Der Otto Fleischer-Prozess beim SWR Archiv-Radio
Im SWR Archiv-Radio finden Sie den Strafprozess gegen Otto Fleischer in Gesamtlänge. (externer Link)
Foto von Otto Fleischer und Deckblatt des Vollstreckungsheftes, Quelle: Wikimedia Commons, Jürgen Fleischer, CC BY-SA 3.0 de
Im September 1953 standen acht führende Figuren des sächsischen Bergbaus in Ost-Berlin vor Gericht und mussten sich dem Vorwurf angeblicher Spionage und Sabotage stellen. Otto Fleischer, Bergbauingenieur und SED-Mitglied, gehörte zu den Angeklagten. Die Stasi schnitt den Schauprozess in einer Länge von 30 Stunden mit. Anhand von Original-Ausschnitten wird die Geschichte des Prozesses erzählt, bei dem Walter Ulbricht und Erich Mielke im Hintergrund in einer bewegten politischen Phase der DDR die Strippen zogen.
[Jingle]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ...ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu unserer 53. Folge. Zusammen mit Dagmar Hovestädt führe ich Sie durch diese Stunde. Dagmar Hovestädt leitet die Abteilung Kommunikation und Wissen im Bundesarchiv im Bereich Stasi-Unterlagen-Archiv. Ich bin Maximilian Schönherr und kenne mich, und das ist in dieser Folge besonders wichtig, vor allem im Audiobereich des Archivs aus.
Dagmar Hovestädt: Wir widmen uns heute einem Strafprozess, der vor rund 70 Jahren vor dem höchsten Gericht der DDR stattfand. Es ist eine weitere Begegnung mit den vielen mitgeschnittenen Gerichtsprozessen im Stasi-Unterlagen-Archiv, die in der Regel politische Prozesse waren und oft dramatisch Lebensgeschichten erzählen. Dieser Prozess begann am 21. September 1953, einem Montagmorgen, mit folgenden Worten des Vorsitzenden Richters Walter Ziegler:
[Archivton]
[männlicher Sprecher:] -ist eröffnet.
[Richter Walter Ziegler:] Ich bitte die Sache gegen die Angeklagten Fleischer und andere aufzurufen. Der ist aufgerufen, ja?
[männlicher Sprecher:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Der Senat verhandelt unter dem Vorsitz von Oberrichter Ziegler als kommissarischen Vizepräsidenten des Obersten Gerichts mit den Richtern Oberrichter Möbius und Richter Seidel als Ergänzungsrichter ist gemäß Paragraph 189 Absatz 2 der Strafprozessordnung das weitere Mitglied des Ersten Senats, Richter Dr. Löwenthal, zugezogen. Die Anklage wird vertreten vom Generalstaatsanwalt der Deutschen Demokratischen Republik, Dr. Melsheimer und Staatsanwalt Flemming. Es sind dann erschienen die Angeklagten Fleischer. Sie heißen mit Vornamen Otto?
[Otto Fleischer:] Otto, Fritz.
[Richter Walter Ziegler:] Otto, Fritz. Geboren am 30.01.1901.
[Otto Fleischer:] 30.01.1901
[Richter Walter Ziegler:] In Breslau, ja? Beruf zuletzt Professor der Bergkunde, ja?
[Otto Fleischer:] Zuletzt [unverständlich] vorher Bergingenieur Dr. Ing.
[Richter Walter Ziegler:] Und zuletzt Inhaber eines Lehrstuhls an der Bergakademie in Freiberg, ja?
[Otto Fleischer:] Mh.
[Richter Walter Ziegler:] Sie sind verheiratet? Ihre Wohnung ist Freiberg Sachsen, Richard Wagner Straße 17.
[Otto Fleischer:] Richard Wagner Straße 17.
[Richter Walter Ziegler:] Der Angeklagte Kappler.
[Wilhelm Kappler:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Vornamen?
[Wilhelm Kappler:] Wilhelm. [Richter Walter Ziegler:] Wilhelm Gustav Rudolf, ja?
[Wilhelm Kappler:] Jawohl.
[Richter Walter Ziegler:] Geboren am?
[Wilhelm Kappler:] 27.02.92.
[Richter Walter Ziegler:] 27.02.92 in Meuselwitz
[Wilhelm Kappler:] Jawohl.
[Richter Walter Ziegler:] Beruf Bergingenieur.
[Wilhelm Kappler:] Jawohl.
[Richter Walter Ziegler:] Zuletzt technischer Leiter im Martin Hoop Werk in Zwickau.
[Wilhelm Kappler:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Sie sind verheiratet.
[Wilhelm Kappler:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Wohnung Zwickau Oskar Arnold Straße 4. Ist richtig, ja?
[Wilhelm Kappler:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Der Angeklagte Hertel.
[Hans Erich Hertel:] Hier.
[Richter Walter Ziegler:] Vorname?
[Hans Erich Hertel:] Hans Erich.
[Richter Walter Ziegler:] Hans Erich. Geboren am?
[Hans Erich Hertel:] 11.02.04
[Richter Walter Ziegler:] 11.02.04 in Auerbach/Vogtland
[Hans Erich Hertel:] Jawohl, Auerbach/Vogtland.
[Richter Walter Ziegler:] Beruf?
[Hans Erich Hertel:] Diplom Bergingenieur.
[Richter Walter Ziegler:] Diplom Bergingenieur. Zuletzt beschäftigt als technischer Leiter im Werk Deutschland in Zwickau?
[Hans Erich Hertel:] In Oelsnitz, im Erzgebirge.
[Richter Walter Ziegler:] In Oelsnitz. Sie sind verheiratet?
[Hans Erich Hertel:] Jawohl, verheiratet-
[Richter Walter Ziegler:] Wohnhaft Oelsnitz, Deutschland, Schachtstraße Straße Nr. 4. Der angeklagte Bank.
[Georg Robert Bank:] Vornamen Georg Robert-
[Archivton Ende]
Maximilian Schönherr: Bei acht Angeklagten zog sich die Aufnahme der persönlichen Daten allein schon einige Zeit hin, weswegen wir den O-Ton jetzt ausblenden.
Dagmar Hovestädt: Es war ein Schauprozess gegen führende Persönlichkeiten der Energiewirtschaft, allen voran gegen den Professor für Bergbau an der Bergakademie Freiberg in Sachsen, Otto Fleischer. Wie in vielen politischen Verfahren, so auch in diesem, spielte die Stasi eine wichtige Rolle, etwa bei der Inhaftierung und der Ausrichtung der Prozesse. Zur Einordnung des Prozessumfeldes gehört auch, das zu dem Zeitpunkt das Ministerium für Staatssicherheit gerade mal dreieinhalb Jahre alt war und es auf insgesamt 12.000 Mitarbeiter brachte, die wenige Monate zuvor komplett versäumt hatten, den Arbeiteraufstand im Juni des Jahres vorherzusehen oder gar zu verhindern. Im Verhandlungssaal saßen Stasi-Offiziere als Publikum, Stasi Techniker stellten Mikrofone auf und schnitten auf Tonbändern mit. 30 Stunden im Prozess gegen Otto Fleischer und weitere Angeklagte aus dem Bergbau. Hören wir ins letzte Tonband hinein, wo das Urteil 15 Jahre Zuchthaus verkündet wird.
