbstsicher dastand, zurück und überließen der Stasi ganz das Feld?
Dagmar Hovestädt: Diese Dynamiken zwischen den Geheimdiensten gehören zu einem Forschungsfeld unseres Forschungsbereichs. Die Stasi-Unterlagen sind dafür eine einzigartige Quelle. Mein Kollege Douglas Selvage, der seit 2008 bei uns arbeitet und zurzeit an die Humboldt-Universität zu Berlin abgeordnet ist, hat sich insbesondere diesem Binnenverhältnis zum KGB gewidmet. Er ist, wie man dem Namen anmerken kann und gleich im Gespräch auch hören wird, ein amerikanischer Historiker. Seine neueste Publikation, zusammen mit einem weiteren Kollegen aus dem Haus, Georg Herbstritt, herausgegeben, trägt den Titel: "Der 'große Bruder' - Studien zum Verhältnis von KGB und MfS 1958 bis 1989".
Maximilian Schönherr: Ich habe das Buch gelesen. Es ist schon bemerkenswert, dass so viele Fakten über die beiden Geheimdienste recherchierbar waren. Neben dem Stasi-Unterlagen-Archiv gab es aber auch noch eine andere Dokumenten-Fundgrube, die wir im Gespräch mehrfach thematisieren. Die lag – Spoiler – nicht in Moskau.
Dagmar Hovestädt: Sollten wir noch ein paar Begriffe erklären, die in eurem Gespräch gefallen sind?
Maximilian Schönherr: Das sollten wir gerne tun, klar. Was ist dir denn aufgefallen? Du bist ja die erste Hörerin des Gesprächs.
Dagmar Hovestädt: Ich finde, wir sollten kurz den geheimdienstlichen Gebrauch des Wortes "Aufklärung" erläutern, den man ja im regulären Sprachgebrauch eher im 18. Jahrhundert verortet. Aber in der Geheimdienstsprache geht es dabei darum, Informationen über die sogenannte gegnerische Seite zu erhalten, sie in dem Sinne aufzuklären. Im MfS stand das Wort "Aufklärung" für den Bereich der Auslandsspionage, die überwiegend von der Abteilung "HV A" – Hauptverwaltung A –, organisiert wurde. Den Begriff findet man in den Unterlagen auch im Kontext von Sachverhaltsermittlungen, also Aufklärung eines Sachverhalts, oder im Kontext von Überprüfungen von Menschen daraufhin, ob sie sich als IM, also als Inoffizieller Mitarbeiter, eignen – demnach also Aufklärung des Kandidaten.
Maximilian Schönherr: Dann erwähnt Douglas Selvage den Begriff "Operativgruppen". Es gibt auf der Webseite des Stasi-Unterlagen-Archivs das sogenannte MfS-Lexikon. Kurze Zwischenfrage: Wie viele Leute haben das erstellt?
Dagmar Hovestädt: Das ist quasi das gesammelte Wissen unseres Forschungsbereichs. Da gibt es, glaube ich, fünf oder sechs Herausgeber und insgesamt etwa 20 Autoren, wenn ich das jetzt aus dem Kopf richtig zitiere. Die sind alle in dem Lexikon aufgeführt und bei den meisten Einträgen des Lexikons ist der jeweilige Bearbeiter abgebildet.
Maximilian Schönherr: Das gibt es aber nicht als Buch?
Dagmar Hovestädt: Natürlich gibt es das als Buch, und zwar schon in der vierten Auflage.
Maximilian Schönherr: Ah, okay. Das heißt auch MfS-Lexikon?
Dagmar Hovestädt: Genau. Wir haben es in die Seite integriert, weil es immer sehr hilfreich ist, auch online beim Lesen schnell mal Begriffe kurz und knackig definiert zu bekommen.
Maximilian Schönherr: Ja. Ich finde es jedenfalls ein tolles Lexikon. Operativgruppen. Ich kürze die Definition der Operativgruppen mal ab und lese in Kurzfassung das vor, was im MfS-Lexikon steht. Das lässt sich ja ausführlicher nachlesen. Zitat: "Das Ministerium für Staatssicherheit unterhielt ständige Niederlassungen in der Sowjetunion (seit 1951), in Bulgarien (1961), Ungarn (1964), ČSSR (1965), Polen (1980) sowie in einigen Entwicklungsländern, die als Operativgruppen, kurz OG, bezeichnet wurden. In den osteuropäischen Ländern umfasste eine OG zuletzt 8 bis 14 MfS-Offiziere, die auf mehrere Städte verteilt waren und bis zu 40 IM sowie Hunderte von Kontaktpersonen führten, bei denen es sich zumeist um DDR-Bürger handelte, die längerfristig in dem Land lebten. Die Aufgabe der Operativgruppen ..." - ich zitiere immer noch das MfS-Lexikon - "... bestand unter anderem darin, DDR-Bürger im Ausland zu überwachen und Fluchtversuche in den Westen zu verhindern. In der ČSSR ab 1968 und in Polen ab 1980 waren sie an der Unterdrückung der Opposition beteiligt. Viele Geheimdienste sozialistischer Länder unterhielten ihrerseits bis 1989/90 eigene Operativgruppen in der DDR." Zitat Ende.
Dagmar Hovestädt: Knapp und interessant. Douglas Selvage erwähnt auch einen elektronischen Informationsaustausch zwischen den befreundeten Diensten in Osteuropa. Dieser Austausch heißt SOUD oder SOUD. Auch den haben wir im MfS-Lexikon gut erläutert. Von mir auch eine gekürzte Version dazu. Es ist einfach spannend, das in der Prägnanz einmal nachzuvollziehen, was das eigentlich ist und wie weit dieses elektronische Sammeln von Informationen schon war, aber auch, wie nicht ganz so effizient es eigentlich war."SOUD ..." - oder SOUD "... ist die Abkürzung für 'System der vereinigten Erfassung von Informationen über den Gegner', ..." – das beruht auf dem russischen Original, das ich hier nicht vorlese, weil ich kein Russisch kann, aber im Lexikon kann man das natürlich nachlesen [russisch: "Sistema Objedinjonnowo Utschjota Dannych" o Protiwnike] – "... den gemeinsamen Datenspeicher kommunistischer Geheimdienste in Moskau. 1977 vereinbarten die Geheimdienste aus der Sowjetunion, Polen, der DDR, der ČSSR, Ungarn, Bulgarien, Kuba und der Mongolei den Aufbau des SOUD. 1981 ging die Datenbank in Betrieb, 1984 schloss sich Vietnam an.1987 waren in diesem Informationsspeicher 188.343 Personen in 15 Merkmalskategorien erfasst, darunter über 102.000 Angehörige gegnerischer Geheimdienste, 31.500 ausgewiesene oder unerwünschte Personen und ferner Unterstützer oppositioneller Gruppen, Diplomaten, Korrespondenten, Terroristen sowie andere Personen, die als Bedrohung für die sozialistischen Staaten galten. In der Regel handelte es sich um Bürger von Ländern, die nicht SOUD-Mitglied waren, zumeist westliche Staatsangehörige. Das MfS ließ 74.884 Personen im SOUD registrieren. Beim BStU sind davon noch 66.526 Datensätze vorhanden." Also jetzt im Stasi-Unterlagen-Archiv. "Die Kommunikation zwischen den beteiligten Geheimdiensten wurde über Moskau abgewickelt; lediglich der KGB hatte Gesamtzugriff auf SOUD. Seine Nachfolger haben ihn bis heute." – Damit sind die Nachfolger in Russland gemeint. – "... SOUD sollte ein Instrument zur Bewältigung der wachsenden innenpolitischen Probleme der teilnehmenden Staaten sein, sofern sie auf den KSZE-Prozess, grenzüberschreitende Kontakte und Reiseerleichterungen zurückgeführt wurden. "Das Interessante daran ist eigentlich an dem Ding – und das erläutert auch das MfS-Lexikon: "Der geheimdienstliche Nutzen blieb hinter den Erwartungen zurück. Unter anderem aus Sorge um den Schutz ihrer eigenen Quellen gaben die Geheimdienste nur zurückhaltend relevante Daten in SOUD ein. Die Trefferquote bei Auskunftsersuchen an SOUD war entsprechend niedrig. "So, der Rest aber wird auch im Gespräch sehr deutlich. Dann lass uns starten. Douglas Selvage über das Verhältnis des sowjetischen Geheimdienstes KGB zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR.
