Historiker Philipp Springer in der Videoreihe "40 Dinge. Fundstücke aus 40 Jahren Stasi", Quelle: Stasi-Unterlagen-Archiv
In der Videoserie "40 Dinge. Fundstücke aus 40 Jahren Stasi" präsentiert der Historiker Philipp Springer eine Auswahl von ungewöhnlichen Dingen und Unterlagen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv. Im Gespräch erläutert er seine Herangehensweise, die Recherche und das Prinzip der großen Geschichte, die auch hinter kleinen Dingen steckt.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo und willkommen zu einer neuen Folge. Mein Name ist Dagmar Hovestädt und ich arbeite für das Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv. Im Podcast hier begrüße ich Sie mit meinem Co-Host Maximilian Schönherr, Radio-Journalist und Archiv-Enthusiast.
Maximilian Schönherr: Im September dieses Jahres 2021 stieß ich auf ein kürzlich von euch veröffentlichtes Video mit dem Titel "1981 – Psychisch Kranke und der X. Parteitag der SED." Der Film ist 2 ½ Minuten kurz und trägt die Creative Commons Lizenz, ist also unter Angabe der Quelle frei weiterverbreitbar. Die Quelle ist das Stasi-Unterlagen-Archiv.
Dagmar Hovestädt: Das ist eines von etlichen Videos, die wir auf dem YouTube-Kanal des Archivs verbreiten. Dieses hier ist Teil einer Serie, die "40 Dinge" heißt und die auf der Publikation "Verschluss-Sachen" von drei Kollegen aus dem Archiv beruht. Einer von denen ist auch der Erzähler in der Video-Serie, und er ist auch heute unser Gast. Nebenher bemerkt: Maximilian, du hast mir erzählt, dass Google mittlerweile auch nicht-kommerzielle Angebote wie unsere mit Werbung versieht. Das finde ich nicht sehr passend. Wer weiß, wie das mit den sozialen Medien weitergeht. Gute Alternativen sind jedenfalls willkommen. Aber zurück zur Serie.
Maximilian Schönherr: Da geht es in der Folge, die mir ins Auge sprang, also in der Video-Folge, um psychisch Kranke und den X. Parteitag der SED 1981 – diesen Zusammenhang klären der Protagonist der 40-Dinge-Serie und ich gleich in unserem Gespräch. Es ist Philipp Springer, der seit 2012 bei euch im Archiv forschte.
Dagmar Hovestädt: Wie habt ihr euch eigentlich getroffen? Warst du in seinem Büro und hat er dir ein paar zufällig vorliegende Akten erläutert?
Maximilian Schönherr: Ja, ich sagte "forschte", weil er an seinem letztem Tag war. Er hatte das Büro ziemlich aufgeräumt. Er hatte noch ein paar Akten da. Aber die Akte auf die es mir primär ankam, war schon wieder zurück in Magdeburg. Und das war aber nicht schlimm, denn wir unterhalten uns trotzdem drüber und kommen dann zu anderen Akten, von denen ich wiederum keine Ahnung hatte. Und eine davon handelt von "Fehlfarben", das ist ein Begriff, den die Stasi heftig untersucht hat.
Dagmar Hovestädt: Philipp Springer war ja schon einmal Gast in unserem Podcast, da hat er sein Buch zu den Fotografien der Stasi vorgestellt, "Der Blick der Staatssicherheit". Jetzt hat er seinen neuen Job schon begonnen. Er ist wieder zum Deutschen Historischen Museum hier in Berlin gegangen, wo er früher schon mal gearbeitet hat. Ich fand es übrigens sehr bemerkenswert, dass dich dieses Video ausgerechnet angesprochen hat. Es ist, ich würde sagen, eher eine kleine Randbemerkung zu einer Akte. Aber das kann ja manchmal eben doch interessant sein. Was hat dich an dem Fall angesprochen, dass Du mit Philipp Springer darüber nochmal reden wolltest?
Maximilian Schönherr: Warum nicht auch ein drittes Mal mit ihm reden? Mich treiben ja die Themen an und verschiedene Themen können durchaus auch mal zu ein und derselben Person führen. Ich hätte übrigens auch Lust, eure Forschungs-Chefin Daniela Münkel mal wieder zu sprechen, die im Podcast mehrfach vorkam, unter anderem zur operativen Psychologie der Stasi. Ich hätte da einige neuere Fragen an sie. Ich würde schon sagen, dass man dieselben Leute zu verschiedenen Themen befragen kann. Aber abgesehen davon, fühle ich mich mit Forschern seelenverwandt, die mit dem Zufall arbeiten und diesen nicht als Störung abqualifizieren. Klar, die gründliche Forschung zu bestimmten Themen, wo man sich tief hineingräbt, um dann einen Sachverhalt mehr oder weniger allgemein verständlich jedenfalls in seiner Komplexität darzustellen, ist die Kernkompetenz von WissenschaftlerInnen. Aber den Zufall wissen viele von ihnen auch zu schätzen, weil der Zufall unser Leben und eben auch unser Forschen bestimmt. Ich kenne mehrere Kolleginnen und Kollegen im Hörfunk, bei denen unerwartete Ereignisse oder Erkenntnisse den Lebenslauf völlig umgekrempelt haben. Also ich liebe den Zufall. Und an Philipp Springers Video-Serie gefällt mir, dass er auf jedes der 40 DDR-Jahre ein eher zufälliges Schlaglicht wirft, mit einem mehr oder weniger zufällig ausgewählten Dokument oder Gegenstand aus dem Archiv. Und das nicht länger als 2 Minuten 30. Seine Blicke in die Jahre sind eher nicht ganz beliebig – mal sucht er nach Psychiatrie, mal nach Gedichten. Und dann findet er eben interessante Dinge. Aber jeder Einzelfall macht ein Riesen-Thema auf, wo andere dann weiter nachforschen könnten. Oder man lässt es dabei.
Dagmar Hovestädt: Deine Arbeit im Archiv-Radio des SWR 2 funktioniert ja fast so ähnlich. Mit den Originaltönen beginnt eine Begegnung, die Weiteres anstoßen kann. Wichtig ist mir noch zu erwähnen zu eurem Gespräch, dass ihr an einer Stelle über zwei Menschen sprecht, die von der Stasi bespitzelt wurden und du in den Raum stellst, dass man als Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs Personen, die in den Akten namentlich genannt sind, ja mal kontaktieren könnte. Das verwehrt Philipp Springer so ein bisschen. Aber ich würde das gerne nochmal etwas vertiefen: Das ist ein absolutes No-Go. Bloß weil wir die Namen lesen, haben wir keinerlei Grundlage, die Menschen einfach zu kontaktieren. Das ist für jeden von uns mit dem Arbeitsvertrag klar geregelt, dass wir den Datenschutz zu wahren haben und mit diesen Informationen nicht aktiv umgehen dürfen. Daher spricht Philipp Springer ja auch an, dass die Personen selber einen Antrag stellen müssten und wenn sie sich dann dazu äußern würden, haben wir natürlich eine Chance auch uns mit ihnen darüber auszutauschen.
Maximilian Schönherr: Das ist ein für mich neuer und wichtiger Punkt. Das heißt, wenn ArchivarInnen, DokumentarInnen, ForscherInnen auf Dokumente über Menschen stoßen, die massiv ausgespäht wurden, deren Lebensweg sich möglicherweise aus diesen für sie vielleicht völlig unklaren Gründen geändert hat (Studienplatz verloren, woandershin versetzt worden etc.), dann darf man vom Archiv aus diese Menschen nicht kontaktieren?
Dagmar Hovestädt: Nein, das Stasi-Unterlagen-Gesetz sieht es nicht vor, dass wir aktiv auf Personen zugehen und sagen: Hallo, da steht was für dich sehr wesentliches in diesen Akten drin. Sondern wir vermitteln die Option für jeden der das möchte, sich mit seiner eigenen Vergangenheit, so wie die Stasi sie aufgeschrieben hat, zu beschäftigen. Ich würde auch sagen, das wäre bis zu einem gewissen Grade, wenn es auch in Einzelfällen hilfreich sein kann, anderseits auch ganz übergriffig. Vielleicht möchten Menschen gar nicht sich mit dieser Vergangenheit beschäftigen. Und dann kommt eine staatliche Behörde und sagt: "Guck mal, da steht was in den Akten. Da musst du mal reingucken." Das funktioniert eigentlich nicht. Der Datenschutz, das war von Anfang an ganz wichtig, dass wir unter der Prämisse nur diese Akten verwahren, verwalten und zugänglich machen, dass die Person, die die Hoheit über die Daten haben, nämlich die einzelne Person, die bespitzelt wurde, entscheidet, was damit geschieht und nicht wir als Behörde. Insofern ist das eine hohe Verantwortung und für uns eben sehr wichtig, dass wir an der Stelle sagen: "Okay, da geht es nicht weiter." Auch wenn wir, wir sind ja auch nur Menschen, das Gefühl haben, das wäre wichtig für eine Person, das zu wissen. Aber das geht dann einfach nicht.