[Archivton]
[Richter Walter Ziegler:] Durch die Bestrafung mit 15 Jahren Zuchthaus soll dem Angeklagten Gelegenheit gegeben werden, seinen im Schlusswort beteuerten Willen, alle Kräfte und Kenntnisse in den Dienst der Deutschen Demokratischen Republik stellen zu wollen, durch die Tat zu beweisen. Der Senat glaubt, dass die zeitige Zuchthausstrafe geeignet ist, die von dem Angeklagten beteuerte innere Bereitschaft zur Mitarbeit am Aufbau unserer Gesellschaft zu festigen. Dagegen zeigt der von dem Angeklagten begangene Verrat an der Deutschen Demokratischen Republik, an den und an dem ihm entgegengebrachte Vertrauen der Werktätigen, dass er in hohem Maße ehrlos gehandelt hat. Infolgedessen ist die Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte, die die Aberkennung der Würde das von ihm erschlichenen Nationalpreises mit einschließt, erforderlich.
[Archivton Ende]
Dagmar Hovestädt: So weit zwei Ausschnitte aus dem Originalton des Prozesses. Wir hören gleich noch einige mehr. Maximilian, du bist 2012 auf dieses Material gestoßen. Durch konkrete Recherchen nach Otto Fleischer?
Maximilian Schönherr: Nein, den Namen Otto Fleischer kannte ich damals noch nicht. Es war so: Ich hörte mit zwei Kolleginnen von dir, die im Audiobereich arbeiten, Originaltöne zu einem anderen Prozess durch. Da fiel mehrfach der Name Clemens Laby, Clemens mit C und Laby mit Y. Elke Steinbach aus dem Audiobereich und ich recherchierten dann nach diesem ominösen Mann, der Spion des Westens war und stießen in der Datenbank des Stasi-Unterlagen-Archivs tatsächlich auf einen Bergbau Professor namens Otto Fleischer. So kam die ganze Sache ins Rollen.
Dagmar Hovestädt: Unsere Datenbanken, so viel sei noch ergänzt, speisen sich ja aus der sogenannten Erschließung des Materials durch unsere Archivarinnen und Archivare, die dabei viele Details und eben auch Namen in der Datenbank zu einem Dokument oder Tonband hinterlegen.
Maximilian Schönherr: Also ich habe hier mal ein Beispiel zum anderen Thema, aber auch aus eurem Archiv. Da steht dann: Digitales Ersatzoriginal enthält unter anderem Personenbeschreibungen und Einschätzungen von männl., also männlichen, Jugendlichen aus einem Heim. Man schreibt diese Erschliessungsdaten oft sehr kurz auf. Es steht circa 1970, weil wahrscheinlich auf dem Band nichts drauf stand. Laufzeit, die weiß man aber, 180 Minuten, entnommen aus einer anderen Akte und so weiter. Das ist für mich ziemlich typisch, was ich so an Erschießungen im Audiobereich lese.
Dagmar Hovestädt: Also wir haben einen Westspion namens Clemens Laby und einen Ost Akademiker namens Otto Fleischer. Ein klassischer Fall von Wirtschafts- oder Wissenschaftsspionage?
Maximilian Schönherr: Nicht ganz. Ich habe viel später herausbekommen, dass Laby und Fleischer nicht nur fast gleich alt waren, sondern sich aus ihrer schlesischen Heimat in Kattowitz, heute in Polen, kannten und dann beide an der Technischen Hochschule Berlin Bergbau studierten. Ob sie befreundet waren, weiß ich nicht. Sie waren sich sicherlich sehr vertraut. Mit der DDR Gründung 1949 gingen sie dann verschiedene Wege, aber sie trafen sich trotzdem immer wieder.
Dagmar Hovestädt: Laby arbeitete bei der Ruhrkohle, genauer der North German Coal Corporation, dem Vorgänger der 1949 von den Westalliierten gegründeten Internationalen Ruhrbehörde mit Sitz in Düsseldorf. Dort war er auch Agent für den Dienst Gehlen, den Vorgänger des Bundesnachrichtendienstes. Wie wurde er denn eigentlich dafür rekrutiert?
Maximilian Schönherr: Den Vorgang wissen wir nicht genau. Aber Clemens Laby fiel schon 1949, noch vor der Gründung von DDR und Bundesrepublik, dem gerade erst gegründeten US-Geheimdienst CIA positiv auf. Was ihn für die Spionage interessant, eigentlich richtig interessant machte, war dreierlei: Seine Kontakte zur DDR Energiewirtschaft, seine Kenntnisse des Bergbaus und der Abbautechniken und er bekannte sich klar als Gegner des Sozialismus. Das einzige, womit die CIA und kurz darauf der von der CIA angeleitete deutsche Ableger der Dienst Gehlen Probleme hatten, waren Labys hohe Honoraransprüche. Ab 1951 war auch dieser Punkt geklärt. Als Top Spion bekam er 800 D-Mark West plus Spesen, ein fürstliches Gehalt. Und irgendwo musste man ihn halt halb getarnt unterbringen und da bot sich die Ruhrkohle Zentrale in Essen oder Duisburg oder Düsseldorf, ich weiß nicht genau, an.
Dagmar Hovestädt: Was sagt denn eigentlich der Bundesnachrichtendienst über Clemens Laby in seinen Unterlagen. Weißt du das?
Maximilian Schönherr: Der BND hat 2010/ 2011 eine unabhängige Historikerkommission eingerichtet, um seine eigene Frühgeschichte zu erforschen. In dem Kontext wurden Teile des Archivs für diese Historiker und Historikerinnen geöffnet. Ich fragte da ziemlich früh als Medienvertreter an, was im BND Archiv über Clemens Laby bekannt ist und bekam einige Monate später die Antwort: Den Namen konnten wir in den Unterlagen nicht finden. Komisch, dachte ich, warum decken die ein Spion aus den 1950er Jahren heute noch? Aus unserem Podcast, genau genommen aus der Folge 6, also Stasi-Unterlagen Podcast, wo es um den frühen BND und die Stasi ging, habe ich aber gelernt, dass das BND Archiv, ich sage es jetzt mal flapsig, ein Chaos ist. Wenn der Name Laby beim ersten Durchgucken von bestimmten Aktenschränken nicht gefunden wurde, kann es durchaus sein, dass er in anderen Papierstapel häufig vertreten ist, aber da hat man eben noch nicht reingeguckt. Inzwischen kenne ich auch, und zwar indirekt durch den BND Labys Decknamen. Der Historiker Ronny Heidenreich, den wir in dieser Folge 6 zu Gast hatten und der Teil der Historikerkommission war und jetzt bei euch im Forschungsbereich arbeitet, konnte da weiterhelfen. Laby lief im BND als Gerber, das war sein Deckname und seine Geheimdienst Kennung war V4907. Wo man Clemens Laby wiederum gut finden kann, ist in euerm Archiv, da ist er in vielen Akten verzeichnet und auch in mehreren Spionageprozessen der jungen DDR aufgeführt. In keinem dieser Prozesse aber wird er so plastisch wie im Fleischer Prozess. Ich würde sagen, wir hören mal eine von mehreren Stellen des Originaltons von 1953, wo es um die Bekanntschaft der beiden geht.