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Dr. Douglas Selvage: Die Kurzform ist: Seit 2008 war ich Projektmitarbeiter bei der Stasi-Unterlagen-Behörde für ein Projekt über die Stasi und den KSZE-Prozess. Das ist der sogenannte "Helsinki-Prozess" nach der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ein Teil des Projekts war auch die Zusammenarbeit zwischen der Stasi und dem KGB. Ich hatte immer Interesse an diesen Themen. Daraus ist dieses Projekt gewachsen und wir haben entschieden, diese sehr große Geschichte der Beziehungen der Stasi mit dem KGB zu recherchieren.
Maximilian Schönherr: Wenn wir zurückgehen in Ihre USA-Zeit, zum Beispiel in Ohio, wer weiß in Ihrer damaligen Umgebung, was die Stasi war?
Dr. Douglas Selvage: [lacht] Als ich jünger war, in Ohio, hat natürlich niemand gewusst, was die Stasi ist. Wir haben dort natürlich vom KGB gewusst, das war natürlich im Fernsehen. Als ich in der Schule war – ich erinnere mich, dass ich in der 10. Klasse war –, habe ich von Solschenizyn "Der Archipel Gulag" gelesen. Dann habe ich auch etwas über NKWD und KGB gelernt. Das war das erste Mal, dass ich mich mit dem Thema Geheimdienste beschäftigt habe.
Maximilian Schönherr: Bleiben wir kurz bei der Sprache. Sie haben in Archiven sehr viele Artikel, Nachrichten, Notizen, Karteikarten und so weiter, gelesen. Das ist doch teilweise in Russisch gewesen, oder?
Dr. Douglas Selvage: Ja, das stimmt. Für das Buch habe ich auch die Mitrokhin Papers der Cambridge University benutzt und das ist natürlich alles auf Russisch. Ich habe an der Universität nicht nur Deutsch, sondern auch Polnisch und Russisch gelernt. Bei Polnisch war ich ein bisschen fleißiger, aber ich kann sehr gut Russisch lesen. Das habe ich natürlich genutzt und dann mithilfe dieser Sprachen selbst erlernt, Tschechisch und Bulgarisch zu lesen. Deshalb kann ich auch die Akten da in den Archiven benutzen.
Maximilian Schönherr: Wir müssen jetzt über das Archiv, das Sie in Cambridge besucht haben, reden. Vor dem Lesen Ihres Buches habe ich den Namen nur ganz am Rande mal gehört und gleich wieder vergessen. Wie spricht man ihn aus? [phonetisch: Mitrochin]?
Dr. Douglas Selvage: Wassilli [phonetisch: Mitrokhin].
Maximilian Schönherr: Mitrokhin. Was ist dieses Archiv und wie viele Seiten, wie viele Akten haben Sie da gefunden?
Dr. Douglas Selvage: Es sind keine Akten, wie wir sie hier im Stasi-Unterlagen-Archiv haben. Wassilli Mitrokhin war damals Archivar für die Aufklärung des KGB. Er war dafür zuständig, die Akten umzuziehen, weil das Hauptquartier des KGB von der Lubjanka in Moskau nach Jassenowo umgezogen war. Er hat die Akten überprüft und vorbereitet. Er hat sich praktisch gegen dieses Regime gewendet und angefangen, diese Akten zu lesen, handschriftlich Notizen zu machen, und hat sie zu sich nach Hause geschmuggelt und einfach versteckt; im Boden oder auch in seiner Datsche unter dem Boden. Ich denke, er hat auch Teile von Dokumenten mitgebracht. Bei der Cambridge University sind alle diese Notizen. Die waren handschriftlichen, aber er hat schon in den 90er-Jahren angefangen, siezu tippen. Ich habe nur die benutzt, die getippt worden sind, die handschriftlichen sind zum Teil immer noch geheim. Natürlich musste der britische Geheimdienst überprüfen, ob es da] nichts über sie drin gibt, das problematisch ist, oder auch über die CIA oder andere Dienste. Interessanterweise waren alle Namen des Bundesnachrichtendienstes drin. Ich weiß nicht warum. [lacht] Aber andere wurden dann geschwärzt, zum Beispiel der eines angeblichen Chief of Station von der CIA oder von MI6. Aber die Namen vom BND sind aus irgendwelchen Gründen alle da.
Maximilian Schönherr: Wir haben das Thema immer wieder mal, auch die Historiker, die im BND das Archiv aufarbeiten konnten. Teilweise ist es sehr komplex, sagen wir es mal so. Sie haben alles verschriftlicht gelesen, auf Russisch. Wie viele Seiten - jetzt mal gefühlt, 20 oder 2.000?
Dr. Douglas Selvage: Ich würde sagen, ungefähr 2.000 Seiten. Gott sei Dank haben wir heutzutage neue Technologie. Was ich eigentlich getan habe – und ich durfte das machen –, ist, dass ich alle getippten Notizen aus dem Mitrokhin-Archiv fotografiert habe, als PDF erstellt und dann die optische Zeichenerkennung benutzt habe. Was wir hier gemacht haben mit meinen Projektmitarbeitern: Ich habe sie gebeten, wo immer Deutschland, DDR, Bundesrepublik oder irgendetwas deutsches erwähnt wurde, sollten sie das bitte übersetzen. Sie konnten das von Russisch auf Deutsch übersetzen.
Dann haben wir Notizen gemacht. Die meisten Einträge waren einfach Namen von Menschen, von irgendwelchen Westdeutschen oder Ostdeutschen, die Kontakt zum KGB hatten. In den meisten Fällen ging es eigentlich um Agenten oder vertrauliche Kontaktpersonen. Was wir gemacht haben, ist, dass wir sie auch hier im Stasi-Unterlagen-Archiv recherchiert haben. Es hat uns interessiert: Gibt es vielleicht hier Informationen über diese Personen und was sie für den KGB gemacht haben? Es war sehr unterschiedlich, was wir gefunden haben. [lacht] In vielen Fällen hatte das MfS überhaupt keine Ahnung, dass der KGB zum Beispiel einen Ostdeutschen rekrutiert hat. In anderen Fällen hat die Stasi selbst diese Person an den KGB übergeben. Es gab sehr unterschiedliche Dinge, die zusammengekommen sind, aber es war hauptsächlich über Personenrecherchen.
Maximilian Schönherr: Für einen Historiker und für die Wissenschaft ist das Spannende, die Fakten zu vergleichen. Also, Mitrokhin behauptet irgendetwas, meinetwegen auf Seite 258 unten, und Sie finden dann tatsächlich etwas. Da haben Sie wahrscheinlich gejubelt, wenn Sie das im Stasi-Unterlagen-Archiv fanden –auf andere Weise dargestellt, aber dasselbe Faktum.
Dr. Douglas Selvage: Ja, das stimmt. Es gab zum Beispiel irgendwelche Studenten aus dem Ausland, aus Lateinamerika, die – nach den Mitrokhin-Unterlagen – in der DDR rekrutiert worden sind. Hier im Stasi-Unterlagen-Archiv haben wir dann gefunden, dass sie zuerst von der Stasi rekrutiert und später an den KGB übergeben wurden. Manchmal steht da, wie sie sie trainiert haben und was sie gemacht haben. Es gab viele solche Fälle.Es gab andere Fälle, wo überhaupt nichts zu finden war. Die frühere Praxis der Stasi war bis 1963 – oder irgendwann in den 60er Jahren – wenn der KGB eine Person [lacht] oder eine Quelle übernehmen wollte, die Stasi hat einfach die ganze Akte, auch die Karteikarten, dem KGB übergeben.Maximilian Schönherr: Im Original?