Maximilian Schönherr: Ist es eine Spezialität von dem Stasi-Unterlagen Archiv oder hat ein Landesarchiv NRW ähnliche Bestimmungen? Weißt du das?
Dagmar Hovestädt: Also das Stasi-Unterlagen-Gesetz gibt es deswegen, weil wir das, was in anderen Archiven üblich ist, nämlich Schutzfristen einzuhalten, also personenbezogene Daten und dann nicht von Mandatsträgern oder Politikern, sondern von ganz gewöhnlichen Bürgern - Akten unterliegen ja generell einer Schutzfrist von 30 Jahren, personenbezogene Daten oft von noch längeren Schutzfristen von 50, 100 Jahre, manchmal nach Geburt oder manchmal auch nach dem Tod, das ist bei uns übrigens auch so. Die personenbezogenen Daten, wenn man nicht selber zustimmt als Betroffener von Stasi-Handlungen können erst 30 Jahre nach dem Tod allgemein zugänglich gemacht werden. Und das Stasi-Unterlagen-Gesetz hat ja das ausgehebelt. Die Akten wurden sofort mit der Öffnung des Archivs bald 30 Jahre her, 02. Januar 1992, zugänglich gemacht. Und dafür braucht es dieses Spezial-Gesetz. Und deswegen ist immer noch dieser hohe Anteil an Datenschutz da, weil so viele personenbezogene Daten da sind. Also es war zu gewissen Zeiten auch in den 90er Jahren schwieriger an Unterlagen von, sage ich jetzt mal, ehemaligen NS-Tätern zu kommen, weil die Zugangsrechte zu Landes- und Bundesarchiv da viel, viel schwieriger waren als im Stasi-Unterlagen-Archiv nach Unterlagen von MfS-Offizieren zu suchen. Also wir sind da eigentlich im Vorteil, aber mit dieser hohen Herausforderung den Datenschutz zu gewährleisten und da auch, weil es eben so ein besonderes Archivgut ist, nämlich geheime polizeiliche Informationssammlung über sehr viele Personen, sehr tief in die Intim- und Privatsphäre hinein.
Maximilian Schönherr: Aber ich als Medienforscher, der ein Antrag gestellt hat, in eurem Archiv bestimmte O-Töne zu hören. Ich musste das schon tun. Also ich muss die Betroffenen, die Verwandten zum Beispiel, kontaktieren, allein um Rechte zu klären, zum Beispiel von Fotos. Von Elli Barczatis habe ich zum Beispiel die Schwester versucht zu erreichen, war aber schon verstorben. Otto Fleischer, mit dessen Söhnen ich korrespondiert habe, um klarzustellen, ob ich diesen O-Ton, wo ihr Vater weint, den sie da das erste Mal vor Gericht überhaupt hören würden, ob wir das senden dürfen.
Dagmar Hovestädt: Aber da sind wir eben in diesem Bereich 30 Jahre nach dem Tod. Elli Barczatis ist Mitte der 50er Jahre hingerichtet worden, sodass du spätestens Mitte der 80er Jahre, schon 30 Jahre nach ihrem Tod warst. Da war das Archiv noch nicht mal offen. Und dann sind es natürlich Fälle, die eine relative Bedeutung zeithistorische Bedeutung erlangt haben. Und da ist die Rechtefrage eh schon wieder anders. Ich rede jetzt generell vor allen Dingen über Menschen, die nie im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden haben und die auch nicht zugestimmt haben, dass die Stasi ihre Daten aufbewahren. Und da ist die Hürde des Datenschutzes extrem hoch. Wenn ich das selber publik mache und damit eine Öffentlichkeit herstelle, ist das Datum auch nicht mehr geschützt. Aber das liegt eben in der Entscheidungsgewalt des Einzelnen, die haben die Datenhoheit.
Maximilian Schönherr: Doch nun zurück zu dieser 44. Folge unseres Podcasts. Philipp Springer und ich sprechen drei Themen aus drei Jahren der DDR-Stasi-Geschichte an und beforschen sie eben nicht weiter. Jeder der drei Fälle für sich genommen baut aber ein sehr präzises Bild der, ich sage mal, Inlandsspionage der DDR auf. Alle zusammen bilden trotz der Beliebigkeit das Innenleben der Stasi ziemlich gut ab.
Dagmar Hovestädt: Da hast du jetzt diesen Spezial-Begriff benutzt, den Historiker und Analytiker oft nennen, nämlich die Inlandsspionage. Für mich persönlich hört sich so ein Begriff immer fast ein bisschen etwas harmlos an, wenn man ihn auf die Stasi und ihre Arbeit anwendet. Diese Beispiele, die ihr da diskutiert, die sind schon sehr typisch für das, was die Stasi mit den Menschen der DDR gemacht hat. Sie hat nämlich in deren privaten Lebensäußerungen rumgeschnüffelt, weil sie immer Angst davor hatte, dass Menschen sich vom sozialistischen Staat entfernen könnten. Und jede einzelne Episode ist für sich genommen fast banal. Wenn man die Qualität der Information sich anschaut, das sagen oft ja Leute da, war ja nicht viel drin. Das war jetzt nicht so wichtig aus dem eigenen Erleben heraus. Aber es ist immer ein Mosaikstein in einer gigantischen Informationssammlung sozialer Äußerungen und Beziehungen. Und die war eben nur dazu da, Menschen unter Kontrolle zu halten. Und insofern ist so ein technischer, analytischer Begriff wie Inlandsspionage fast ein bisschen euphemistisch.
Maximilian Schönherr: Hast du einen besseren Begriff?
Dagmar Hovestädt: Ähm, nee, Menschenschnüffelei, das ist jetzt nicht sehr technisch, analytisch und distanzierend, aber das ist mehr so eine Reaktion darauf. Bei diesen Begriffen, wenn sie denn etwas zu stark analytisch glatt ziehen, fühle ich mich sozusagen berufen, noch mal daran zu erinnern, was da eigentlich wirklich dahinter steckt, um es ein bisschen lebendiger zu machen. Gut, aber lass uns beginnen mit Philipp Springer, der zunächst das Prinzip unserer kleinen Video-Reihe erklärt.
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Dr. Philipp Springer: Die Reihe heißt 40 Dinge. Sie beschäftigt sich also mit 40 Dingen, so wie der Name sagt, und das bezieht sich auf ein Buch, was ich mit zwei Kollegen zusammen vor einigen Jahren herausgegeben habe. Dort haben wir zu jedem Jahr der Existenz des MfS, also des Ministeriums für Staatssicherheit, jeweils ein Objekt, ein Dokument, ein Foto herausgesucht aus dem jeweiligen Jahr und das in recht überschaubaren Texten vorgestellt. Da geht es eben nicht um die großen Themen, sage ich mal. Etwa 1953, den 17. Juni, sondern da haben wir ein Dokument, das sich mit der Tätigkeit von Frauen im MfS beschäftigt und einer Babypause, die dort eine Mitarbeiterin nehmen wollte. Und so versuchen wir anhand einzelner Objekte ganz verschiedene, manchmal vielleicht nicht so bekannte Themen aus der Geschichte des MfS vorzustellen und einen auch interessanten Überblick zu geben. Ein Kollege, ein Fotograf aus unserem Haus, hat dann diese Objekte auch recht aufwendig fotografiert, sodass man auch wirklich den Eindruck bekommt, als ob man das jeweilige Dokument mit all seinen Knitterspuren oder ein Foto, das auch beschriftet ist, meint vor sich zu haben. Und das war sozusagen der Hintergrund für diese Filmreihe. Denn in dieser Filmreihe stelle ich dann die einzelnen Objekte, Dokumente, Fotos dann auch mit Filmen vor.