[Archivton]
[Otto Fleischer:] -mit Laby.
[Richter Walter Ziegler:] Vielleicht erzählen Sie uns zunächst etwas mal aus Ihrem, über Ihr Verhältnis zu dem Laby.
[Otto Fleischer:] Laby ist Bergb-
[Richter Walter Ziegler:] Wer war Laby? Woher kannten Sie ihn?
[Otto Fleischer:] -ist Berg Ingenieur. Ich kannte ihn bereits seit 30 Jahren. Ich habe mit ihm 1920 auf der Oheimgrube zusammen praktiziert und dann habe ich mit ihm auch zusammen in Berlin studiert. 1926 ging ich dann nach Oberschlesien und Laby ging nach seinem Studium ebenfalls nach Oberschlesien, und zwar zur polnischen Kohlenverwaltung. Wir kamen dann auseinander. 1939, da habe ich dann Laby wieder, als er in deutsche Dienste eingetreten war. Er war bei der Deutschen Kohlenverwaltung in Oberschlesien tätig und 1945 sah ich ihn in der Zentralverwaltung der Brennstoff Industrie in Berlin wieder. Er war-
[Richter Walter Ziegler:] Wann sahen sie ihn da wieder? 1945?
[Otto Fleischer:] 1945 bereits wahrscheinlich im November 1945. Er war dort persönlicher Referent des Präsidenten der Hauptverwaltung. Das heißt, das wurde er erst 1946. Vorher war wohl Abteilungsleiter. Außerdem war er Abteilungsleiter Steinkohle, für Steinkohle.
[Richter Walter Ziegler:] In der Hauptverwaltung Steinkohle, ja?
[Otto Fleischer:] In der Hauptverwaltung, in der Hauptverwaltung Kohle, in der Zentralverwaltung der Brennstoff-Industrie, war er Abteilungsleiter für Steinkohle. Und wir waren als alte Bekannte auch wieder mit einander verbunden und haben gut zusammengearbeitet in der ganzen Zeit seiner Tätigkeit bei der Zentralverwaltung.
[Richter Walter Ziegler:] Sie haben also mit ihm auch gut zusammengearbeitet, ja? Und -äh- wohin gingen so seine Verbindungen?
[Otto Fleischer:] Ja, soweit ich darüber informiert bin, hatte Laby besondere persönliche Verbindungen zum CV, das ist der Cartellverband der katholischen Studierenden, in der-
[Richter Walter Ziegler:] Cartellverband der katholischen Studierenden, ja?
[Otto Fleischer:] Und über den CV hatte er Verbindungen mit verschiedenen leitenden Persönlichkeiten in der damaligen Kohlenverwaltung. Die deutsche Kohlenbergbau Leitung war ja noch nicht gegründet, sondern es war zunächst eine Kohlenverwaltung, die unter englischer Leitung stand.
[Richter Walter Ziegler:] Ruhrbehörde, ja?
[Otto Fleischer:] Nein, das war die North German Coal-
[Richter Walter Ziegler:] Ach die North German Coal Corporation?
[Otto Fleischer:] Ja.
[Richter Walter Ziegler:] Mh.
[Otto Fleischer:] Mit der war mit, mit Leuten, die bei dieser North German Coal Corporation tätig waren, war Laby wohl schon in Fühlung. Das heißt nicht wohl, sondern er war in Fühlung. Er hat mir das mitgeteilt.
[Archivton Ende]
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Wir sollten über die politische Großwetterlage sprechen, in der der Prozess stattfand. Die acht Angeklagten waren Top Funktionäre und Ingenieure der DDR Kulturwirtschaft. Sie wurden Ende 1952 verhaftet. Mit dem zu dem Zeitpunkt gern gebrauchten Vorwurf der Sabotage, wenn nicht gar der Spionage. Ende 1952 lebte Stalin noch und die DDR befand sich noch immer in einer sehr harten Phase der politischen Repression, eben um die kommunistische Herrschaft der SED zu verankern. Wirtschaftlich ging es ihr zudem auch nicht sonderlich gut, also konnte die erst knapp drei Jahre alte DDR denn so einfach auf so wichtige Männer verzichten?
Maximilian Schönherr: Eigentlich nicht. Deswegen gab es keine Todesurteile und deswegen wurden Fleischer und der andere Top Angeklagte Kappler von der Stasi in die Forschung aufs Land gesteckt, wo sie selbstverständlich Gefangene waren, aber ziemlich viele Freiheiten, übrigens auch gutes Essen hatten. Die DDR war in einem Dilemma, denn eigentlich wollte sie keine Leute in verantwortungsvollen Positionen haben, die schon zu Zeiten des Nationalsozialismus ihre Karriere begannen. Das vertrug sich nun mal schlecht mit der Idee des antifaschistischen Staats. Andererseits war sie für den Aufbau des Landes auf die Kompetenz auch dieser Menschen angewiesen. In der Gründungsphase der DDR kam deswegen die, ich zitiere, wie es hieß: Erste Kultur Verordnung der Deutschen Wirtschaftskommission vom 31. März 1949, zustande. Sie plädierte für einen gemäßigten Umgang mit solchen etablierten Wissenschaftlern, deren Karrierebeginn in der NS-Zeit lag. Ich habe nicht nur die Akten im Stasi-Unterlagen-Archiv, sondern auch im Stadtarchiv Zwickau gelesen und da schälen sich schnell die eigentlichen Drahtzieher dieses großen Prozesses heraus. Es waren Walter Ulbricht und Erich Mielke.
Dagmar Hovestädt: Mielke war 1952 zwar schon stellvertretender Leiter des Ministeriums für Staatssicherheit, aber eben noch nicht dessen Chef. Daran arbeitete er hinter den Kulissen, bis es ihm fünf Jahre später gelang. Ulbricht war '52, stellvertretender Vorsitzender im Ministerrat und wurde dann acht Jahre später Staatsratsvorsitzende der DDR. Wie kamen die beiden ins Spiel?