Dr. Douglas Selvage: Im Original. Also, das heißt- -
Maximilian Schönherr: Das heißt, die waren dann weg? Das MfS hatte die nicht mehr?
Dr. Douglas Selvage: Ja, das hatten sie nicht mehr. Es kann auch sein, dass die damalige Stasi-Akte immer noch beim KGB in Moskau - nun in Jassenowo - liegt.
Maximilian Schönherr: Und da kommen wir nicht ran?
Dr. Douglas Selvage: Nein, leider. Wir können sagen, für Wissenschaftler und im Allgemeinen, dass das Archiv des KGB ist geschlossen ist. Deswegen sind diese Mitrokhin-Unterlagen sehr wichtig. Das sind hauptsächlich Notizen aus diesem Archiv, aber das ist eine Überlieferung, die wir haben. Es ist auch interessant, weil es von der Aufklärung ist. Im Falle der Stasi wurden ungefähr 90 Prozent der Akten der Aufklärung zerstört, aber man findet in den Mitrokhin-Notizen und auch in anderen Archiven der Geheimpolizeien Hinweise darüber, was die HV A eigentlich gemacht hat. Ich habe zum Beispiel mehrmals in Bulgarien und Tschechien recherchiert. Dort gab es damals Treffen mit der HV A und die Offiziere der HV A haben gesagt, was sie da eigentlich machen. Und das haben wir leider nicht in Berlin.
Maximilian Schönherr: Wir haben in Lichtenberg HV A in einer Etage -das stelle ich mir gerade vor. Haben wir im MfS in Lichtenberg auch KGB-Leute gehabt? Hatten die ihre festen Zimmer?
Dr. Douglas Selvage: Ja. [lacht] Bis 1958 hat der KGB oder seine Vorgänger das MfS praktisch geleitet. Es gab sogenannte Berater und sie haben praktisch die Befehle gegeben und sie haben alles geführt. 1958 wurden diese Berater durch sogenannte Verbindungsoffiziere ersetzt, viel weniger Verbindungsoffiziere, und jede "Linie" - wie sie das genannt haben - der Stasi hatte dann einen Verbindungsoffizier. Jede Bezirksverwaltung der Stasi hatte auch einen KGB-Verbindungsoffizier. Sie sollten sich miteinander koordinieren, hauptsächlich bei der Militär-Abwehr - natürlich gab es auch sowjetisches Militär in der DDR -, aber auch für die Aufklärung. Die KGB-Vertretung in Karlshorst sollte sich ab 1958 wirklich nur auf die Aufklärung im Westen fokussieren und diese Verbindungsoffiziere sollten dabei helfen.
Maximilian Schönherr: Aber der Wechsel 1958 war kein eigentlicher? Der war nur Augenwischerei, wie man im Deutschen sagt? Denn das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, war immer Handlanger des KGB.
Dr. Douglas Selvage: Ja, das empfinde ich auch so. In unserem Sammelband gibt es neue Forschungsergebnisse, die zeigen: Dieses alte Bild oder das Bild, das viele haben, dass ab 1958 die Stasi praktisch frei war und ihre Sache gemacht hat, war nur zum Teil wahr. Der KGB hat natürlich der Stasi vertraut, wenn es darum ging, Opposition im Inneren zu unterdrücken oder die Sicherheit der DDR zu gewährleisten. Aber der KGB war auch sehr aktiv auf dem Territorium der DDR und hat natürlich [lacht] auch die Ostdeutschen ein bisschen ausspioniert, insbesondere die Partei und auch die Sicherheitsorgane.
Maximilian Schönherr: Wenn ich dieses Buch lese, denke ich mir: Alles ist voll mit Agenten, und zwar verschiedener Couleur. Da gibt es welche von der Stasi, dann gibt es welche vom KGB, dann sind vermutlich von der Bundesrepublik, vom BND, auch einige da gewesen. Dann gehe ich nach Rumänien - das ist das letzte Kapitel in Ihrem Buch - und da bauen die sogenannte - ich kannte das Wort überhaupt nicht; für Sie ist das natürlich total geläufig - -
Dr. Douglas Selvage: Eine legal abgedeckte Residentur.
Maximilian Schönherr: Eine Residentur. Ich wollte eigentlich darauf hinaus: In Rumänien hat der KGB so eine Residentur aufgebaut und zwei Jahre später [lacht] hat das Ministerium für Staatssicherheit auch eine aufgebaut. Es war aber ein sowjetischer Satellitenstaat. Die Königsfrage wäre quasi: Wenn der KGB in der DDR spioniert, ohne dass es das Ministerium für Staatssicherheit immer genau weiß, hat die Staatssicherheit auch in der Sowjetunion spioniert?
Dr. Douglas Selvage: Ja, gut, leider haben wir dazu keine Antwort gefunden, wenn es um Spionage der Staatssicherheit in der Sowjetunion ging. Das hätten sie nicht machen sollen. Es ist in diesem Fall ein bisschen wie die Beziehung zwischen dem BND und den USA. Aber natürlich gab es in Moskau eine Operativgruppe, die in der DDR-Botschaft gedeckt wurde. Hauptsächlich sollten sie mit dem KGB bestimmte Fragen koordinieren, insbesondere sollte sie auf Ostdeutsche in der Sowjetunion aufpassen, sie ausspionieren, auch Aufklärung betreiben. Aber sie sollen die Sowjetunion nicht ausspionieren. Trotzdem gab es Fälle Ich hatte einmal eine Akte von 1988 von einen IM der Operativgruppe. Der hat gesagt, dass die Sowjets versucht haben, ihn zu rekrutieren, und die Stasi müsste da aufpassen. Natürlich gab es auch Berichte von dieser Operativgruppe des MfS am Ende der 1980er-Jahre über die Reformen der Sowjetunion. Für die gab es viele Ängste, die damit zusammenhingen. Sie haben versucht, dann darüber zu berichten. Also gab es diese Art. Aber sie sollten wirklich nicht irgendwelche illegalen Residenturen dort haben. [lacht] Soweit ich weiß, hatten sie die nicht. Es könnte sein, aber offiziell hatten sie keine wie der KGB in der DDR.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten –
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Maximilian Schönherr: IM "Wagner ", Erich Kobelt hieß er mit wahrem Namen. Der ist zum Beispiel ein Grenzgänger zwischen beiden Geheimdiensten.
Dr. Douglas Selvage: Ja, mindestens mit den beiden Geheimdiensten, vielleicht auch mit westlichen Geheimdiensten. Das ist eine ganz interessante Geschichte. Erich Kobelt war Geschäftsführer bei der "Gesellschaft für Menschenrechte" in West-Berlin. Das war eine Organisation, für die sich die Stasi und der KGB sehr interessiert haben, weil sie natürlich die Menschenrechtsverletzungen in der DDR und in der Sowjetunion angeprangert haben und Informationen, auch zu Einzelfällen, gesammelt haben. Natürlich wollten beide Geheimdienste die GfM infiltrieren. Die Hauptperson war wirklich ein Stasi-IM, dieser "Wagner", also Erich Kobelt. Seine Vorgeschichte ist auch interessant. Er hatte für die Amerikaner spioniert. Ich glaube, es war für die Counter Intelligence Corps in den 1950er-Jahren. Er ist dann nach Ost-Berlin gekommen, wollte quasi ein Doppelagent für die Stasi werden und hat angeboten, für sie zu spionieren. Stattdessen hat die Stasi ihn als feindlichen Agenten verhaftet [lacht]. Irgendwann ist er aus dem Gefängnis gekommen, ich glaube es war Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre, dann hat das MfS angeboten, ihn zu rekrutieren. Er hat dann versucht, dann Kontakt zu den Amerikanern aufzunehmen, aber sie haben nicht geantwortet und haben ihm kein Geld gegeben, das sie ihm angeblich schuldeten,. Und so hat er angefangen, für das MfS zu arbeiten. Sie haben ihn nach West-Berlin geschickt, er hat dann diese GfM infiltriert- -
Maximilian Schönherr: Ist das eine Karriere gewesen für ihn?