Maximilian Schönherr: 40 Jahre DDR und 40 Dinge.
Dr. Philipp Springer: Bei Objekten ist man vielleicht erst mal überrascht, weil man in einem Archiv wie unserem nicht unbedingt tatsächliche dreidimensionale Gegenstände erwartet. Aber die Staatssicherheit hatte auch eine sogenannte Gegenstandsablage. Das heißt Dinge, die in Akten sich befanden, aber zu groß eigentlich für Akten waren, die wurden dort herausgenommen und in eigenen Regalen untergebracht. Und da finden sich oft sehr, sehr spannende Objekte, weil sie eben aus dem Alltag der Betroffenen sind, etwa von Menschen, die inhaftiert worden sind, aber auch ganz ungewöhnliche Gegenstände. Also das war auch besonders reizvoll, einmal unter diesem Gesichtspunkt die Stasi-Akten zu betrachten.
Maximilian Schönherr: Das heißt eigentlich woanders Asservatenkammer, oder?
Dr. Philipp Springer: Ja, so könnte man es vielleicht nennen.
Maximilian Schönherr: Oder eine Mütze, eine Cordmütze zum Beispiel, ne?
Dr. Philipp Springer: Genau, genau, eine Cordmütze, die jemand bei der Flucht in den Westen an der Grenze verloren hat, ist dabei. Es kommt ja immer mal wieder vor, dass da Dinge drin sind in Akten, die einfach zu groß sind, die dann den Pappdeckel zerstören würden, wenn man die da längerfristig drin lassen würde.
Maximilian Schönherr: Und der aktuelle Fall, den Sie in 40 Dinge darstellen.
Dr. Philipp Springer: Ja, das ist ein ganz auf den ersten Blick unscheinbares Dokument, ein Durchschlag eines Schreibens, den der Leiter der Bezirksverwaltung des MfS in Magdeburg an seine untergebenen Diensteinheiten verfasst hat. Und da geht es darum, dass 1981 der SED-Parteitag bevorstand in Berlin und sämtliche Bezirksverwaltungen wurden angewiesen, darauf bezieht sich dieser Brief, psychisch Kranke in besonderer Weise unter Beobachtung zu halten. Die Stasi befürchtete, dass während des Parteitags solche Menschen eventuell Aktionen hätten starten können, die dem Ansehen der DDR hätten schaden können. Und deswegen wurden die Mitarbeiter der Staatssicherheit angewiesen, dass psychisch Kranke in der Zeit des Parteitags in den geschlossenen Einrichtungen verbleiben sollten bzw. wenn sie ambulant betreut wurden, dann in die Einrichtungen eingewiesen werden sollten. Das heißt, diese besonders Schwachen in der Gesellschaft sollten hier unter Verschluss gehalten werden. Also ein Verstoß gegen die Menschenrechte, denn diese Menschen hatten ja nichts getan, sondern es stand einfach nur der Parteitag bevor und deswegen sollten sie eingewiesen werden. Wie weit das allerdings tatsächlich umgesetzt worden ist, das besagt diese Akte nicht. Aber es war eben der Plan der Staatssicherheit, hier so vorzugehen und nur natürlich mit Mithilfe des Gesundheitspersonals hätte man diesen Plan dann auch umsetzen können. Aber wie gesagt, wie weit das tatsächlich der Fall war, das erschließt sich aus dieser Akte jedenfalls nicht. Das zeigt natürlich wirklich im Kern das, was die Staatssicherheit ausmacht, nämlich Schild und Schwert der Partei der SED zu sein. Das muss man sich mal wieder vergegenwärtigen, dass die Stasi im Auftrag der SED das gemacht hat, was sie gemacht hat. Und hier wird es ja offenkundig: Die Stasi sollte den Parteitag der SED schützen vor psychisch Kranken. Und das besagt dieses Dokument. Eine Seite, die eben sehr viel aussagt.
Maximilian Schönherr: Und warum ist die Akte jetzt nicht mehr hier? Wir haben andere Akten über die wir gleich noch reden.
Dr. Philipp Springer: Ja, wenn man die Bearbeitung einer Akte abgeschlossen hat als Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs, dann trägt man in einem Benutzerblatt entweder per Hand oder digital ein, wann man diese Akte genutzt hat, wer man ist, zu welcher Abteilung man gehört und ob man Kopien angefertigt hat und dann trägt man die Akte wieder zurück in die Aktenstelle und die Akte wird wieder an Ort und Stelle gebracht, also entweder hier in der Zentrale nach Lichtenberg oder eben in die Außenstellen, die aber vergleichsweise kleinere, aber eben auch solche Archivräume haben. Und da wird sie dann wieder an Ort und Stelle einsortiert.
Maximilian Schönherr: In diesem Fall Magdeburg. Warum Magdeburg?
Dr. Philipp Springer: Das ist sozusagen Zufall, denn diese Anweisung ging mit Sicherheit auch an die anderen Bezirksverwaltung des MfS. Also ich bin mir ziemlich sicher, dass man ähnliche Schreiben auch in anderen Außenstellen finden würde, wenn man jetzt ganz intensiv danach suchen würde. Ich habe das in Magdeburg gefunden und deswegen war die Akte aus Magdeburg und dahin ist sie eben auch wieder zurückgegangen.
Maximilian Schönherr: Jetzt haben wir zwei Akten hier, vielleicht sogar drei, zwei dickere und eine dünnere und da drauf liegen DIN A4 Zettel, da steht Recherche, Suchergebnisse. Können Sie kurz ein Satz daraus vorlesen, damit man sich das vorstellen kann, wie so eine Anfrage lauten könnte?
Dr. Philipp Springer: Ja, ich habe einfach nach dem Begriff "Gedichte" gesucht und bin dann auf viele, viele Akten gestoßen. Und da steht dann ein Gesamttitel. Hier geht es um den Operativ-Vorgang Apostel, also eine Überwachung von zwei Soldaten eines bestimmten Regiments, dann steht die da Laufzeit, also das Jahr oder die Jahre, in denen diese Akten aktiv waren und dann steht dort "enthält unter anderem", also ein Enthältvermerk. Und da schreiben dann die Archivarinnen und Archivare so Dinge rein, die ihnen auffallen, die möglicherweise wichtig sind für Nutzerinnen und Nutzer. Und in diesem Fall stand dann da eben auch Gedichte, also sichergestellte und fotodokumentierte Gedichte, Texte, Zeichnungen, religiöse Schriften, Zeitungsartikel, Tagebuchauszüge.
Maximilian Schönherr: Steht ein Datum da, wann Sie das beantragt haben? Und seit wann ist diese Akte hier auf dem Tisch?
Dr. Philipp Springer: Die habe ich 2015 bestellt. Das ist jetzt schon sehr lange her. Sie wird aber jetzt demnächst dann wieder zurück in das Magazin gehen. Eigentlich sollten Akten nicht so lange in den Büros liegen, aber in diesem Fall war das dann mal eine Ausnahme.
Maximilian Schönherr: Das heißt, ich darf ja gar nicht reingucken. Das sind ja gewisse Teile nicht geschwärzt, die ich gar nicht sehen dürfte. Wenn Sie es öffnen, die Gedichte jetzt vorlesen oder ich weiß jetzt nicht, was mich jetzt erwartet. Es läuft wahrscheinlich nicht auf Gedichte hinaus. Es ist ja immer wirklich ein Zufallsfund, worauf man dann stößt. Es passiert mir dauernd, wenn ich in der Rundfunk-Datenbank zum Beispiel der ARD recherchiere, ich komme auf irgendwas und dann denke ich mir: Hä? Was steht denn hier drunter? Ach so, da hat Thomas Mann zum 200-jährigen Geburtstag Goethes auch hier in Ostberlin gesprochen, nicht nur in Frankfurt. Und solche Dinge, da geht die Geschichte wieder weiter. Also ich darf das jetzt nicht sehen, wenn Sie es öffnen, ne?
Dr. Philipp Springer: Genau, da müssten Sie dann wegschauen. Das ist in der Tat so. Wobei diese Gedichte, die ich Ihnen dann auch gleich hier aufblättere, dürften Sie schon sehen. Das hat einen bestimmten Grund, den ich dann vielleicht gleich schildern kann. Also in dem Fall ging es darum, dass zwei Soldaten der NVA in den Blick der Staatssicherheit geraten waren, weil sie oppositioneller Handlungen verdächtigt waren. Und ein inoffizieller Mitarbeiter hat den Spind eines der Soldaten durchsucht und stieß dabei auf diese Gedichte. Die hat er dann kopiert und seinen Auftraggebern zur Verfügung gestellt.