Maximilian Schönherr: Im April 1952 fing ein großes Bergwerk in Sachsen Feuer, die Martin Hoop Hütte bei Zwickau, offizieller Name: Volkseigenen Betrieb, VEB, Steinkohlenbergbau Martin Hoop, benannt nach dem von den Nazis ermordeten Kommunisten Martin Hoop. Bei dem Bergwerksbrand erstickten oder verbrannten 48 Kumpel unten im Stollen. Das Unglück traf die DDR Energiewirtschaft im Mark. Es war nicht der erste Brand und die Steinkohle war zentral wichtig für die Energieversorgung. Damit war dieser Brand ein Politikum geworden. Quasi: Die DDR schaffte es nicht, ihre Gruben sicher zu machen. Es gab ein Staatstrauer Akt und in Folge kamen vier Untersuchungskommissionen zustande. In einer waren Experten des Bergbaus versammelt darunter der Experte überhaupt, nämlich Otto Fleischer. Eine andere Untersuchungskommission zum gleichen Unglück richtete das Ministerium für Staatssicherheit ein, also die Stasi. Mielke schrieb eine Art Gutachten, einen langen Brief mit dem Inhalt, die Stasi habe total versagt. Man müsse künftig Betriebe von innen überwachen, damit so etwas nicht noch mal passiert. Von innen überwachen heißt natürlich Spitzel einsetzen. Damit definierte er schon damals deutlich die Durchdringung der ganzen DDR-Gesellschaft durch das MfS. Am wichtigsten war aber die von Ulbricht geleitete Untersuchungskommission des Ministerrats der DDR. Ulbricht untersuchte allerdings nicht lange, er fackelte nicht lange, sondern verfügte. Er verfügte ein Vorgehen in zwei Schritten mit zwei Gerichtsprozessen, die schön öffentlich gemacht werden sollen. In einem ersten Gerichtsverfahren sollten die Arbeiter vor Ort verurteilt werden, allen voran ein junger Mann, ein sogenannter Brandspürer. Er war neu, kannte die Meldungswege nicht. Nachdem er den Brand unter Tage frühmorgens gerochen und erhöhte Temperatur festgestellt hatte, meldete er das nicht ordentlich an die Vorgesetzten weiter, sondern nur an seine Ablöse. Zwölf Jahre Zuchthaus. Es war ein Verfahren gegen mehrere Arbeiter, ausgerichtet vom Obersten Gericht der DDR, das in Zwickau tagte. Nur wenige Wochen nach dem Unglück. Vorsitzende Richterin war die durchaus nicht zimperliche, um nicht zu sagen berüchtigte, Hilde Benjamin. Das zweite Verfahren nach den Vorstellungen von Ulbricht sollte sich von dem Grubenunglück lösen und einen größeren Topf aufmachen, nämlich mit der Bergbau Elite abrechnen. Und es sollte in der Hauptstadt stattfinden, also in Ostberlin. Das ist der Prozess, aus dem wir heute Originaltöne hören.
Dagmar Hovestädt: Im nächsten Ausschnitt wird Fleischer von Richter Ziegler in die Enge gedrängt. Es geht um Aussagen, die der Wissenschaftler in der Untersuchungshaft gemacht und unterschrieben hatte. Die werden ihm jetzt vorgehalten. In Fleischers Memoiren viele, viele Jahre später ist aber nachzulesen, unter welchem psychischen Druck die sogenannten Geständnisse zustande kamen.
[Archivton]
[Walter Ziegler:] Nun denn versuchen Sie doch zunächst mal selbst zu sagen-[Otto Fleischer:] Ich hatte-
[Walter Ziegler:] -was er Ihnen sagte. Er sagte, Sie sollten hier bleiben.
[Otto Fleischer:] Stefan sagte mir, ich sollte in, hier, in der sowjetischen Besatzungszone bleiben. Es müssten ja auch hier Bergingenieure sein, [Geräusche im Hintergrund] die im Sinne der Wirtschaftsauffassung der kapitalistischen Wirtschaftsauffassung–
[Walter Ziegler:] Der Kapitalischen, die im Sinne, es müssten hier auch Ingenieure tätig sein, die im Sinne der kapitalistischen Wirtschaftsauffassung arbeiteten? Ja?
[Otto Fleischer:] Jawohl.
[Walter Ziegler:] Und Sie haben sich an sie in der Voruntersuchung noch klarer ausgedrückt und gesagt, "im sächsischen Steinkohlenbergbau müssen auch Leute sein. Daran ist die Kohlenbergbauleitung, und auch die Amerikaner sind daran interessiert, dass hier - äh - sächsische Bergbauleute sind, die zum Schaden der Wirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone arbeiten und alles tun, um die dort bestehende Ordnung zu stürzen. Deshalb sollte ich im sächsischen Steinkohlenbergbau bleiben, um in diesem Sinne für den Westen zu arbeiten." Ja?
[Otto Fleischer:] Ja, - ähm - sinngemäß-
[Walter Ziegler:] Sie sagten eben, das wäre also, was Sie, wie Sie es in der Untersuchung gesagt hätten, wäre es richtig?
[Otto Fleischer:] Sinngemäß war das so.
[Walter Ziegler:] Sinngemäß ist es so gewesen, ja?
[Otto Fleischer:] Ja, ja.
[Walter Ziegler:] Nun, wir brauchen uns auch nicht-
[Otto Fleischer:] Wortgemäß-
[Walter Ziegler:] an dem Wortlaut zu klammern-
[Otto Fleischer:] Wortgemäß-
[Walter Ziegler:] es kommt auf den Sinn an.
[Otto Fleischer:] Der Sinn war-
[Walter Ziegler:] Der ist ja unverkennbar.
[Otto Fleischer:] Der Sinn war dieser, dass ich eben bleiben sollte, weil ich habe - äh - eben doch bekannt wäre als meiner früheren Tätigkeit aus Oberschlesien und weil es - mh - eine Beruhigung wäre oder überhaupt für Stefan und seine Kollegen. Äh - gut wäre zu wissen, dass auch in der sowjetischen Besatzungszone noch Bergingenieure tätig sind, die diese kapitalistische [Husten im Hintergrund] Wirtschaftsauffassung haben, die also der Auffassung sind, dass -äh- eine Wirtschaftseinheit zwischen der Westzone und der damaligen sowjetischen Besatzungszone wieder eintreten sollte, und zwar im kapitalistischen Sinne.
[Walter Ziegler:] Im kapitalistischen Sinn. Das heißt, eigentlich doch entgegen dem, was Sie erstrebten, und was eigentlich schon '48 ja realisiert war, nämlich die Überführung der Schwerindustrie ins Volkseigentum, das sollte jetzt wieder also im kapitalistischen Sinne vereinigt werden, für - ähm - im Sinne des - äh - Westens sollte es so eine Vereinigung kommen.