Dr. Douglas Selvage: Oh ja, das war eine Karriere für ihn. Und wenn man seine IM-Akte liest: Sein Führungsoffizier bei der Stasi hat gesagt, er war so ein Typ, der einfach ohne dieses Spionieren, ohne dieses Geheimdienst-Leben könnte er nicht leben. Für ihn war das ein großes Abenteuer. Und man sieht, wie er vorgegangen ist: Das war auch der Fall. Die Stasi hat sich geärgert. In dem Fall von Helmut Nitzsche, der einen Brief an Präsident Carter geschrieben hat, - er wollte aus der DDR ausreisen, das wurde ihm verboten – und dieser Brief wurde nach West-Berlin geschmuggelt. Und dann wurde er im Westen in der Presse veröffentlicht. Das war natürlich etwas, das der Stasi nicht gefallen hat. Dieser "Wagner" hatte die Stasi darüber informiert. Später hat sich herausgestellt, dass "Wagner" selbst das alles organisiert hatte. Er hatte der Stasi nichts erzählt, bevor der Brief herausgeschmuggelt worden war. Sein Führungsoffizier hatte ihn dann ausgefragt, warum er das gemacht hat. Er hat gesagt: "Ja, Sie haben mich in den 50ern verhaftet!" [lacht]
Maximilian Schönherr: Das habe ich dem Buch nicht entnommen. Vielleicht eine Stelle, die ich nicht gelesen habe.
Dr. Douglas Selvage: Ja, das kann auch nur aus meiner Erinnerung sein. Und der andere Fall war, dass er natürlich eine Zeit lang im Blick des Verfassungsschutzes in West-Berlin war. Die Stasi hat davon Wind bekommen und hat gesagt: "Wir müssen den Kontakt abbrechen, wir können Ihre monatlichen Zahlungen nicht mehr leisten." Eine Woche später hat er die sowjetische Botschaft in Ost-Berlin besucht und dann dort seine Dienste angeboten. Es stellte sich raus, dass der KGB wusste es natürlich, dann haben sie die Stasi kontaktiert und gesagt: "Wenn Sie ihn nicht nutzen möchten, dann übernehmen wir ihn gerne." [lacht] Die Stasi wollte ihn dann behalten, das heißt sie haben ihn trotz der Gefahren weiterhin benutzt und die Zahlungen getätigt. Aber der KGB wollte dann immer wieder Berichte bekommen.
Maximilian Schönherr: Jetzt würde ich gerne mal wissen: Karl-Eduard von Schnitzler – Der Schwarzer Kanal - kaufte in Intershops und in West-Berlin ein. [belustigt] Woher wissen Sie das?
Dr. Douglas Selvage: Es gab diese KGB-Illegalen. Das waren KGB-Agenten, die wir hier Inoffizielle Mitarbeiter nennen würden, und sie hatten Deckidentitäten, eine ganze Lebensgeschichte, eine Legende, gehabt. Obwohl der KGB nicht hätte in der DDR spionieren sollen, hatten sie auch ihre Illegalen in der DDR gehabt. Sie haben dann nach Hause, an die KGB-Zentrale, über ihre Erfahrungen in der DDR geschrieben und eine ihrer Beschwerden war, dass die DDR den Kapitalismus gut aussehen ließ, weil es diese Intershops gab, wo man nur die D-Mark benutzen konnte. Das war ja immer ein Streitpunkt zwischen Honecker und Breschnew. Sie haben geschrieben: "Karl-Eduard von Schnitzler sagt alles Schlimme über die Bundesrepublik, aber was macht er dann? Er hat trotzdem seine D-Mark, er geht in Intershops und geht in West-Berlin einkaufen. Was ist das denn für ein Kommunismus hier in der DDR?"
Maximilian Schönherr: Können wir das glauben?
Dr. Douglas Selvage: Ich denke schon. Ich denke, wir können das glauben. Man muss das natürlich überprüfen. Aber das zeigt auch die Einstellung dieser KGB-Illegalen in der DDR: Sie haben immer wieder nach Hause berichtet, der DDR nicht wirklich vertraut, insbesondere wenn es um Wirtschaftsbeziehungen mit der Bundesrepublik ging. Es gab mehrere illegale Residenturen. Es gibt sogenannte "legal abgedeckte Residenturen", die sind in der Botschaft. Alle nehmen an, dass in jeder Botschaft – egal welchen Landes – dass es dort die Geheimdienste gibt und sie sind irgendwie tätig. Aber es gibt illegale Residenturen, wo die Agenten keine diplomatische Immunität haben, wenn sie gefangen genommen werden und sie können im Gefängnis landen, vielleicht werden sie dann später ausgetauscht. Solche Illegalen des KGB gab es in der DDR. Und es gab eine besondere Residentur: Das ist ihre Geheimdienststation, "die Firma" genannt, und das war unter der sowjetischen Handelskammer in der DDR. Sie haben ausspioniert, wie die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR waren. Das heißt die Sowjetunion hat dem nicht immer vertraut, was Erich Honecker ihnen über die Handelsbeziehungen gesagt hat. Ja. Alle nehmen an, dass in jeder Botschaft – egal welchen Landes – dass es dort die Geheimdienste gibt und sie sind irgendwie tätig.
Maximilian Schönherr: Also, wenn KGB kritisiert - ich zitiere aus Ihrem ersten Aufsatz in dem Buch - : "Das gutmütige Verhältnis der deutschen Freunde zur Kirche", das gefällt dem KGB nicht, "und der niedrige Stand der atheistischen Propaganda."
Dr. Douglas Selvage: Es gab dieses praktische Abkommen - ich glaube, es war 1978 - zwischen der Kirchenführung der DDR. Es hieß "Kirche im Sozialismus". Es gab dann praktisch diese Nische, wo praktisch die SED gesagt hat: "Okay, wir lassen sie in Ruhe, solange sie sich auf religiöse Sachen fokussieren und ihre Sachen machen und solange sie dann praktisch nicht Probleme für uns schaffen, für das Regime, für die Regierung." Natürlich war das sehr kompliziert, dieses Verhältnis, aber das war diese Abmachung. Und das an sich hat dann praktisch die Sowjets, und insbesondere den KBG geärgert. Deswegen haben sie so berichtet. Gut, wie kann es sein, dass die Kirche immer noch so eine Rolle spielt in der DDR?! Natürlich, es war anders als in der Sowjetunion, wo praktisch - gut, es gab immer noch die orthodoxe Kirche, aber es war noch stärker unterwandert von KGB-Agenten.
Maximilian Schönherr: Ich habe jetzt ein Bild vor mir aus Ihrem Buch, und zwar Abbildung 1. Leider haben Sie wenig Bilder in dem Buch.
Dr. Douglas Selvage: [lacht]
Maximilian Schönherr: Also Abbildung 1 haben Sie untertitelt: "Das Zusammentreffen von Erich Mielke", das ist der Minister für Staatssicherheit, also der Stasi-Chef, "mit KGB-Major Vladimir Putin" Okay. "und dem ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow". Das symbolisiert die Position des MfS als Diener zweier Herren. Nämlich Partei SED und KGB?
Dr. Douglas Selvage: Ja, das stimmt. Das war es wirklich. Ja, Erich Mielke hat es so gesagt: "Natürlich, das MfS, die Stasi soll Schild und Schwert der Partei sein", das heißt der SED, aber er hat auch gesagt: "Wir sind eine Kampfabteilung der ruhmreichen sowjetischen Tscheka." Er hat praktisch die Stasi selbst als Teil des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes betrachtet.
Maximilian Schönherr: Ist denn Putin, der auf dem Bild schräg rechts, so leicht im Hintergrund steht, einer der kleineren Menschen in diesem Bild? War der damals schon eine große Figur? War der wichtig?
Dr. Douglas Selvage: Äh - nein. [lacht]
Maximilian Schönherr: Der kommt auch noch in einem anderen Foto vor.