Maximilian Schönherr: So kurze Unterbrechung, die äußere Aktenkladde oder wie das heißt, der Pappbehälter ist dunkelgrau/ grün und was wir rausholen ist jetzt das MfS-Original. Das heißt, das MfS hat, ich habe viele Akten auch selber hier inspiziert, das hat gern dieses Orange, dieses Ocker oder? Kommt häufig vor.
Dr. Philipp Springer: Ja, das mit der Farbe, da gibt es alle möglichen Formen.
Maximilian Schönherr: Ich kenn das, diese Farbe ist mir vertraut.
Dr. Philipp Springer: Ja, das ist natürlich an sich einfach ein normaler Aktenkarton hier vom VEB Organisationstechnik Eisenberg hergestellt, steht auch drauf. In der Akte, die wir jetzt gerade rausgeholt haben, da sind dann viele verschiedene Nummern drauf und Stempel, hier steht auch der Beginn 12.03.1982 wurde sozusagen diese Akte gestartet. Es gibt dann verschiedene Herkunftsstempel auch da drauf.
Maximilian Schönherr: Und zum Beispiel diese Zahl hier 15933/82 ist die MfS oder ist es BStU?
Dr. Philipp Springer: Das ist die Stasi-Signatur.
Maximilian Schönherr: Wo ist denn dann die aktuelle Signatur? Steht die gar nicht drauf?
Dr. Philipp Springer: Das ist die gleiche sozusagen nur mit dem Vorsatz AOP. Also das es ein Operativ-Vorgang ist.
Maximilian Schönherr: So hat die Stasi das selber nicht genannt?
Dr. Philipp Springer: Ja, doch, sie haben das auch schon so genannt. Aber das ist jetzt hier außen sozusagen nicht erkennbar dieser Begriff, sondern nur die Signatur.
Maximilian Schönherr: Okay, Sie öffnen jetzt diesen Zettel, wo ich jetzt nicht hingucken darf. Das sind jetzt unheimlich viele Blätter. Ich schätze mal 100 Stück, 100 Blatt, Durchschlagpapier.
Dr. Philipp Springer: Viel mehr.
Maximilian Schönherr: Viel mehr, okay. Durchschlagpapier ist noch viel dünner. Es ist nicht geringheftet, obwohl so Löcher drin sind. Das heißt, es war vielleicht mal ringgeheftet. Ich liebe es, in solchen Akten zu stöbern und es geht jedem Historiker wahrscheinlich auch so, obwohl Sie jetzt zehn Jahre hier gearbeitet haben und natürlich dauernd solche Sachen sehen. Irgendwann langweilt es dann auch, oder? Oder man sucht gezielter und schaut, dass man pragmatisch nach vorne kommt.
Dr. Philipp Springer: Nein, es ist eigentlich immer wieder interessant, weil einen immer wieder auch etwas erwartet, mit was man nicht gerechnet hat. Und natürlich ist es auch ein besonderes Gefühl, wenn man weiß, dass diese Akten mal den Stasi-Leuten dazu gedient haben, zum Beispiel Menschen zu bespitzeln. Man sieht mit Tinte oder Kugelschreiber die Unterschriften der hauptamtlichen Mitarbeiter, die das durchgeführt haben.
Maximilian Schönherr: Können wir jemanden benennen?
Dr. Philipp Springer: Also in diesem Fall hier einen Oberstleutnant Eggert, der hier der Leiter einer Untersuchungsabteilung war. Der notiert hier Fragen an diese Gedichte sozusagen, die der inoffizielle Mitarbeiter gefunden hat. Und wenn wir dann ein bisschen weiter blättern, dann stoßen wir tatsächlich auf diese Gedichte. Das war für mich auch ein besonderer Moment, als ich das aufgeschlagen habe, denn erstmal das Papier ist ganz besonders, das ist Thermopapier, das ist sozusagen der Schrecken jedes Archivars, weil das so eine Kopierform war, die zu Papier geführt hat, was sehr schnell verbleicht. Und man fertigt heute Sicherungskopien an, die dann den Akten beigelegt werden, damit auch dauerhaft der Text, den man dann noch erkennen kann, auch zu lesen ist. Denn wenn man die zu lange in der Sonne liegen lässt, dann wird der Text verschwinden und man hat dann nur noch eine weiße Seite vor sich.
Maximilian Schönherr: Das ist der Zettel aus dem Spind?
Dr. Philipp Springer: Das sind Kopien von dem. Also dieser inoffizielle Mitarbeiter konnte natürlich nicht einfach nur die Gedichte mitnehmen, dann wäre ja aufgefallen, dass das da durchsucht worden wäre, sondern er hat in irgendeiner Form das kopiert. Wie genau, das geht aus der Akte nicht hervor. Aber wir haben eben jetzt hier diese Thermokopien vor uns, das sind mehrere Seiten Gedichte offensichtlich. Jedenfalls ist es verständlich, dass die Stasi das so bezeichnet hat. Manche Wörter sind mit Kugelschreiber nachgezogen. Offensichtlich hat das die Stasi selbst schon gemacht, weil die Thermokopien nicht so gut waren. So, und oben drüber steht "Fehlfarben" und zwar auf jedem Blatt steht "Fehlfarben" oben drüber, über den Gedichten, da drunter dann eben immer andere Texte. Also zum Beispiel "Söhne und Töchter" oder "Imitation of Life" oder "Die Stunde des Glücks". Das sind einige der Gedichttitel und dann stehen unten drunter Namen und die kann ich in diesem Fall, denke ich, sagen, nämlich Thomas Schwebel und Uwe Bauer. Und nun stand die Stasi vor einem Problem, denn die Texte sind nicht so einfach zu lesen. Das sind jetzt nicht plumpe Aufrufe zur Revolte oder so. Das hätte die Stasi verstanden. Es waren viel kompliziertere Texte. Und die Stasi dachte sich, dass diese Namen Thomas Schwebel und Uwe Bauer Pseudonyme für diese beiden Soldaten sein könnten, dass also diese Soldaten diese Texte geschrieben hatten. Nun wollte die Stasi aber wissen: Sind das jetzt wirklich staatsfeindliche Gedichte? Und das konnte sie da nicht selber lösen, sondern beauftragte dafür einen sogenannten Experten IM, also ein Inoffizieller Mitarbeiter, der ein besonderer Experte war. In diesem Fall Otto Teuscher.
Maximilian Schönherr: Vielleicht ein Literaturwissenschaftler?
Dr. Philipp Springer: In der Tat Literaturwissenschaftler. Es war ein Germanist, der ansonsten das Literaturzentrum Neubrandenburg bespitzelt hat und der heißt IM Gildemeister. Und diesen Namen, den herauszufinden, war auch schon nicht einfach, denn in dem Dokument, was dann IM Gildemeister schreibt, ist diese Unterschrift mit Kugelschreiber durchgestrichen. Also wir sehen das hier vor uns das Blatt.
Maximilian Schönherr: Aber ein großes G.
Dr. Philipp Springer: Ja, also es lag schon relativ nah, das sozusagen zu lesen, aber es war eben nicht ganz klar. Deswegen waren die Kollegen vom Landeskriminalamt Berlin so nett, diese Schrift für uns lesbar zu machen. Also das heißt, dieses original Blatt ist dann ausgeliehen worden an die Kommissare dort und die haben das dann lesen können und haben dann den Namen Gildemeister herausgefunden, weil ich eben wissen wollte, wer diesen Bericht geschrieben hat. Die Stasi hat diesen Namen eben selber geschwärzt, damit die innere Konspiration gewahrt blieb. Also das sollten auch nicht alle Stasi-Mitarbeiter erfahren, wer eigentlich diesen Bericht geschrieben hat.
Maximilian Schönherr: Wo viele wahrscheinlich den Gildemeister gekannt hätten.
Dr. Philipp Springer: Na ja, das ist ja der IM Name. Also den musste man dann schon wissen, ja.
Maximilian Schönherr: Aber selbst den wollte man eben vertuschen.