[Otto Fleischer:] Nach der Auffassung dieser Herren, ja. Aber ich war persönlich-
[Walter Ziegler:] Und Sie kriegten diesen Auftrag, um in dieser Weise zu wirken, hier im sächsischen Steinkohlenbergbau zu bleiben. Na ja, er nahm Sie ja doch nicht nach drüben, entsprach nicht-
[Otto Fleischer:] Er sagte -
[Walter Ziegler:] - Ihrem Wunsche , drüben eine Beschäftigung aufzunehmen.
[Archivton Ende]
Dagmar Hovestädt: Mielke und vor allem Ulbricht damals noch in der zweiten Reihe waren also die Drahtzieher dieser beiden Schauprozesse. Zwischen dem Brand und dem Prozess liegt hier eine ereignisreiche Zeit: Stalin stirbt, der Arbeiteraufstand im Juni 1953 ist niedergeschlagen, die Gesellschaft ist ziemlich im Aufruhr. Und mit so einem Prozess soll die Stärke des Staates demonstriert werden. Sie wirken wie Pfeiler, diese Prozesse, die in der wackeligen DDR von 1952/53 gerammt werden, um das politische Überleben des Staates unter der Partei zu stärken.
Maximilian Schönherr: Wenn nicht sogar zu sichern. Ulbricht war Stalinist, also war ihm sogenannte Säuberungen wie Otto-Fleischer-Prozess als probates Mittel zu Herrschaftssicherung durchaus vertraut. Und Mielke definierte in dem Zusammenhang den Auftrag des Ministeriums, dass er dann ein paar Jahre später für 32 Jahre anführte, Bespitzelung aller: "Auch Akademiker müssen wir unter der Lupe nehmen, keinem Arbeiter Über- oder Untertage dürfen wir mehr trauen, niemandem ist zu trauen."
Dagmar Hovestädt: Die Angeklagten wurden ein halbes Jahr nach dem Brand Ende 1952, Anfang 1953 festgenommen und dann dauerte es noch mal bis Ende September 1953 bis der Prozess stattfand. Warum?
Maximilian Schönherr: Dafür sind die von dir schon angesprochenen historischen Ereignisse verantwortlich. Stalins Tod und die Wochen danach waren für einen Stalinisten wie Walter Ulbricht eine schwierige Zeit, weil damit ein Richtungswechsel einherging. Das machte die Entscheidungsbasis unsicher.
Dagmar Hovestädt: Und auch der Arbeiteraufstand verschlang ja erstmals alle Aufmerksamkeit. Es brodelte in der DDR-Bevölkerung und die Nachwehen nahmen einiges an Aufmerksamkeit in Anspruch. Schauprozesse aber funktionieren nur, wenn sie wirklich eine Wirkung entfalten können.
Maximilian Schönherr: Also blieben die 8 Angeklagten der sogenannten Gruppe Kappler weiterhin in Stasi-Haft, wurden von Stasi-Mitarbeitern verhört, angebrüllt, litten unter Schlafentzug, mussten Aussagen unterschreiben, die sie ohne Haft nicht hätten unterschreiben wollen. Ende September 1953 kam die Gruppe Kappler dann vor Gericht. Hören wir eine entscheidende Stelle, in der der Oberstaatsanwalt Ernst Melsheimer in der für ihn typischen Art auf den Hauptangeklagten einredete. Melsheimer, möchte ich noch dazu sagen, war gegen die Gewaltenteilung und für eine von der SED geleitete Justiz. Ich kenne ihn aus mehreren anderen Prozessen der 1950er Jahre, wo er immer die Angeklagten als Handlanger des US-Imperialismus und Faschismus hinstellt, die den Arbeiter-Bauern-Staat DDR kaputt machen wollen. In diesem O-Ton geht es um Fleischers Kontakt zu Hermann Josef Werhahn.
Dagmar Hovestädt: Werhahn war für Melsheimer schon deswegen ein ganz übler Zeitgenosse, weil er der Sohn des großen Industriellen Wilhelm Werhahn war und zudem eine Tochter des Bundeskanzlers Adenauer geheiratet hatte.
[Archivton]
[Ernst Melsheimer:] Haben Sie das gewusst, wie sie angestiegen sind?
[Otto Fleischer:] Ich kenne die nicht.
[Ernst Melsheimer:] Wie die Brände angestiegen sind, wie die Unfall -äh- schichten angestiegen sind usw.?
[Otto Fleischer:] Ich kenne diese Statistiken nicht.
[Ernst Melsheimer:] Sie kennen sie nicht. Hat noch nicht die Pflicht, sich darum zu kümmern. Haben überhaupt nie da rein geguckt. Haben nicht gesehen, welcher Weg das ging.
[Walter Ziegler:] oder Interesse gekriegt sich darüber zu informieren?
[Otto Fleischer:] Ich habe mich wenig dafür interessiert.
[Ernst Melsheimer:] Wenig dafür interessiert-
[Otto Fleischer:] Das war wesentlich-
[Ernst Melsheimer:] Nu ja, je schlechter das Votum umso besser war es ja schließlich letzten Endes für Sie.
[Otto Fleischer:] Das war im wesentlichen die Aufgabe der technischen [unverständlich] der Sicherheitsbehörde.
[Ernst Melsheimer:] Jetzt möchte ich noch wissen, was Sie mit Bitschnau, diesem Vertreter von Werhahn, Schwiegersohn Eisenhau - äh - von Adenauer, was Sie mit dem besprochen haben. Was hatte er von Ihnen verlangt?
[Otto Fleischer:] Ja, Bitschnau wollte eben orientiert sein, über die - ähm - Entwicklung und die Organisation des Braunkohlentagebaus-
[Ernst Melsheimer:] Ja.
[Otto Fleischer:] In Mitteldeutschland und in, in, - äh - hier im Niederlausitzer Revier-
[Ernst Melsheimer:] Braunkohle?
[Otto Fleischer:] In der Braunkohle.
[Ernst Melsheimer:] Ja. [Papierrascheln im Hintergrund].
[Otto Fleischer:] Neueinteilung der Revierverwaltung.
[Ernst Melsheimer:] Neueinteilung der Revierverwaltung. Weiter?
[Otto Fleischer:] -und dann über unsere Arbeit und Zeitstudien.
[Ernst Melsheimer:] Und?
[Otto Fleischer:] Die wir hier durchführen. Und wollte ebenfalls-
[Ernst Melsheimer:] Neuerungen? Technisierung? Alles wollte er doch wissen?