Dr. Douglas Selvage: Es gibt viele Legenden. Auch westliche Journalisten zum Teil, aber natürlich russische Propaganda heutzutage, will dann seine Rolle damals in der DDR herausstellen. Weil er so eine große Bedrohung für die Demokratie, für die westliche Zivilisation, für die Menschenrechte ist heute, dann hätte er damals auch so böse sein müssen. Aber eigentlich war er –, gut, es gab den Verbindungsoffizier des KGB in Dresden, er war in Dresden stationiert, [phonetisch: Matwejewitsch]. Er war praktisch der Verbindungsoffizier und unter ihm, er hat sein Büro, es gab andere KGB-Offiziere, sie waren die KGB-Dienststelle und Putin war ihm untergeordnet. Das heißt, er war einer von vielen. Es gab viele kleine Putins damals in der DDR [lacht], KGB-Offiziere auf dieser niedrigen Ebene und sie haben praktisch alle dasselbe gemacht. Was sie gemacht haben ist, sie haben versucht, Ostdeutsche zu rekrutieren, die Kontakte insbesondere zur Bundesrepublik hatten, oder vielleicht manchmal, um sie selbst als Übersiedlungs-IM nach Westen zu schicken. Wie der Fall Jack Barsky - vielleicht haben Sie von ihm gehört - sie wollten sie auch benutzen, oder dann auch dann natürlich Bundesbürger, die die DDR besucht haben. Und dann in dem Bezirk haben sie versucht, sie auch zu rekrutieren und das haben viele Putins gemacht. [lacht] Wenn Sie wollen.
Maximilian Schönherr: Das heißt, das ist ein Zufall, dass Putin auf zwei oder drei Fotos von Ihrem Band auftaucht? Ist das Zufall, oder –?
Dr. Douglas Selvage: Ja, es gibt ein gewisses öffentliches Interesse daran und es gab ein paar Bilder, die neu sind, mit ihm darauf. Wir haben die veröffentlicht, aber wenn man die Texte liest, dann ist das natürlich eine andere Geschichte. Es gab diese große Aufruhr der Presse wegen des Stasi-Ausweises von Vladimir Putin und, ich vergesse, welcher Zeitung das war, aber sie haben gesagt: "Oh ja, vielleicht hat er auch für die Stasi gearbeitet." Aber wie ich das korrigiert habe, eigentlich haben alle diese Offiziere dieser KGB-Dienststelle einen Stasi-Ausweis bekommen. Das war mehr, damit sie dann einfach zur Bezirksverwaltung der Stasi leicht rein- und rausgehen konnten. Das war mehr wie ein Hausausweis, sie haben das nicht für ihre Arbeit benutzt irgendwie oder es heißt auch nicht, dass sie für die Stasi gearbeitet haben. Das war einfach eine, wie sagt man, eine Nettigkeit, die das MfS gemacht hat, damit sie mit dem KGB besser korrelieren konnte.
Maximilian Schönherr: Aber in der Bezirksverwaltung wusste jeder: Der ist vom KGB.
Dr. Douglas Selvage: Ja, das ist relativ sicher. [lacht] Die Überlieferung - wenn es um den KGB geht ist in dem Stasi-Unterlagen-Archiv in Dresden viel weniger, im Vergleich zu anderen ehemaligen Bezirken der DDR. Was ich aber da gesehen habe, ist zum Beispiel: In derselben Akte, wo der Putin-Stasi-Ausweis liegt, gibt es auch die anderen Stasi-Ausweise von allen anderen KGB-Offizieren der Dienststelle. Das heißt, die Stasi hat die gesammelt, bevor die nach Hause gegangen sind. [lacht] Und sie landen in dieser bestimmten Akte. Das heißt er war nichts besonderes im Vergleich zu den anderen Verbindungsoffizieren, zu den anderen Offizieren des KGB in Dresden. Und das gab es auch manchmal: Ich habe auch in den Akten geguckt, fast jede Woche der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS sich getroffen hat mit Matwejewitsch, mit dem KGB-Verbindungsoffizier, manchmal hat er dann einen Genossen mitgebracht. Putin war dabei nie namentlich genannt, manchmal steht da: "und ein KGB-Offizier". Es kann sein, dass Putin auch gelegentlich dabei war, aber es gibt nichts, was darauf hinweist, dass er da irgendwie größer war als die anderen Offiziere, da in der Dienststelle.
Maximilian Schönherr: Gucken wir mal gerade auf Leipzig. Das steht auch in einem Ihrer Aufsätze in diesem Buch: "1967 bittet KGB-Verbindungsoffizier Filimonov [wiederholt Filimonov in zwei anderen Betonungsweisen] um Kaderakten von elf Studenten der Karl-Marx-Universität, bekommt er innerhalb von einer Woche geliefert." Das wirkt wie untertänig. "Der Verbindungsoffizier KGB will was, da müssen wir jetzt ganz schnell ducken und uns sehr beeilen." War das so? Das heißt, die haben sich nie Zeit gelassen, weil der Respekt so groß war?
Dr. Douglas Selvage: Ja, ich glaube, sie haben normalerweise alles schnell gemacht wegen dieses Respekts. 1967 war es auch was Besonderes wegen des 50. Jahrestages der Oktoberrevolution und sie hatten sogar eine Kampagne, in der Bezirksverwaltung der Stasi dann praktisch dem KGB Agenten als Geschenke zu geben. [lacht] Und sehr oft haben sie das auch gemacht und das ist interessant, diese Sache, wo sie gesagt haben: Okay, sie brauchen männliche – es waren immer männliche! - Studenten, die unverheiratet sind, die sehr gut in diesen Fächern sind. Sie wollten dann praktisch- -
Maximilian Schönherr: Chemie und Physik?
Dr. Douglas Selvage: Chemie und Physik. Sie haben einfach die Studentenakten an den KGB übergeben, aber natürlich musste sich der KGB die Mühe, sie dann zu rekrutieren. Und es kann sein, dass die meisten nie rekrutiert wurden und eigentlich ist das öfter passiert. Man sieht, es gab diese sogenannten Sicherungsvorgänge "Freunde" wo das MfS Personen aufgelistet hat, die sie irgendwie für den KGB reserviert hätten. Und in diesem Fall hätten sie auch diese elf Studenten, sagen wir mal, eingetragen und der KGB-Offizier, es kann sein, dass er diese Akten von den Studenten bekommen hat und gesagt hat: "Nein, die will ich nicht." und dann wurden sie einfach durchgestrichen. Also kann es sein, dass es irgendwelche ostdeutschen Bürger gibt, die überrascht wären, dass ihr Name in irgendwelcher Auflistung von "Personen, reserviert für den KGB" ist. Aber das ist nur, weil sie darüber nachgedacht haben: och, sollen wir sie vielleicht doch rekrutieren. Und gelegentlich haben sie das auch erfolgreich gemacht und sie als Übersiedlungs-IMs – das heißt nach West-Deutschland geschickt -, um da für den KGB zu spionieren.
Maximilian Schönherr: Das ist ja eine ordentliche Übergabe. Also, der Verbindungsoffizier des KGB hat dann nochmal nachgefordert, also: "Die sollen männlich sein, sollen auch Sprachkenntnisse haben in Französisch und Englisch", glaub ich, also Spezialforderungen. Und die wurden alle dann willfährig -so lese ich das raus auf der Metaebene - bewilligt und erfüllt. Und ich lese auch eine Zahl von einigen Jahren später, nämlich von '88/'89, da sind vom KGB veranlasste Suchaufträge F10, - Freunde 10 denk ich mal - 20.000 Stück passiert. Das heißt, KGB war tief in dieser DDR-Struktur drin und hat all diese Anfragen offiziell beim MfS gestellt, hat wahrscheinlich Antwort bekommen. Und abgesehen davon gab es aber eben noch die, wo das MfS nicht Bescheid wusste, wo KGB auch unterwegs war. Also ein Heer von Agenten, überall.