Dr. Philipp Springer: Genau, den wollte man auch vertuschen, also sozusagen geheim halten. Das war gerade in den 80er-Jahren ganz, ganz wichtig für die Stasi, dass auch die einzelnen Diensteinheiten nicht voneinander wussten, wer was macht und wer welchen IM so am Laufen hat. Deswegen war das schon die erste Hürde sozusagen um herauszufinden, wer diesen Text eigentlich geschrieben hat, diese Begutachtung.
Maximilian Schönherr: Die Begutachtung der vielen Gedichte?
Dr. Philipp Springer: Genau.
Maximilian Schönherr: Von denen wir vielleicht noch einen Ausschnitt hören?
Dr. Philipp Springer: Genau. Das sind fünf Seiten, die er dann dazu verfasst hat. Und das ist schon ein sehr erstaunlicher Text, denn IM Gildemeister hat auch keine Ahnung. Er rätselt über den Begriff Fehlfarben. Der hätte etwas mit der Tabakindustrie zu tun und würde etwas unfertiges veranschaulichen. Er vermutet allerdings, dass es nicht einfach Gedichte sind, sondern Liedtexte, die dann ihre volle Wirkung erst mit Musik entfalten.
Maximilian Schönherr: Womöglich mit dekadenter kapitalistischer Rockmusik?
Dr. Philipp Springer: Ja, so genau kann er das gar nicht sagen. Also das könnten auch irgendwelche Liedermacher sein oder so. Das kann er nicht wirklich sagen.
Maximilian Schönherr: Die Vermutung geht aber schon in die richtige Richtung. Also diese Vermutung.
Dr. Philipp Springer: Ja, es sind aber ja deutsche Texte. Das ist vielleicht Anfang der 80er Jahre nicht die Welt von Rockmusik, die sich der gemeine Stasi-Mitarbeiter vorstellt. Das ist jetzt hier kein Text der Rolling Stones. Ich gucke mal gerade - Also hier schreibt er zum Beispiel über den Text "Imitation of Life". Er schreibt: "Die Autoren haben nämlich ein gewisses Verständnis für die attackierte Feigheit. Sie höhnen im Refrain: Es gibt nur etwas für brave Kinder, zärtliche Frauen, fleißige Männer. Die Wortwahl und der Kontext lassen keinen Zweifel zu, das Lied macht das gewöhnliche Leben verächtlich und deshalb auch denjenigen, der sich angleicht und sich gegenüber den Unzufriedenen abseits hält. Man geht wahrscheinlich nicht gänzlich fehl, wenn man dieses Lied für eine Art Aufruf zum Nonkonformismus gleich zu einer sich artikulierenden Gegnerschaft zu Biederheit, Einfachheit, Geradlinigkeit und so weiter hält." Also schon an diesem Satz sieht man, sehr kompliziert geschrieben.
Maximilian Schönherr: Das hätte ein Mielke gar nicht verstanden.
Dr. Philipp Springer: Ja, mit Sicherheit nicht. Das ist Text eines Studierten sozusagen, der im Grunde drumherum schreibt, weil er auch nicht wirklich selber versteht, worum es geht. Selbst den Titel "Die Wilde 13" versteht er nicht. Und das ist wiederum sehr komisch, weil hätte die Stasi Kinder in der Bundesrepublik gefragt, was denn die "Wilde 13" wäre, dann hätten wahrscheinlich die meisten Kinder das sagen können, denn das ist ja die gleichnamige Seeräuber Bande aus dem Kinderbuch "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer". Also ein Gedicht heißt "Die Wilde 13" und auch das versteht weder IM Gildemeister noch die Stasi. Man sieht hier, dass es einfach zwei ganz unterschiedliche Lebenswelten waren und dass die Stasi-Mitarbeiter und ihre inoffiziellen Mitarbeiter offensichtlich kein Gespür mehr dafür hatten, was wirklich in der Gesellschaft unter Jugendlichen angesagt war. Und das macht das Ganze so reizvoll, weil IM Gildemeister diese Gedichte so liest, als ob sie für die DDR geschrieben worden seien. Also als ob sie ein Kommentar, ein kritischer Kommentar zur DDR Gesellschaft seien. Tatsächlich aber ist ja Fehlfarben eine noch heute existierende Band, die Ende der 70er Jahre in Düsseldorf gegründet worden ist und ihre Texte mit Sicherheit nicht vor dem Hintergrund der DDR geschrieben hat, sondern natürlich auf die Gesellschaft in der Bundesrepublik gemünzt hat. Sie stammt aus der Ska- und Punkszene und war Anfang der 80er Jahre sehr, sehr bekannt. Die erste Schallplatte, die sie veröffentlicht haben, gilt als wichtigste Platte der 80er Jahre der deutschen Rock- und Punkmusik. Die hieß "Monarchie und Alltag".
Maximilian Schönherr: Keine Atempause. Geschichte wird gemacht. Es geht voran.
Dr. Philipp Springer: Genau, das ist der Titel, das Lied, was alle kennen von der Platte.
Maximilian Schönherr: Ziemlich subversiv.
Dr. Philipp Springer: Genau, aber auch die anderen Titel sind-, finde ich noch fast besser.
Maximilian Schönherr: Und diese Texte von diesen Platten oder von dieser Platte sind die Gedichte, die im Spind gefunden wurden?
Dr. Philipp Springer: Es sind die Titel der zweiten Platte, die hieß "33 Tage in Ketten" und irgendjemand hat die Texte von dieser Platte abgeschrieben und die wurden dann in der DDR heimlich weitergegeben, weil man eben diese Musik auch sehr gerne gehört hat, wenn man jemand war, der sich auskannte und eben auch natürlich überhaupt an diese Musik kam.
Maximilian Schönherr: Und der West-Radio hörte.
Dr. Philipp Springer: Der West-Radio hörte, genau. Oder vielleicht auf irgendwelche Weise überspielte Kassetten mitbekommen, mitgebracht bekommen hat oder so.
Maximilian Schönherr: Also wo waren die zu Hause diese beiden Soldaten?
Dr. Philipp Springer: In der nördlichen DDR sage ich mal, weil ich jetzt nicht zu genau werden sollte.
Maximilian Schönherr: Ja, okay. Denn ich habe in der Zeit - und da habe ich auch viel Fehlfarben gespielt - eine Rock-Sendung im Bayerischen Rundfunk moderiert und wir haben unheimlich viel Post aus der DDR bekommen und unter anderem die typische Post, die man dann so bekommt: Bitte redet nicht in die Titel rein, weil wir schneiden die auf Kassetten mit. Also das ist auch ein ganz gängiger Weg gewesen, aber der Bayerische Rundfunk war halt in Thüringen zu empfangen, aber natürlich nicht im nördlichen Deutschland, das war dann eine andere Quelle. Aber so lief die Information in der DDR unter jungen Leuten mit junger Rockmusik und Punkmusik in dem Fall.
Dr. Philipp Springer: Ja. Witzigerweise habe ich-, ich habe meine Jugend im Westen verbracht und hab natürlich auch Titel aus dem Radio aufgenommen, obwohl ich mir natürlich die dann auch kaufen konnte. In diesem Fall glaube ich aber, da eben sämtliche Lieder dieser Platte verschriftlicht worden sind, kann das nicht übers Radio gelaufen sein, weil eigentlich so eine gesamte Platte hat man ja im Radio nicht hören können. Das muss also jemand vom Plattencover sozusagen abgeschrieben haben, vielleicht auch vom Hören der Lieder, weil er vielleicht eine überspielte Kassette hatte. Also auf diese Weise ist das in den Spind des Soldaten gekommen. Das hat dann eben diese Kaskade sozusagen der Untersuchung ausgelöst.
Maximilian Schönherr: Dieser ganze Ordner hier, diese vielen Blätter handeln nur von diesem Ereignis?
Dr. Philipp Springer: Nein, dieser gesamte Ordner - oder es sind ja zwei, auch noch ein dünner - die behandeln die gesamte Überwachung dieser beiden Soldaten.
Maximilian Schönherr: Wegen der Gedichte? Oder wegen anderer subversiver Verdachtsmomente, die man hatte?
Dr. Philipp Springer: Man hatte auch andere Verdachtsmomente, also gerade weil die Kontakte in Kirchenkreise hatten, die haben auch so Zeichnungen angefertigt, auch schon andere Literatur Stücke selber verfasst. Und dann bei der Durchsuchung des Spindes tauchten diese Gedichte auf und die nehmen eben schon auch einen Raum ein in der Akte, aber jetzt nicht die komplette Akte. Das Ergebnis der Untersuchung von IM Gildemeister ist eben nicht ganz eindeutig. Trotzdem nimmt die Stasi das als Anlass weiter diese beiden Soldaten zu bespitzeln.