[Otto Fleischer:] Ja, er wollte wissen, wie ja, wie, wie das mit den Großgeräten ist, und wie weit wir mit der Verbesserung und Technisierung im Braunkohlentagebau sind. Da habe ich-
[Ernst Melsheimer:] Wozu hatte er das Zeug gebraucht? Wozu hatte er all die Angaben gebraucht?
[Otto Fleischer:] Er wollte sie verwenden in-
[Ernst Melsheimer:] Für wen?
[Otto Fleischer:] In der Kohlenbergbauleitung-
[Ernst Melsheimer:] Aha.
[Otto Fleischer:] - äh - zu Besprechung in der Kohlenbergbauleitung [Husten im Hintergrund] des Braunkohlenbergbaus-
[Ernst Melsheimer:] Fachgruppe?
[Otto Fleischer:] Fachgruppe Braunkohlenbergbau.
[Ernst Melsheimer:] Fachgruppe Braunkohle in der Bergbauleitung in Essen. Die brauchten diese Angaben. Haben Sie gewusst, was Sie taten, als sie ihm die sagten?
[Otto Fleischer:] Ich wusste, dass ich ihm damit Spionagematerial lieferte.
[Ernst Melsheimer:] Das wussten Sie.
[Otto Fleischer:] Ich habe damit im Wesentlichen - äh - an die, an Veröffentlichung gehalten, die hier, die der tagebautechnische Ausschuss [Husten im Hintergrund] bereits gemacht hatte. Denn weitere Unterlagen hatte ich ja über Braunkohlebergbau auch nicht.
[Ernst Melsheimer:] - Mh -
[Archivton Ende]
Dagmar Hovestädt: Hier gibt Otto Fleischer offenbar zu, dass er Industriefunktionären im Westen, wie eben Werhahn, Details über Defizite der DDR-Kohleförderung mitgeteilt hatte.
Maximilian Schönherr: Ja, trotz vielen von Fleischer in U-Haft unterschriebenen Scheingeständnissen scheint das der Wahrheit zu entsprechen. Er lieferte westlichen Geheimdiensten durchaus wertvolle Information. Wenn Fleischer von defekten Maschinen im DDR-Bergbau erzählte, wusste man in Westdeutschland, welche Ersatzteile man der DDR gerade nicht liefern würde.
Dagmar Hovestädt: Warum tat Fleischer das? Um sich zu bereichern?
Maximilian Schönherr: Otto Fleischer sah sich die DDR ein, zwei Jahre lang an, war auch Mitglied der SED und Mitglied des sächsischen Landtags. Ihm gefiel die DDR aber immer weniger. Er merkte wie es in seinem Berufs- und Forschungsbereich, dem Bergbau, an vielen fehlte, während im Westen alles aufzublühen schien. Als Top-Akademiker, der ohne Probleme ins Ruhrgebiet reisen und dort Gespräch mit Industriellen abhalten konnte, fühlte er sich mehr oder weniger sicher. Mehr oder weniger, denn wenige Wochen vor seiner Verhaftung, das kriegt man in der Korrespondenz mit, hat er doch Sorge, diese Sache könnte auffliegen. Er war bei seiner Verhaftung trotzdem überrascht, zwei Tage vor Heiligabend, sagt er seine Frau beim Abschied, dass er jetzt sie lange nicht mehr sehen würde. Otto Fleischer war 1901 geboren und quasi ein Akademiker alter Schule: Christ, Freimaurer, SPD-Mitglied. Er hat denn mit den Zeugen Jehovas sympathisiert, die in der DDR verboten wurden. Er fing als Professor an einige Abläufe im Steinkohlenbergbau zu verzögern. Er sprach sich offen für eine bessere Behandlung der Grubenarbeiter aus, z. B. eine bessere Kantine, was aber zu keiner Verbesserung führte. Der Westen gefiel ihm immer besser, so gut dass er am liebsten mit seiner Familie in den Westen umziehen wollte. Eine schöne Professur im Westdeutschland schwebte ihm vor oder eine hohe Funktion bei der Ruhrkohle. Der Spion und der Ex-Kommilitone Clemens Laby sagte ihm aber bei mehreren Treffen immer wieder, "Für dich gibt's keine gute Stelle im Westen. Wir brauchen dich im Osten." Fleischer dachte, er kann durch die Lieferung von mehr oder weniger geheimen Informationen vor allem Statistiken aus der DDR-Energiewirtschaft trotzdem im Westen punkten, um sich dort vielleicht doch einen hohen Posten zu sichern. In dieser Unsicherheit schlug die Staatssicherheit, unterstützt von Walter Ulbricht im Staatsrat, zu. Der Prozess war eine Farce, eben ein Prozess, der die Stärke der DDR zur Schau stellen wollte.
Dagmar Hovestädt: Zur Farce gehört doch bestimmt auch, dass man Fleischer ganz formkorrekt einen Verteidiger für die 5 Tage Verhandlung mitgab.
Maximilian Schönherr: Ja, aber Fleischers eigener Anwalt wurde abgelehnt und durch einen Pflichtverteidiger namens Hücke oder Hückl, kann ich im O-Ton nicht so ganz verstehen, ersetzt. Hören wir doch mal in das Plädoyer des Verteidigers Zumpe rein. Er war für die Mitangeklagten zuständig, nicht für Fleischer. Ich kenne leider seinen Vornamen nicht. Hast du das Buch "Wer ist wer in der DDR?" zur Hand und kannst du mal nachgucken?
Dagmar Hovestädt: Das Buch gibt's hier natürlich bei uns im Handapparat sozusagen und da stehen ziemlich viele Menschen drin, die in der DDR in Politik und Staat eine Rolle gespielt haben. Und hinten bei Z, gibt's auch einen "Zumpe", aber der ist kein Rechtsanwalt, sondern Leiter der Abteilung Fernmeldewesen des ZK der SED, Heinz Zumpe. Also musst du weiterhin den Zumpe aus diesem Prozess Rechtsanwalt Zumpe nennen.
Maximilian Schönherr: Okay. Zumpes Angeklagte - er nannte sich seine Angeklagten - waren Konrad Kuchheida und Herbert Kribus. Seine zahnlose Argumentation ist für Verteidiger in DDR-Strafprozessen der 1950er und 60er Jahren typisch. Auch sie, die Verteidiger, gehörten nun mal zur Inszenierung.