Dr. Douglas Selvage: Ja gut, sie haben versucht, ein Heer von Agenten zu rekrutieren. Ich habe eigentlich die Statistik aus dem Mitrokhin-Archiv für die KGB-Vertretung in Karlshorst [gesehen] und natürlich alle diese KGB-Dienststellen der Bezirke wurden ihr unterstellt. Und ich glaube, es waren ungefähr 1.500 Ostdeutsche, das heißt, ich will nicht die Nummern in die Höhe treiben, aber ungefähr 1.500 Personen waren IMs oder Residenten oder auch Vertrauenspersonen.Das ist wie eine Kontaktperson, offiziell mussten sie nicht wissen, dass sie mit dem KGB zu tun hatten, vielleicht sagen sie: "Okay, ich habe mit dem sowjetischen Abteilungsleiter in Wismut zu tun", oder was immer. Aber es gab ja dieses Netz und sie haben so viele Menschen wurden dann von dem KGB überprüft.Was interessant daran ist, ist dieses F10-Formular. Das wurde innerhalb der Stasi benutzt. Sagen wir mal, ich bin ein Stasi-Offizier und ich will jemanden rekrutieren. Okay, zuerst soll ich prüfen und sehen, vielleicht wurden sie schon von jemanden rekrutiert. Ich schicke dann dieses F10, einen sogenannten "Suchauftrag", zur Abteilung XII und sie informieren mich dann, ob diese Person schon rekrutiert ist, vielleicht sind sie als "Feind der Regierung" eingestellt und werden ausspioniert oder was immer, oder werden unterdrückt. Und dann weiß ich Bescheid, wer diese Person ist und bevor ich versuche, etwas mit dieser Person zu unternehmen, sie zu rekrutieren oder ins Gefängnis zu werfen, dann rede ich mit dem Offizier, der für diese Person zuständig ist, ja? Und ich gehe zu ihm oder ihr und rede mit denen und dann entscheiden wir gemeinsam, was zu machen ist, wenn überhaupt etwas zu machen ist. Okay, der KGB hat so getan, als wären sie eine Einheit der Stasi. Sie dürften das auch machen und das ist wirklich unerhört.Ich kann es mir nicht vorstellen. Gut, es kann sein, dass es eine Anfrage des BND an die CIA über eine Person gibt und sie tauschen Informationen aus, aber ich glaube nicht, dass der BND einfach zum Langely fahren kann und dann:" Hier. Hier ist ein Formular ausgefüllt, geben Sie uns die Informationen." Und das würde dann einfach so gemacht innerhalb der CIA. Das würde nie passieren. Aber es war so mit der Stasi und das ist auch sehr überraschend, ja.
Maximilian Schönherr: Gab es denn irgendwann mal einen Eklat? Weil der Fall von dem Agenten So-und-So dermaßen übergriffig war, dass man das von DDR-Seite aus nicht mehr hinnehmen wollte oder haben die es immer brav akzeptiert, wenn dann rauskam:" Ah, da läuft ein KGB-Agent rum, ohne dass wir davon wissen. Und der läuft mitten durch Halle"?
Dr. Douglas Selvage: Ja, es gab mehrere Eklats. Normalerweise hatten sie Ostdeutsche, die für die gearbeitet haben. Sie haben Agenten oder IMs für den KGB rekrutiert und sie haben aber gesagt: "Wir sind von dem Ministerium für Staatssicherheit." So ist es mal passiert, zum Beispiel jemand wurde in der Bundesrepublik verhaftet und es stand da, ja, er sei ein Spion für die Stasi. Und dann habe ich zum Beispiel gefunden: irgendwelche Karteien, wo stand: "Bundes-MfS-Agent verhaftet, arbeitet für die Freunde, Ausrufezeichen". [lacht] Das heißt, die Stasi hat gar nicht gewusst, wer diese Person überhaupt war.Und das ist auch öfter innerhalb der DDR passiert. Es gab zum Beispiel einen Eklat mit einem Kollegen von Putin in Dresden. Es gab eine Person, die praktisch für die Stasi einen KGB-IM oder -Agenten oder jemand, der für den KGB rekrutiert worden ist. Er sollte der Stasi bei irgendetwas helfen, aber dann hat es sich herausgestellt, dass einer von Putins Kollegen - der der Führungsoffizier war - dann eine Wanze montiert hat auf einer Couch. Und dieser IM oder Agent hat dann Besuch aus der Bundesrepublik, Personen, die [lacht] dieser Agent rekrutieren sollte. Und während sie da gesessen haben, ganz gemütlich, ist die Wanze runtergefallen. [lacht] Und dann hat der Sohn der Besucher gesagt: "Was ist das denn? Was ist diese Wanze?" und dann gab es einen Eklat, weil auch dazukam, dass diese Person für die Stasi arbeitet. Aber eigentlich hat sie für den KGB gearbeitet. Also gab es eine Beschwerde bei Matwejewitsch über diesen Eklat. Aber solche Sachen sind mehrmals passiert. In dem Buch gibt es mehrere Fälle, wo es irgendwie ganz klar ist, dass jemand für den KGB gearbeitet hat und das MfS hat nichts davon gewusst. Und das hat dann Schwierigkeiten geschaffen.
Maximilian Schönherr: Aber Mielke hat nie richtig aufgemupft?
Dr. Douglas Selvage: Nein, er hat versucht, dann sehr nett zu sein. Es gab damals eine Vereinbarung mit dem KGB 1973 und 1978 gab es dann mit der KGB-Vertretung Karlshorst eine Vereinbarung. Nach dieser Vereinbarung [galt], wenn der KGB jemanden rekrutieren wollte, sollte sie dann einfach das MfS informieren, sie wollen die ganz ordentlich eintragen in diesen Sicherungsvorgang "Freund" - Personen, die für den KGB reserviert worden sind - und sie wollen dem KGB helfen. Zum Beispiel, wenn der KGB - und das haben sie auch öfter gemacht - Falschausweise gebraucht hat für irgendwelche Zwecke, haben sie dann diese für den KGB hergestellt, alles getan, um zu helfen. Aber in den meisten Fällen, die ich gesehen habe, hat das MfS erst gelernt, dass der KGB jemanden rekrutiert hat, wenn sie zum Beispiel um einen Falschausweis gebeten haben [lacht]. Dann haben sie die in den Sicherungsvorgang eingetragen oder jemand ist aufgeflogen. Für die Freunde wurde er dann auch eingetragen, also ist es klar, dass der KGB sich nicht wirklich daran gehalten hat.
Maximilian Schönherr: War die Bezahlung eindeutig? Also ich als Agent bekomme jetzt mein Geld vom KGB oder vom MfS?
Dr. Douglas Selvage: Das Geld soll von dem KGB kommen. Aber was interessant ist, ist die Rolle der Volkspolizei in dieser ganzen Geschichte. Dass der KGB - und das hat Mielke unsäglich geärgert - das ging auf die Besatzungszeit zurück, der KGB hat normalerweise, sagen wir, ihre Werber, ihre Residenten haben sie dann praktisch unter das Dach der Volkspolizei gesteckt, also sie haben versucht, Offiziere der Volkpolizei zu sein. Eigentlich die Kriminalpolizei, die Abteilung K 1 in den Bezirken. Sie haben ihre IMs, ihre Residenten, die praktisch da dann gearbeitet haben. Manche waren schon Volkspolizisten, andere sind in Rente gegangen, aber sie sind da geblieben, angeblich arbeiteten sie immer noch als Volkspolizisten, aber sie waren Residenten für den KGB. Und das schafft mehrere Probleme. Zum Beispiel, nach den Regelungen der Volkpolizei sollen die Volkspolizisten keine Kontakte mit dem westlichen Ausland haben. Aber natürlich hat diese KGB-IMs [lacht] sollen Westdeutsche rekrutieren. Also sie hatten immer wieder Kontakt mit ihnen und dann bekommen sie Ärger von der Volkspolizei, weil sie gegen die Regeln verstoßen haben. [lacht]Und dann gab es einen Eklat und die Stasi hat dann auch davon mitgekriegt, weil die Stasi ja auch die Volkspolizei infiltriert. Sie haben auch ihre IMs oder auch manchmal Offiziere in besonderem Einsatz in der Volkspolizei und man fragt sich, dass er ein IM des KGB sein könnte oder ein Resident saß neben einem IM der Stasi in der Volkspolizei und wer für wen gearbeitet hat, war immer sehr kompliziert.