Maximilian Schönherr: Wie geht es den beiden heute?
Dr. Philipp Springer: Ja, das ist eine interessante Frage. Ich hätte natürlich gerne mit den beiden mal gesprochen, aber das war jetzt nicht das Ziel des Buches, dass man das dann nachverfolgt.
Maximilian Schönherr: Aber Sie kennen die Realnamen? Ich darf die nicht sehen, aber Sie kennen die. Sie könnten mal gucken, ob die noch da sind, wo diese Ereignisse stattfanden.
Dr. Philipp Springer: Aber es ist natürlich jetzt nicht die Aufgabe unseres Archivs, solche Leute zu kontaktieren und darauf hinzuweisen. Ich kann nur hoffen, dass die beiden mal einen Antrag auf Akteneinsicht stellen, denn dann würden sie auf dieses Material stoßen. Und ich habe natürlich auch in anderen Fällen auch mit Betroffenen schon geredet und da stößt man immer wieder darauf, dass die, wenn sie dann ihre Akte gelesen haben, sich plötzlich an Sachen erinnern, die sie total vergessen hatten. Ich weiß nicht, ob die beiden heute noch Fehlfarben hören.
Maximilian Schönherr: Können Sie mal eins der Gedichte kurz anlesen? Nur so die ersten drei Zeilen.
Dr. Philipp Springer: Es ist nicht so leicht zu lesen, weil eben die Schrift schon ein wenig verblichen ist. Ich nehme mal hier "Der Marsch": Der Marsch lässt keine Zeit mich zu verstecken. Der Marsch lässt uns nur Zeit schreiend zu verrecken. Der Marsch ist nicht ewig, denn ewig hat kein Ende. Der Marsch geht über mich und das fesselt meine Hände. Der Marsch reißt mit wie laute Musik. Der Marsch lässt vergessen, darum macht jeder mit. Der Marsch lässt keine Zeit, mich zu verstecken. Der Marsch hat so viel Sinn wie ein Kartenhaus im Wind.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Maximilian Schönherr: Wenn wir diese Akte schon offen haben, darf ich meinen Finger irgendwo hinlegen und wir lesen mal, was da drinsteht, ja? Also einfach so ein Test, einfach nur, um ein Gefühl für diese Akte zu bekommen? Ich guck nicht hin.
Dr. Philipp Springer: Ja, hier haben wir einen Bericht vom 2. April 1982, und zwar eines inoffiziellen Mitarbeiters namens Ulrich, das ist der IM Name, der hat seinem Verbindungsoffizier, für den er gearbeitet hat und gespitzelt hat, einen Bericht gegeben, und zwar zu einem bestimmten Soldaten. Und dieser Soldat ist um 04:45 Uhr aus dem Erholungsurlaub zurückgekehrt und hat da Ulrich berichtet. Und es geht darum, dass der Schrank eben ja durchsucht worden ist. Und der Soldat hat offenbar keinen Verdacht geschöpft.
Maximilian Schönherr: Okay, das heißt, wir haben jetzt ungefähr 100 Blätter zurück geblättert, da ist der Schrank schon - Also dieser Teil der Akte ist die Schrank-Akte, die Spind-Akte quasi schon?
Dr. Philipp Springer: Ja, das müsste man dann nochmal genauer-
Maximilian Schönherr: Lesen Sie doch mal einen Satz wörtlich vor, weil das machen Historiker ja gerne, sie interpretieren sofort und fassen zusammen. Aber damit wir ein Gefühl dafür bekommen, wie dieser IM geschrieben hat.
Dr. Philipp Springer: Also er berichtet: Nach Betreten seines Zimmers hat er - also der Soldat - achtlos seinen Schrank geöffnet und begonnen, seine Sachen einzuräumen. Ich habe nicht festgestellt, dass er neue Materialien mitgebracht hat. Ulrich.
Maximilian Schönherr: Der Ulrich, so wie er nicht im wirklichen Leben hieß, das war sein Deckname, der war auch Soldat, offenbar, sonst hätte er das nicht gesehen, ne?
Dr. Philipp Springer: Genau. Die haben wahrscheinlich im gleichen Zimmer sogar gewohnt, sonst hätte er das eben so genau gar nicht schildern können.
Maximilian Schönherr: Und wenn wir jetzt wissen wollen: Ulrich, wer steckte dahinter? Dann gäbe es in den Karteikarten in diesem Archiv Möglichkeiten, das herauszufinden. Ziemlich sicher, oder nicht?
Dr. Philipp Springer: Genau, dann löst man eine sogenannte Decknamen-Recherche aus. Das heißt, ich würde den Kolleginnen und Kollegen, die in dem Karteibereich hier im Archiv arbeiten, mitteilen, wie der Name dieses inoffiziellen Mitarbeiters ist, wann er berichtet hat, in welcher Diensteinheit der Stasi er war, auch in welcher Bezirksverwaltung. Und dann könnten die versuchen den zu ermitteln. Ich könnte mir vorstellen, in dem Fall würde man das auch relativ schnell und gut hinkriegen, weil es aus den 80er Jahren ist und wir sehr viele Informationen jetzt hier über ihn haben. Also das würde man dann tatsächlich herausfinden.
Maximilian Schönherr: Das war jetzt ein Zufallsfund. Sie haben nach Gedicht gesucht und stießen auf Songtexte von der Düsseldorfer Band "Fehlfarben" in den frühen 1980er Jahren und kamen dann auf diesen Fall. Was ist in dem nächsten Ordner drin? Der selbe Fall? Die selben Zwei?
Dr. Philipp Springer: Genau. Also diese gesamte Akte umfasst zwei und einen ganz kurzen dritten Band. Das heißt, die könnten wir eigentlich schon mal weglegen.
Maximilian Schönherr: Der dritte Band ist "Akte abgeschlossen", quasi? Ist es das Ende und man lässt die in Ruhe, es ist nichts Gefährliches. Oder weiß man nicht, wie es zu Ende geht?
Dr. Philipp Springer: Ja, also letztlich wie es dann wirklich zu Ende geht, das weiß man nicht unbedingt sofort, wenn man so eine Akte gelesen hat. Denn die Stasi konnte auch später noch mal die Akte hervorholen und dann vielleicht in einem anderen Zusammenhang den Menschen noch mal bespitzeln, dann gibt es eine neue Akte. Oder sie hat ihn vielleicht sogar als inoffiziellen Mitarbeiter gewonnen beziehungsweise erpresst, damit er inoffizieller Mitarbeiter wird. Also da müsste man dann zu den Personen dann noch mal Recherchen auslösen, um das dann herauszufinden. Ich habe mich, als ich hier anfing, im Stasi-Unterlagen-Archiv, mit der Kartei und Archiv Abteilung der Staatssicherheit beschäftigt, der Abteilung XII, das waren die, die die archivierten Akten verwaltet haben und die Karteischränke, die man ja auch von Bildern kennt und hab mich da vor allen Dingen auch damit beschäftigt, wer da eigentlich gearbeitet hat. Und in dem Zusammenhang sind mir dann auch Leute aufgefallen, die vorher aus der Staatssicherheit ausgeschieden sind, also bevor sie verrentet wurden oder krank wurden oder was auch immer. Und das finde ich immer besonders interessant. Warum verlässt jemand die Staatssicherheit? Das war ja nun eigentlich nicht üblich. Und dadurch bin ich auf diesen Fall gestoßen, der dann auch in den Band "Verschlusssachen" Eingang gefunden hat. Und zwar geht es da um einen jungen Mitarbeiter dieser Diensteinheit, also der Abteilung XII, der sozusagen eine ganz normale Karriere hat. Wir haben hier vor uns die Kaderakte, also sozusagen die Personalakte dieses Mitarbeiters.
Maximilian Schönherr: Diesmal mit einem blauen Deckel.
Dr. Philipp Springer: Genau.
Maximilian Schönherr: Aber dann geht es gleich mit Orange weiter.