[Archivton]
[Rechtsanwalt Zumpe:] Sie wissen beide, dass Sie Verrat an der Deutschen Demokratischen Republik durch Ihre Schädlingsarbeit, durch Ihre Hetze geleistet haben. Nicht aber dessen sind Sie auch angeklagt worden, sich der Spionage schuldig gemacht zu haben. Beide haben ein volles Geständnis abgelegt. Beide Angeklagten sind meines Erachtens nach bereit den Schaden wiedergutzumachen. Sie haben ihn auch schon in der Zeit vor ihrer Haftnahme zum Teil gehabt. Der Strafzweck zur Sache kann in der Erziehung oder kann in der Isolierung liegen. [Nasenputzen im Hintergrund] Ich glaube, dass neben dem Strafzweck der Isolierung für meine Angeklagten besonders aber auch der Zweck der Erziehung doch hervorzuheben ist. Meine Angeklagten haben schon vor der Haftzeit längst ohne eine Bewusstseinsänderung ihr Verhalten geändert, haben aber mehr und mehr begonnen, sich auch innerlich durch die Haftzeit, durch die dort, dortige Erziehung, durch den Gang der Hauptverhandlung haben sie sich geändert auch in ihrem Bewusstsein. Nicht so, dass wir würden sagen können, sie sind voll - äh - verwertbare Menschen für den Aufbau. Dazu bedarf es noch vieler Dinge. Aber ich glaube eben, dass aus dem Gesichtspunkt der Erziehung meiner Angeklagten auch besonders das Strafmaß gefunden werden müsste. [Husten im Hintergrund] Die Grundlage zur Mitarbeit meiner Angeklagten zum Aufbau unserer Ordnung, zum Aufbau des Sozialismus, ist meines Erachtens gelegt. Und wir wissen es aus Beispielen der Sowjetunion, dass Menschen, die Schädlingsarbeit leisteten, ja die sogar in Arbeitslagern sich befanden, später [Husten im Hintergrund] sich zu vollwertigen Menschen entwickelten, ja sogar National- oder Stalin-Preisträger geworden sind. Beide Angeklagten haben den Willen, in der Haft zu arbeiten, um gut zu machen, nicht um sich die Zeit vertreiben zu wollen, sondern um gut zu machen. Beide Angeklagten sehen ihre Verfehlung im vollen Umfang ein und haben eben nur den einen Wunsch, das zu reparieren, was sie hier tatsächlich an - äh - [Husten im Hintergrund] Verbrechen angerichtet haben. Ich bitte den Angeklagten die Untersuchungshaft [Husten im Hintergrund] in voller Höhe anzurechnen und in dem Übrigen das Vorgetragene zur Findung des Strafmaßes in Erwägung zu ziehen.
[Archivton Ende]
Dagmar Hovestädt: Lass uns noch erzählen, wie es mit Otto Fleischer nach dem Urteil 15 Jahre Zuchthaus weiterging.
Maximilian Schönherr: Fleischer und Kappler kamen kurze Zeit nach der Inhaftierung in eine Außenstelle des vom MfS in Hohenschönhausen betriebenen Lagers X in der Nähe von Eggesin im äußersten Osten von Mecklenburg-Vorpommern.
Dagmar Hovestädt: Arbeitslager X - ich habe manchmal auch "Zehn" gesagt, aber ich glaube, es heißt wirklich X - ist ja ein Teil des zentralen Untersuchungsgefängnisses Hohenschönhausen. Und es gibt keine Außenstelle in dem Sinne, also eine von den ich jemals gehört hätte. Also habe ich etwas recherchiert und bin tatsächlich fündig geworden, was diese Arbeits- oder Außenstelle in Eggesin oder in der Nähe von Eggesin angeht. Der Historiker Peter Erler hat sich für den Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin mit den Städten der Strafverfolgung in der frühen DDR beschäftigt. Und er beschreibt das Lager als Objekt IV oder Objekt O, also Römisch 4 oder Objekt O, eine streng konspirierte Forschungs- und Entwicklungsstätte, in der entsprechend ausgebildete Häftlinge der Stasi, also Häftlinge mit Ingenieures- oder sonstige wissenschaftliche Ausbildung, unter anderen Versuche zu Entwickelung von Sprengstoffen durchführten. Dieses Sonderobjekt IV wurde ca. 1955/56 in den Norden auf das ehemalige Fabrikgelände der Deutschen Sprengchemie GmbH verlegt. Das war in Gumnitz bei Eggesin im damaligen Bezirk Neubrandenburg ganz im Nordosten. Sprengstofffabrik, die war zu dem Zeitpunkt dann in der Verwaltung des Ministeriums für Nationale Verteidigung, die dann auch die MfS-Häftlinge mitverwaltete. Also eigentlich ist es eine ganz spannende Story, aber sicherlich auch fürchterlich für Otto Fleischer diese Häftlingsarbeit, die er ja in seinem Memoiren so auch beschrieben hat.
Maximilian Schönherr: Darin schreibt er, dass er dort am sogenannten Festkörperraketenantrieb forschte, aber ohne Erfolg. Die technische Grundlage dafür ist die leichte Brennbarkeit von Steinkohle. Die war übrigens auch der Auslöser des Grubenunglücks im April 1952 gewesen, mit dem alles anfing. Also vor genau 70 Jahren. 1960 wurde Walter Ulbricht Chef der DDR und erließ eine Generalamnestie. Fleischer und seine Kollegen kamen also nach 7 Jahren frei. Kurz davor war auch das Außenlager aufgelöst worden, nachdem bei einem Sprengstoffunfall jemand ums Leben kam.
Dagmar Hovestädt: Alle Angeklagten dieses Prozesses wurden übrigens nach der friedlichen Revolution rehabilitiert, also die Urteile wurden kassiert und für ungültig erklärt. Für Otto Fleischer kam das zu spät. Er starb im März 1989 im Alter von 88 Jahren in Neuruppin.
Maximilian Schönherr: Den kompletten Mitschnitt des Prozesses von 30 Stunden können Sie über das SWR-2-Archivradio hören. Dort findet sich auch viel an begleitender Dokumentation. Den Mitschnitt können Sie auch in der ARD-Audiothek hören. Im Original waren das 23 Analog-Tonbänder auf Wickelkernen, sogenannten Bobbies, Aufnahme in Vollspur mit 19 cm pro Sekunde, deswegen die relativ gute Qualität.
Dagmar Hovestädt: Die erste Erschließung dieser im Archiv in unbeschrifteten Kartons vorgefundenen Tonbänder nahm meine Audio-Kolleg*Innen schon 1998 vor. Erschließung heißt, das hatte ich schon oben angedeutet, Bewertung und dann auch Verschriftlichung der Inhalte, damit alles, was man nutzen will, über ein Datenbanksystem gefunden werden kann. Die Digitalisierung der von Essigsäure geschädigten Bänder fand dann 2012 aufgrund deiner, Maximilians Recherchen zu dem Thema, statt. Inzwischen sind alle gefährdeten Azetat-Tonbänder und übrigens auch Azetat-Filme bei uns im Stasi-Unterlagen-Archiv digitalisiert und damit ist die Information gesichert.
Maximilian Schönherr: Sie finden Otto Fleischer, Clemens Laby und das Steinkohlenwerk Martin Hoop auch in der Wikipedia.