Maximilian Schönherr: Würde denn ein Bürger in Dresden, wenn der Agent werden will, angenommen, geht er dann zum KGB, da, wo auch Putin und viele andere sitzen, oder geht er zur MfS-Verwaltung?
Dr. Douglas Selvage: Wenn jemand für den KGB spionieren wollte, wäre es besonders verdächtig. Alle Geheimdienste finden das verdächtig, wenn jemand zu ihnen kommt. Aber keine Sorge, sie kommen zu ihnen, insbesondere in der DDR braucht man nur Chemie zu studieren, ein guter Student zu sein und paar Jahre später kommt jemand. Oder wenn jemand Fremdsprachen mächtig ist, wahrscheinlich ein paar Jahre später - wenn man mindestens nicht auffällig war, wenn man in der Jugendgemeinde war oder irgendwie oppositionell war oder die Familie nicht so viele Westverbindungen hat - dann würden sie zu ihnen kommen. Ein paar Jahre später, denke ich.
Maximilian Schönherr: Die Digitalisierung, also die Datenverarbeitung. Welche Rolle spielte die? Oder spielte die gar keine Rolle, weil die Kommunikation zwischen den beiden Diensten konnte dann natürlich digital verlaufen. Und die konnten zumindest dann Disketten oder Datenbändern austauschen. Spielte das eine Rolle oder ist alles auf Papier gewesen, was wir jetzt gelesen haben?
Dr. Douglas Selvage: Alles, was wir gefunden haben, war auf Papier. Natürlich viele Datenträger, im Falle des MfS, wurden 1989 in der Friedlichen Revolution zerstört, aber soweit wir wissen, haben sie ihre Daten nicht so ausgetauscht. Es war so, natürlich gab es dieses gemeinsame System SOUD, das sie benutzt haben, alle Geheimdienste im Warschauer Pakt - außer Rumänien, das nicht vertrauenswürdig war - sollen sie alle diese Namen schicken von Personen, die angeblich Spione waren oder Oppositionelle oder irgendwie eine Gefährdung für die sozialistischen Regime darstellen sollen. Es gab diese gemeinsame Datenbank in Moskau. Es scheint, eigentlich haben das nur der KGB und die Stasi ernstgenommen. Die anderen haben nicht so gut geliefert. Und alle hatten ihre eigenen Datenbanken, aber alles läuft, soweit ich weiß, durch diese Suchaufträge oder Briefe oder Memoranden oder Notizen, die sie ausgetauscht haben.
Maximilian Schönherr: Haben Sie eine Lieblingsperson in ihrer Recherche gefunden? Irgendeinen russischen Agenten oder einen Oppositionellen? Haben Sie Erkenntnisse über jemanden, über den Sie vorher vielleicht kaum was wussten, wo Sie sich dachten: Der ist aber echt interessant!?
Dr. Douglas Selvage: Gut, es gab den Fall von "Wagner". Wir haben ihn schon diskutiert. Von Erich Kobelt, das war eine interessante Geschichte. Eigentlich einer, der mir irgendwie sympathisch war, [lacht] - eigentlich tut es mir weh, das zu sagen - aber es gab einen sowjetischen Arzt und er hatte eine ostdeutsche Frau, die er geheiratet hat. Ich glaube, er hat im Bezirk Karl-Marx-Stadt gewohnt und er hat dann Aufträge für den KGB erfüllt. Er reiste immer wieder in die Bundesrepublik, um da etwas für sie zu machen. Vielleicht, vermute ich, gab es viele Rentner, die für den KGB gearbeitet haben. Sie haben die praktisch als Briefträger oder was auch immer benutzt. Und er ist des Öfteren in die Bundesrepublik gereist, aber seine Familie hat ihn verdächtig. "Was macht unser Papa oder Opa? Er geht und verschwindet für zwei, drei Wochen. Er sagt, dass er dann - was weiß ich -, dass er in Dresden ist oder in Leipzig oder sonst wo." Aber dann scheint er nicht da zu sein! Und sie haben irgendwie herausgekriegt, dass er in die Bundesrepublik reist. Dann gab es Probleme. Was passiert ist, ist, dass die Kreisdienststelle für Staatssicherheit dann von diesen Gerüchten gehört hat, dass dieser Opa-Arzt in die Bundesrepublik reist und sie haben darüber berichtet, haben das nach oben geschickt und diese Person, dieser Arzt, wurde natürlich in diesem Sicherungsvorgang "Freunde" erfasst. Sie waren nicht immer informiert, die Stasi-Offiziere Nur, wenn der KGB gesagt hat: "Okay, er kann wissen, dass diese Person für uns arbeitet." Dann würden sie das sagen. Sonst würden sie sagen: "Ja, soweit wir wissen, hat er nichts mit dem KGB zu tun." Das haben sie so geantwortet. Und dann, ein Jahr später, [lacht] ist er wieder auffällig geworden und eigentlich ist der Arzt zu dieser Kreisdienststelle der Stasi gekommen und hat sich auch beschwert. Weil seine Familie ihm praktisch gedroht hat, seine Deckung hochgehen zu lassen als Spion, wenn sie nicht auch in die Bundesrepublik reisen dürfen. Sie wollten auch nach München reisen, wie Opa es macht und er hat das dann auch nach oben weitergeleitet und die haben gesagt: "Sehen Sie, er soll angeblich nicht für den KGB arbeiten, aber er hat mir selbst gesagt, dass er für den KGB arbeitet Er hat diese Probleme wieder, dass es jemand den Freunden sagen. Sie sollen ihn nicht mehr nutzen, weil das ein Problem ist" und so weiter. Sowas ist öfter passiert, solche Zwischenfälle. Aber der KGB hat sehr oft gesagt: "Ach, uns egal. Lass ihn weiterlaufen nach Westen." [lacht]
Maximilian Schönherr: Der "große Bruder".
Dr. Douglas Selvage: Der "große Bruder". Das stimmt. Natürlich gibt es viel mehr in dem Buch, das man lesen kann. [lacht] Auch darüber, wie praktisch die Partei und Staatsführung der DDR vereinzelt praktisch die sowjetischen Freunde aufgesucht haben, um sich gegenseitig anzuschwärzen.
Maximilian Schönherr: Fand ich auch interessant, ich hab’s gelesen, ja.
Dr. Douglas Selvage: Das ist interessant, weil sie sich immer beschwert haben, dass der KGB oder die Sowjetunion im Allgemeinen, "Sie unterminieren unsere Souveränität, sie erkennen nicht an, dass wir hier das Sagen haben!" Aber was machen sie dann? Dann gehen sie zu dem "großen Bruder" und sagen: "Wir wollen Ulbricht stürzen, sie sollen Honecker unterstützen!" oder "Wir wollen Honecker stürzen, sie sollen ihn unterstützen!". Und dann ist Mielke immer dazwischen, ist Diener zweier Herren. Zum Beispiel liefern sie Informationen zu Moskau über Gespräche Honeckers mit den Westdeutschen, auch aus westdeutschen Quellen - nicht aus den offiziellen ostdeutschen Quellen, die etwas anders sind. Und Honecker sieht ein bisschen anders aus, aber gleichzeitig übersieht er zum Beispiel die Verhandlungen über Milliardenkredite. Mielke macht das für Honecker. Also gleichzeitig schafft er alles, damit die Milliardenkredite durchgehen und er verteidigt Honecker in Moskau, sagt: "Wir müssen das doch machen." Aber auf der anderen Seite liefen alle diese Informationen über Honecker und insbesondere Günter Mittag, damit sie gestört werden konnten. Er war wirklich ein Dienerzweieier Herren.
Maximilian Schönherr: Wäre dieses Buch, über das wir die ganze Zeit reden, entstanden, wenn es das Stasi-Unterlagen-Archiv nicht gäbe?