[Lachen]
Dr. Philipp Springer: Ja, das stimmt. Und da findet man dann erst eine zusammengefasste Auskunft. Also wie der hieß, wo er geboren worden ist. Zufälligerweise hat er auch noch mit mir Geburtstag, jedenfalls was den Tag angeht, aber das sehe ich gerade erst. Und da findet man dann Beurteilungen, auch die Überprüfung seiner Verwandten und so weiter und so fort. Und das habe ich mir alles angeschaut, auch seine Verpflichtung. Und dann habe ich geguckt: Warum ist er denn eigentlich aus der Staatssicherheit ausgeschieden? Und da stößt man dann darauf, dass er, wie es für hauptamtliche Mitarbeiter üblich war, seine Freundin benennen musste. Also jeder hauptamtliche Mitarbeiter, der eine Freundin hatte bzw. einen Freund, wenn er eine Frau war, musste sagen, wenn er eine Beziehung einging. Dann wurde diese Person überprüft und auch die gesamte Familie dieser Freundin oder dieses Freundes.
Maximilian Schönherr: Ziemlich lästig bei One-Night-Stands.
Dr. Philipp Springer: Ich denke bei einmal-
Maximilian Schönherr: -musste man das nicht melden.
Dr. Philipp Springer: Nein, musste man nicht melden. Es war schon eher so gedacht, wenn man da jetzt sozusagen die Zukunft mit diesen Menschen teilen wollte. Das war der Hintergrund. Aber wechselhafte Bekanntschaften waren natürlich von der Stasi auch nicht gerade so erwünscht. Also jedenfalls hat der seine Freundin gemeldet. Und das-
Maximilian Schönherr: Wie heißt denn die mit Vornamen? Das müssen Sie in ihrem eigenen Buch nachgucken?
Dr. Philipp Springer: Nein, ich kann es sagen, aber eigentlich möchte ich das nicht, weil das natürlich auch - Das war keine Stasi-Mitarbeiterin.
Maximilian Schönherr: Okay, dann nennen wir sie Petra.
Dr. Philipp Springer: Okay, Petra. Und dann dauerte es mehrere Monate, bis sozusagen deren Familie ausgeforscht worden war. Und im März 1983 war dieser hauptamtliche Mitarbeiter Ronald R. im Urlaub mit seiner Freundin und wurde dann aus dem Urlaub aber zurückgerufen, da das Untersuchungsergebnis jetzt vorlag. Und danach war es so, dass die Familie seiner Freundin von Petra Westkontakte hatte, brieflich und es kamen auch welche zu Besuch.
Maximilian Schönherr: Das kam ja dauernd vor. Also viele, viele DDR-Bürger hatten Kontakte zu West. Das ist noch kein Ausschlussgrund.
Dr. Philipp Springer: Ja, für hauptamtliche Mitarbeiter war das ein ganz großes Problem. Man findet eben immer wieder Konflikte innerhalb einer Familie. Die durften dann nicht zu Familienfeiern, weil da vielleicht Westbesuch erwartet wurde. Auch die Familienangehörigen durften nicht in den Westen reisen oder wurden eben stark unter Druck gesetzt von den eigenen Familienangehörigen nicht zu fahren. Also alles sehr kompliziert. Und in diesem Fall war es eben so, dass dann der Mitarbeiter, also Ronald R., aufgefordert wurde von seinen Vorgesetzten, sich von dieser Freundin zu trennen, da sie ein Sicherheitsrisiko darstellen konnte. Man befürchtete immer, dass solche Westkontakte dazu führen könnten, dass westliche Geheimdienste irgendwie die Leute erpressten oder ähnliches.
Maximilian Schönherr: Da gibt es eine Mielke-Rede hier im Feldherrnhügel, oder wie der heißt, da in Lichtenberg, wo er gerne vor seinen hohen Soldaten, Offizieren geredet hat, wo er sagt: Ich verstehe das, wenn die Hormone wild spielen, aber sie müssen sich der Staatssicherheit unterordnen.
Dr. Philipp Springer: Ja, also es ist natürlich ein massiver Eingriff in das Leben solcher Menschen, dass sie von Vorgesetzten aufgefordert wurden, sich von der Freundin zu trennen. Das ist ja für uns heute eigentlich unvorstellbar so etwas. Damals war das für die Hauptamtlichen eben schon üblich, sozusagen. Ronald R. schreibt dann handschriftlich hier wirklich ein Schreiben "Stellungnahme zum Kadergespräch". Und da schreibt er, dass er sich tatsächlich von seiner Freundin trennen will. Er hat die Schlussfolgerungen aus dem Gespräch gezogen und sieht ein, dass das eben nicht möglich ist, dass er mit der Freundin weiter Kontakt hat.
Maximilian Schönherr: Ein Satz wörtlich bitte.
Dr. Philipp Springer: "Deshalb breche ich diesen Kontakt mit Wirkungen des heutigen Datums ab und werde diese auch nicht wieder aufnehmen." So, das schreibt er am 22. März 1983.
Maximilian Schönherr: Auf kariertem Papier.
Dr. Philipp Springer: Genau. Und dann wird er wieder nach Hause entlassen, also in den Urlaub. Und kommt wieder-
Maximilian Schönherr: Und er schreibt wieder. Ich habe seine Handschrift gerade wiedererkannt.
Dr. Philipp Springer: Genau. Und er schreibt dann sechs Tage später eine weitere Stellungnahme, die aber wesentlich umfangreicher ist. Das andere ist nur eine Seite, diese hier hat vier Seiten. Und da schreibt er, dass er das doch nicht machen will. Er will sich nicht von seiner Freundin trennen. Er möchte bei ihr bleiben und sieht dann ein, dass die Konsequenz bedeutet, dass er nicht im Ministerium für Staatssicherheit bleiben kann. Und das ist ein sehr bewegender Brief, als ich ihn vor mir hatte - oder es ist kein Brief, sondern eine Stellungnahme - also als ich ihn vor mir hatte, ja, hat man schon erst mal geschluckt, weil es sozusagen eine Form eines Liebesbriefes ist an diese Freundin, aber verfasst als Stellungnahme an die eigenen Vorgesetzten. Also es ist ein sehr erstaunliches Dokument. Er schreibt, wie wichtig sie ihm ist, wie positiv sie auf ihn Einfluss genommen hat, dass man gemeinsame Interessen hat für Musik zum Beispiel, dass sie im Chor gemeinsam singen. Also extrem persönlich schreibt er hier. Dass er auch Schwierigkeiten hatte, vorher überhaupt eine Freundin zu finden. Und dass auch deswegen ihm das alles sehr wichtig ist. Und dann kommt er eben zu dem Schluss: "Ich bitte dabei um Entlassung aus dem Dienst im Ministerium für Staatssicherheit und versichere, dass ich auch in dem vor mir liegenden Leben-" - das kann ich gar nicht richtig lesen - dass er jedenfalls auch weiterhin sozusagen im Sinne des Sozialismus sich verhalten will. Das musste er natürlich auch schreiben, denke ich mal, um seine Vorgesetzten ruhigzustellen. Aber es ist ein sehr, sehr persönliches Dokument hier in so einer nüchternen Kaderakte.
Maximilian Schönherr: Hm. BStU 0246.
Dr. Philipp Springer: Ja, das ist die Paginierung, also die Seitenzahl, die von unserem Archiv dieser Seite hier zugeteilt worden ist, also drauf gestempelt worden ist.
Maximilian Schönherr: Nützt einem nichts, wenn man danach sucht, weil da muss man erst die äußere Akte finden, bevor man dann mit dieser Nummer was machen kann.
Dr. Philipp Springer: Das ist einfach die Seitenzahl wie in einem Buch. Um mit solchen Akten arbeiten zu können, muss eben jede Seite auch nummeriert sein.
Maximilian Schönherr: 246 Seiten und da sind wir erst in der Mitte von diesem Ordner.
Dr. Philipp Springer: Genau. Und da sieht man auch darüber ist die Seitenzahl, die die Stasi dieser Seite gegeben hat, nämlich die 83, also die haben handschriftlich darauf geschrieben. Unsere sozusagen 246 kommt dadurch zustande, dass da eben sehr viele Seiten mehr drin sind, als die Stasi selbst durchnummeriert hat. Also gerade so die ersten Seiten oder Blätter dazwischen sind von der Stasi nicht immer nummeriert worden.