Dagmar Hovestädt: Und damit endet die Geschichte des Prozesses um Otto Fleischer und die anderen 7 Angeklagten. Der Podcast endet auch fast, denn wie immer, geht's zum Schluss darum, noch mal ein Beispiel, ein weiteres Beispiel heute, aus dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs zu hören, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach, und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Der Zentrale Operativstab, kurz ZOS, hatte seinen Dienstsitz in Berlin-Lichtenberg auf dem Gelände der Stasi-Zentrale. Seine Aufgaben waren die, Zitat: "Sicherstellung zentraler Maßnahmen einschließlich der erforderlichen Koordinierungsaufgaben in Vorbereitung und Realisierung zentraler Aktion und von Sicherungseinsätzen." Es wurden zudem Übersichten über sicherheitspolitisch relevante Vorkommnisse und Ereignisse geführt und das operative Lagezentrum fiel mit in die Zuständigkeit. Dieses OLZ mit seinen ca. 21 Mitarbeitern war rund um die Uhr besetzt, und mit der Entgegennahme, Aufbereitung und Weiterleitung von Meldung und Informationen befasst. Hinzu kam die Anfertigung von Tagesrapporten. Der heutige Ausschnitt aus einem 249 minütigen Band kommt aus der Endphase, und damit streng genommen, aus der Zeit des Amtes für Nationale Sicherheit in Auflösung. Was deutlich auffällt, der Umgangston mit Anrufern von Außerhalb ist sehr viel freundlicher und zuvorkommender als bis dahin üblich, wobei wir Ohrenzeugen zweier eher interner Gespräche werden.
[Archivton]
[männliche Stimme 1:] Guten Morgen.
[männliche Stimme 2:] Hi, ich grüße [unverständlich]
[männliche Stimme 1:] Ich muss bloß fragen, ob ihr noch da seid.
[männliche Stimme 2:] Wir sind noch da.
[männliche Stimme 1:] Gut.
[männliche Stimme 2:] Ihr auch.
[männliche Stimme 1:] Also kann ich euch ganz wichtiges sagen, die Selbsterschießung macht ihr mit denn oder was? [Kichern]
[männliche Stimme 2:] Ja, selbstverständlich.
[männliche Stimme 1:] [Kichern] In Anführungsstrich bitte.
[männliche Stimme 2:] Was?
[männliche Stimme 1:] In Anführungsstriche, bitte [unverständlich]
[männliche Stimme 2:] Die brauchen wir nicht. Mach mir nicht Angst du.
[männliche Stimme 1:] Ich sage doch bloß.
[männliche Stimme 2:] Ja.
[männliche Stimme 1:] Nee, was wollter denn überhaupt wissen, wenn ihr was wissen wollt?
[männliche Stimme 2:] Na, alles, was ihr wisst. [Lachen]
[männliche Stimme 1:] Alles, was wir wissen?
[männliche Stimme 2:] Na ja.
[männliche Stimme 1:] Was denkst du, was ick alles weeß? Da reichen ganze Tage nicht aus hier.
[männliche Stimme 2:] Das glaube ich dir.
[männliche Stimme 1:] [Lachen]
[männliche Stimme 2:] Das glaube ich dir.
[männliche Stimme 1:] Und das will keiner mehr wissen.
[männliche Stimme 2:] Ja, aber ich kann dir jetzt och keine Richtlinie geben.
[männliche Stimme 1:] Äh-, ich muss-
[männliche Stimme 2:] Aber [unverständlich]
[männliche Stimme 1:] [unverständlich] Wir sind weiter bereit mit euch zusammen zu arbeiten.
[männliche Stimme 2:] Ja, ja.
[männliche Stimme 1:] Wie bitte?
[männliche Stimme 2:] Wir auch.
[männliche Stimme 1:] [Lachen] Ist [unverständlich]
[männliche Stimme 2:] Wir sind für jeden Monat dankbar. [Lachen]
[männliche Stimme 1:] [Lachen] Ist gut.
[männliche Stimme 2:] Ja.
[männliche Stimme 1:] Klar.
[männliche Stimme 2:] [unverständlich] wieder.
[männliche Stimme 1:] Mach's gut!
[männliche Stimme 2:] Tschüss!
[schnelles Tonspulen]
[männliche Stimme 3:] -Herr Diensthabender
[männliche Stimme 4:] Ja, die Amtsvermittlung. Ich hab hier einen Teilnehmer über das berliner Amt 509, der hat eine Beobachtung zu melden. [Murmeln]
[männliche Stimme 3:] So was. Herr Diensthabender. Guten Tag.
[Wolf]: Ja, guten Tag, Wolf, ehemaliger Mitarbeiter. Äh - Genosse, bloß mal-, bloß mal Hinweis. Ich habe vorhin hier auf dem Parkplatz aufm, wo der Feuerwehrbäcker ist, haben dort zweie riesige Kuriertaschen umgepackt und umgeladen. Wenn dit jemand sieht, dann gibt es erst unnötig Aufruhr, ja? Also das muss nicht sein. Ich, ich meine, ihr wisst ob noch jemand gesehen hat, aber das ist natürlich Käse hier am helllichten Tage, würde ich mal sagen, also, riesige Kuriertaschen umpacken, von einem nach dem andern. Hier hinten aufm Parkplatz beim Feuerwehrbäcker hier, weeßte?
[männliche Stimme 3:] Kenn ich nicht. Feuerwehrbäcker?
[Wolf]: Na ja hier hinten, wo über hier wo die, wo die, wo die Karl-, hier, Rathausstraße–
[männliche Stimme 3:] Rathausstraße.
[männliche Stimme 3:] -da auf dem Parkplatz. Dit muss ja nicht sein, wenn das jemand sieht, das ist Käse, ist dit.
[männliche Stimme 3:] - Hm -
[Wolf]: Und hier im Haus bei uns da sind sowieso ein Haufen so 'ne [unverständlich] Leute, die darauf bloß warten. Also irgendwie dit war nicht in Ordnung irgendwie. Ich habs den zwar gesagt, aber nicht dass es nochmal vorkommt.
[männliche Stimme 3:] Und was haben sie gesagt?
[Wolf]: Ach, sind keene Akten, sind keene Akten. Tür zu und dann bin ich mit meiner Tochter hoch und denn, deshalb, habe ich ihn gesehen am Fenster gleich mit dem Auto wieder weg. Also dit war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, würde ich mal sagen. Aber das dit wesentlich- hoffe das dit keen anderer gesehen hat, bloß als Hinweis nochmal, wa?
[männliche Stimme 3:] Vielleicht war da Bier drinne?
[Wolf]: Nee, nee da war kein Bier. Kannste globen. Da kannst du sicher sein. Das - äh - das Augenmaß habe ich.
[männliche Stimme 3:] Ahja.
[Wolf]: Ja? Alles klar. Bloß mal als Hinweis.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."