Dr. Douglas Selvage: Dieses Buch wäre nicht entstanden, wie es ist. Das heißt, die zwei maßgeblichen Quellen für unsere Recherchen waren die Mitrokhin-Papers in der Cambridge University und die zweite war dieser sogenannte Sicherungsvorgang "Freunde" von dem MfS. Wir haben uns insbesondere auf die Bezirksverwaltungen des MfS in Leipzig und damalig Karl-Marx-Stadt fokussiert, weil da gab es weitere Überlieferungen.Zum Beispiel im Falle von Leipzig gab es dann Anträge von den "Freunden", von der KGB-Dienststelle für Falschausweise, für bestimmte Personen. Natürlich haben wir sie nachrecherchiert. Und im Falle Karl-Marx-Stadt gab es eine besondere Kartei des Leiters der Bezirksverwaltung, der dann auch diese Personen eingetragen hat. Und es gab dann auch zum Teil Akten über diese Person und dass können wir dann zusammenpuzzeln. Im Falle von Karl-Marx-Stadt haben wir sogar für die KGB-Dienststelle alle Offiziere 1989 aufgelistet und wir könnten zu ihnen die Mitarbeiternummern zuordnen. Wer ist für sie reserviert worden, das heißt,Personen, die sie gerne rekrutiert hätten oder auch Inoffizielle Mitarbeiter. Auch für ihre Residenten haben wir herausgekriegt, wer sie waren. Wir könnten sagen, dieser KGB Offizier war zuständig für die Ingenieur-Hochschule in Zwickau. Dieser KGB-Offizier war an der TU tätig, es gab zwei oder drei, die da ihre Residenten oder IMs hatten, die rekrutieren sollten. Wir können das wirklich zuordnen, was sie da gemacht haben. Ja, ohne die Stasi-Unterlagen hätten wir das natürlich nicht so machen können.
Maximilian Schönherr: Vielen Dank.
Dr. Douglas Selvage: Bitteschön.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das war mein Kollege, der US-amerikanische Historiker Douglas Selvage, Experte für das Wechselspiel von KGB und MfS.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einem akustischen Einblick in den riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang mit dem, was wir zuvor besprochen haben.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferung des MfS. Ein Schwerpunkt der Audioüberlieferungen sind die Prozesse und Vernehmungen der Hauptabteilung IX. In denen finden sich auch immer wieder Gutachten der technischen Untersuchungsstelle des MfS.Das ausgewählte Beispiel ist das Gutachten zu einem Schmalfilm, das in einem Prozess gegen eine BRD-Bürgerin wegen Spionage für den Bundesnachrichtendienst 1979 verlesen wird.Die Vernehmungen der hartnäckig leugnenden Angeklagten zogen sich über 14 Monate hin. 389 Stunden sind davon überliefert. Vom Prozess gibt es 84 Stunden akustisches Material, wobei die Urteilsverkündung fehlt. Im "Neuen Deutschland" informiert eine Meldung über 12 Jahre Haft. Das Gutachten habe ich gekürzt, zu erkennen an der Ein- und Ausblendung bei der Aufzählung der Szenen. Hören Sie vier Minuten lang, wie akribisch Beweismittel analysiert, mit Aussagen abgeglichen und Schlussfolgerungen gezogen wurden.
[im Hintergrund andauerndes Vogelzwitschern, vermutlich durch ein geöffnetes Fenster][männliche Stimme]: So, ich verlese das zweite Gutachten der technischen Untersuchungsstelle des Ministeriums für Staatssicherheit vom 13. November 1978. 1. Untersuchungsobjekt: ein Schmalfilm auf der Spule einer Plastkassette, beschriftet: DDR, Mai '75.Auszug aus der Verneh- -, aus dem Vernehmungsprotokoll der Beschuldigten vom 05.07.78, Seite 13. 2. Aufgabenstellung R 2.1: Wie viele Filmszenen sind von der Dorfstraße in Radensleben auf dem zur Untersuchung vorgelegten Film enthalten? Wie viele Einzelaufnahmen umfassen die jeweiligen Filmszenen und welche Zeitdauer wurde für die Gesamtaufnahme der vorhandenen Filmszenen von der Dorfstraße benötigt?2.2: Stimmen die Aussagen aus dem Vernehmungsprotokoll vom 05.07.78, Seite 13 mit dem objektiven Inhalt der Filmszenen in dem Bereich der Dorfstraße in Radensleben überein? 3. Begutachtung. Der zur Untersuchung vorgelegte Schmalfilm mit der Bezeichnung "DDR, Mai '75" wurde optisch-visuell untersucht. Im Ergebnis dieser Untersuchung wurde folgendes festgestellt. Zu 2.1: Untersuchung. Der im vorliegenden Film aufgezeichnete Bereich in der Dorfstraße in Radensleben umfasst 13 Szenen.Szene 1: Storf- - Dorfstraße mit Radfahrer, bestehend aus 102 Einzelbildern. Szene 2: Dorfstraße mit Dor- - mit Motorradfahrer, bestehend aus 79 Einzelbildern. Szene 3: Dorfstraße mit Barkas B 1.000, bestehend aus 120 Einzelbildern. Szene 4 [Überblendung]- - 13: Dorfstraße mit Wartburg 311 und Radfahrer, 99 Einzelbilder. Die Bewegungsrichtung der Fahrzeuge und Personen können durch die Projektion, Klammer (18 Bilder/Sekunde) dargestellt werden. Zwischen den Szenen 3 und 4 wurde die Filmaufnahme nur kurz unterbrochen. In den Szenen 5, 6 und 7 handelt es sich um ein und denselben Radfahrer. Die Filmszenen wurden in kurzen Zeitabständen nacheinander aufgenommen. Die Szenen 9, 10 und 11 wurden ebenfalls in kurzen Zeitabständen nacheinander aufgenommen. In den Szenen 9 und 11 handelt es sich um ein und denselben Traktor mit angehängtem landwirtschaftlichem Gerät. Der zeitliche Abstand zwischen den Szenen 1 bis 3, 4 und 5, 7 bis 9 und 11 bis 13 kann nicht bestimmt werden. Am Ende der 13. Szene Wartburg 311 und Radfahrer wurde eine Schnitt- und Klebestelle- - Klebestelle verbunden mit einem Motivwechsel - Schafherde, Schäfer und Hund - festgestellt. Diese Klebestelle befindet sich circa 15 Meter nach dem Filmanfang und resultiert auf der Konfektion des Aufnahmematerials. Die vom Bereich der Dorfstraße in Radensleben aufgezeichneten 13 Filmszenen bestehen aus 12.181 Einzelbildern. Bei der Aufnahme und Projektionsgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde entspricht die Gesamtdauer der Aufnahme circa eine Minute und 12 Sekunden.Untersuchung 2.2: Die Beschuldigte formuliert in ihren Aussagen vom 05.08.78 auf Seite 13: "...sondern um zu zeigen, wie menschenleer diese Dorfstraße ist. Da hat sich seit 50 Jahren nichts verändert. Tagsüber sind die Leute auf dem Feld und da läuft eben keiner rum. Und ich weiß gar nicht, es ist wohl ein Privatauto da rumgefahren auf meinem Film, das kann sein." Wie aus der Analyse der einzelnen Filmszenen, siehe 2.1 ersichtlich ist, kann festgestellt werden, dass in allen 13 Szenen, in denen die Dorfstraße in Radensleben abgebildet ist, Bewegungen von Fahrzeugen und Personen festgehalten wurden. [Überblendung]Schlussfolgerung: Die Tatsache, dass in allen 13 Szenen, in denen die Dorfstraße in Radensleben abgebildet wurde, Fahrzeug- beziehungsweise Personenbewegungen ersichtlingend sind- - ersichtlich sind, stehen im Widerspruch zu der Aussage der Beschuldigten im Vernehmungsprotokoll vom 05.07.78, Seite 13, welches darauf hinweisen, dass die Straße menschenleer gewesen sei. Es folgt die Unterschrift des Sachverständigen.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."