Maximilian Schönherr: Aber was wir hier sehen, ist eine original Stasi-Akte. Das heißt, da wurde nichts in zwei Akten gegliedert im Nachhinein von Ihnen oder von ArchivarInnen, sondern das ist die Akte und die haben sie einfach anders nummeriert. Wahrscheinlich wesentliche für sie wichtige Punkte haben die dann einfach nummeriert und die anderen weggelassen. Eine kleine Statistik und wer wann aus der S-Bahn ausgestiegen ist oder so. Ich versuche zu verstehen 83 und 246 sind sehr unterschiedliche Zahlen.
Dr. Philipp Springer: Ja, das kommt manchmal dadurch zustande, dass da ein umfangreicheres Dokument nur mit einer Seitenzahl von der Stasi belegt worden ist oder irgendwelche kleineren Quittungen oder so oder nicht gezählt worden sind.
Maximilian Schönherr: Haben wir denn Quittungen in dieser Akte?
Dr. Philipp Springer: Also in diesem Fall war das jetzt keine Quittung, sondern sah nur so aus. Deswegen habe ich den Begriff benutzt.
Maximilian Schönherr: Das sieht aus wie eine Quittung.
Dr. Philipp Springer: Ja, das stimmt. Das sind so kleine Überprüfungszettel. Also wenn jetzt eine Diensteinheit jemanden überprüfen lassen wollte, dann hat sie so einen Zettel ausgefüllt. "Operative Auskunft vor unbefugter Einsichtnahme sichern" steht ganz oben drüber und dann geht es um eine Personenüberprüfung hier in der Abteilung M, also der Postkontroll-Abteilung. Da stehen dann die Namen, Geburtsdatum, Geburtsort, Beruf und so weiter. Und damit konnten dann die entsprechenden Mitarbeiter in der anderen Diensteinheit diese Person überprüfen, damit das dann Eingang hatte in diese Kaderakte. Ob eben irgendwelche Verwandten hier von diesem hauptamtlichen Mitarbeiter irgendwelche Probleme verursachten oder Westkontakte hatten oder was auch immer.
Maximilian Schönherr: Ging es denn gut? Also hat man ihm gesagt: "Du bist Geheimnisträger, du darfst auf keinen Fall was erzählen, aber wir entlassen dich jetzt in Güte und du darfst sogar studieren", oder so?
Dr. Philipp Springer: Ja. Also ob er studiert hat, das kann ich jetzt nicht sagen. Aber man konnte natürlich das Ministerium verlassen, wenn man das nicht wollte. Man wurde natürlich sehr massiv unter Druck gesetzt, bevor man das gemacht hat. Also es war sicher nicht so leicht, sich dafür zu entscheiden. Man muss ja auch sehen, dass viele dieser Mitarbeiter aus Familien kamen, in denen schon viele hauptamtliche Mitarbeiter arbeiteten, also die sogenannte Selbstrekrutierung des MfS, also dass die immer versucht haben, Leute zu gewinnen, deren Eltern oder Großeltern auch schon bei der Staatssicherheit waren. Das ist gerade in den 80er Jahren immer wieder zu beobachten, es ist gerade zu Standard.
Maximilian Schönherr: Das heißt, in dem Fall hätte es so sein können, dass der Vater schon Mitarbeiter beim Ministerium für Staatssicherheit war und dann mitkriegt, dass der Sohn kündigt, nur wegen dieser blöden Petra, die Kontakte zum Westen hat. Also es kann viel Streit in den Familien geben, das kann man sich beliebig weit vorstellen, wenn das schon so emotional ist, wie Sie das gerade beschreiben. Also da stecken schon Tragiken dahinter. Dieses Buch und was Sie hier daneben liegen haben, kann man online lesen. Man kann es aber auch für eine Schutzgebühr von 5 Euro kaufen. Es nennt sich "Verschlusssachen" und es ist von Karsten Jedlitschka, der auch schon im Podcast war, Jens Niederhut, der auch schon im Podcast war und Ihnen, Philipp Springer, herausgegeben. Es ist so nicht hoch wissenschaftlich, sondern es erzählt eigentlich diese Fälle, die ziemlich beliebig herausgegriffen sind und in der Menge einen guten Überblick geben. Ja, ich würde sagen, wir schließen. Okay?
Dr. Philipp Springer: Okay.
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Sie hörten ein Gespräch mit Dr. Philipp Springer über seine Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv. Das von ihm und zwei Kollegen herausgegebene Buch zum heutigen Thema heißt "Verschlusssachen - Dokumente, Fotos und Objekte aus dem Archiv der Staatssicherheit". Von Philipp Springer gibt es zudem den Bildband "Der Blick der Staatssicherheit - Fotografien aus dem Archiv des MfS". Und er ist Mitautor eines Bandes über das Archiv, über "Das Gedächtnis der Staatssicherheit".
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet immer mit einem akustischen Einblick in den riesigen Audiopool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang mit dem aktuellen Podcast-Thema. Diesmal, und das ist auch nicht untypisch, sehr schwer verständlich. Wir haben es versucht ein bisschen zu entrauschen, aber es ist ein sehr spannender O-Ton.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. George Blake war wie viele Agenten eine schillernde Persönlichkeit. 1922 in Rotterdam geboren, warb er nach dem Zweiten Weltkrieg für den britischen Geheimdienst Agenten für diesen in Osteuropa an. In nordkoreanischer Gefangenschaft wurde er Kommunist. Davon ahnungslos schickte ihn der MI6 als Doppelagenten nach Berlin. Er verriet im MI6 Agenten, die von ihm selbst angeworbenen osteuropäischen Agenten, und den geheimen Tunnel der "Operation Gold" von West nach Ostberlin an die Sowjetunion. 1959 enttarnt, wurde er 1961 von einem britischen Gericht zu 42 Jahren Haft verurteilt. Nach spektakulärer Flucht über Belgien und die DDR gelangte er nach Moskau, wo er bis zu seinem Tod im Dezember letzten Jahres lebte. Das war die Kurzfassung eines Lebens, geprägt durch den Kalten Krieg, Stoff für Filme und Bücher. Mitte der 1970er Jahre gab er vor MfS-Mitarbeitern in der Schule der HV A in Belzig Auskunft über sein Leben. Von 141 Minuten hören wir drei. Das erwähnte ungeklärte Treffen in Den Haag in Holland war sein erstes Treffen mit dem KGB Mitarbeiter, von dem er kurz vorher berichtet hatte.
[Archivton]
[George Blake:] In London traf ich wieder - äh - regelmäßig mein Sowjet Genosse. Und [unverständlich] auch dort meine Aufgabe war, zu versuchen Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft, die in London zu werben, so konnte ich ohne Schwierigkeiten [unverständlich] englischen Sicherheitsdienst, weil die Zusammenarbeit, [unverständlich] zwischen die beiden Dienste natürlich sehr eng ist, konnte ich die Dossiers bekommen, von alle Mitarbeiter der Sowjet Botschaft in London. Und ich bekam natürlich auch das Dossier meiner-, meine-, den Genossen, mit denen ich arbeiten. Ich sah darin, dass er ein General der KGB war, dass er den Rang - äh - Botschaftsrat hatte, [Niesen im Hintergrund] dass die Engländer und die Amerikaner wusste, dass er der Resident der KGB in London war und das er früher in Washington gearbeitet hatte. Weiter stand da noch eine Beschreibung von einer Reise, die er nach Den Haag gemacht hatte. Man hatte ihn gefolgt, die holländische Dienst war da wohl bei einbezogen, aber irgendwie hatte sie seine Spur verloren und immer fragte sie mich ab, was er nun dort in Holland gemacht hatte. Nun, ich wusste, was das war. Nun muss ich sagen, dass [Husten im Hintergrund] es für mich vielleicht nur persönlich eine der Höhepunkte meiner Arbeit für die sowjetische Dienst war, wenn ich diese Dossier fotografieren konnte. Vor allem, weil da eben geschrieben stand, dass die englische und die amerikanische Geheimdienst sehr viel Achtung für die Arbeit von diese Genosse hatte und ihn als eine sehr gefährliche Gegner einschätzte. Und wenn ich ihn bei unserem nächsten Treffen sein persönlichen Dossier überhändigte, war das für mich eine große Freude. Und ich denke, als er es nachher selbst gelesen hat, dann in Moskau hat er es gelesen, da war man wahrscheinlich auch erfreut.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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MehrIn dieser Folge unseres Podcasts führte Philipp Springer ein Gespräch über das Medium Fotografie im Alltag der Stasi.
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