Erinnerungsort Stasi-Untersuchungshaftanstalt Töpferstrasse Neustrelitz
Webseite des Erinnerungsortes Stasi-Untersuchungshaftanstalt Töpferstrasse in Neustrelitz.
MehrDagmar Hovestädt und Frank Wilhelm, Quelle: BStU
Das Wirken der Stasi im Bezirk Neubrandenburg ist für den Redakteur der dortigen Zeitung "Nordkurier" eine immer noch wichtige lokale Geschichte. Frank Wilhelm nutzt für viele seiner Recherchen zur regionalen Geschichte das Stasi-Unterlagen-Archiv. Anhand der Akten untersuchte er unter anderem die regionalen Stasi-Aktivitäten zum 17. Juni, zum Prager Frühling und — für ein Buch — das Untertauchen von Mitgliedern der Roten Armee Fraktion RAF in Neubrandenburg, das von der Stasi ermöglicht wurde.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Guten Tag oder Abend oder Morgen, wann immer Sie das hören. Ich bin Maximilian Schönherr, vom Beruf unter anderem Journalist und seit langem den Archiven verfallen. Das Gespräch dieser Folge hat meine Co-Hostin aufgezeichnet, Dagmar Hovestädt, Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Ich kannte unseren heutigen Protagonisten nicht, Frank Wilhelm. Du aber schon Dagmar, woher?
Dagmar Hovestädt: Na ja, in der Pressestelle hier im Stasi-Unterlagen-Archiv, da melden schon mal regelmäßiger Journalisten und er ist einer von denjenigen, die regelmäßiger auf uns zu kommen und im Archiv recherchiert. Er hat vor ein paar Jahren ein Buch veröffentlicht, das hat er hier auch vorbeigebracht und sich intensiver mal mit einer Geschichte da beschäftigt. Und dann fand ich es ganz interessant, dass es doch nicht so viele Lokaljournalisten gibt, die sich richtig in die Archivrecherche vertiefen und da bin ich auf Frank Wilhelm gekommen.
Maximilian Schönherr: Das Buch, über das ihr in der zweiten Hälfte ausführlich sprecht, heißt "RAF im Osten - Terroristen unter dem Schutz der Stasi". Da geht es um das, ich sag mal, ambivalente Verhältnis der DDR zum Terror der Rote-Armee-Fraktion, kurz RAF in Westdeutschland und Westberlin. Einige Vertreter der zweiten RAF-Generation konnten in der DDR aber tatsächlich untertauchen. Jedenfalls hat sich das Frank Wilhelm genauer angesehen vor allem über Akten aus eurem Archiv.
Dagmar Hovestädt: Und ich fand das eben auch sehr interessant in dem Gespräch und, glaub ich, auch ganz wichtig, dass er bei allen seinen vielen Recherchen im Archiv nicht allein sich auf die Akten beschränkt hat. Er ist eben kein Historiker, sondern ein Journalist und da ist er immer auch auf der Suche nach Zeitzeugen, die eben die Akten nochmal ergänzen und ihre Sicht der Dinge dabei vortragen und das wird dann alles ganz lebendig.
Maximilian Schönherr: Außerdem ist er nicht nur Journalist, er ist auch Germanist. Er hat, glaube ich, in Germanistik promoviert sogar.
Dagmar Hovestädt: Er hat seine Promotion über ein germanistisches Thema geschrieben, genau.
Maximilian Schönherr: Lass uns zwei Begriffe, die ihr nur am Rande erwähnt, kurz einordnen: Die Staatsbürgerkunde und das Universitätsfach Marximus-Leninismus.
Dagmar Hovestädt: Ja, da sind wir im Gespräch gar nicht so intensiv dran hängen geblieben. Ist ja auch nicht unser Thema und ich dachte, Frank Wilhelm könnte die Begriffe etwas genauer erläutern, aber er hat sich bei seiner Rückerinnerung an die Uni-Zeit mehr an die Profs als an die Themen erinnert. Also Staatsbürgerkunde war ein Schulfach, in dem Schülerinnen und Schüler zu sogenannten "bewussten Staatsbürgern" der DDR erzogen werden sollten. Es ging dabei auch darum, ihnen die Ideologie des Marxismus-Leninismus als Grundlage des Staates zu vermitteln.
Maximilian Schönherr: Und es ist an sich ja nicht ganz dumm, dass man den Menschen in einem Staat, den Schülern erklärt wie dieses System funktioniert und dieses Tool, dieses Werkzeug mit dem dialektischen Materialismus z.B. eine politische Situation/ Struktur zu analysieren, finde ich eigentlich schon wertvoll. Bei uns gab es ein kapitalistisches Gegengewicht eigentlich nicht. Ich kann mich an Sozialkundeunterricht erinnern. Da wurde halt unterrichtet, dass die Wahlen frei sind natürlich und der Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat ist der und jener und wir haben ein föderales System. Die Kultur ist föderal organisiert und andere Dinge sind zentral organisiert. Wie ist es bei dir?
Dagmar Hovestädt: Das erinnert mich auch an die Schulzeit. Ich glaube, die Philosophie oder Ideologie des Marxismus haben wir, glaube ich, mal im Religions- und Philosophieunterricht behandelt, also mehr als eine von vielen Varianten wie man die Welt betrachten kann und woraus sich gesellschaftliche Prozesse ergeben können, aber ich habe sie eben nicht erlebt, als die einzige Form, die ich zu akzeptieren habe und das macht, glaube ich, den großen Unterschied aus. Also zu verstehen wie Gesellschaften funktionieren, welche verschiedenen Ideologien sie vorantreiben können oder auch behindern können, das ist, glaube ich, sicherlich sinnvoll als zu sagen: Du kannst aber nur eine einzige akzeptieren, ansonsten kriegst du Stress, das war das Besondere am Staatsbürgerkundeunterricht der DDR.
Maximilian Schönherr: Außerdem hat die DDR-Führung natürlich indoktrinieren wollen und ihre Bürger ganz anders behandelt, also das war sozusagen eine Quatschveranstaltung gewesen, die nicht lustig war, aber ich fand das eigentlich ganz interessant. Übrigens die Abkürzung habe ich in der Wikipedia gelesen für Staatsbürgerunterricht, weißt du es?
Dagmar Hovestädt: Nee?
Maximilian Schönherr: Stabü.
Dagmar Hovestädt: Stabü? [lacht]
Maximilian Schönherr: Dabei gibt es bei euch in Berlin auch eine StaBi.
Dagmar Hovestädt: Die Staatsbibliothek, die StaBi, genau.
Maximilian Schönherr: Jedenfalls hat Frank Wilhelm das Fach Marxismus-Leninismus an der Uni in seinen ersten Jahren studiert. Marxismus Leninismus als die offizielle politische Ideologie der Sowjetunion seit Mitte der 1920er Jahre und dann nach dem zweiten Weltkrieg auch des gesamten Ostblocks bis 1989. Also eine Ideologie, kombiniert aus dem Denken von Karl Marx und Vladimir Lenin. In eurem Gespräch nennt er das..
Dagmar Hovestädt: "Rotlichtbestrahlung".
Maximilian Schönherr: Also das Einimpfen dieser Ideologie in die Köpfe, weil der Sozialismus ja auf allen Fronten siegen musste.
Dagmar Hovestädt: Das ist für mich auch immer noch mit all dem Abstand so offenkundig absurd, aber es hat für so viele Menschen ja stattgefunden und man hat es eben so auch akzeptiert, akzeptieren müssen oder vor sich selbst gerechtfertigt. Ich finde es jedenfalls immer wieder sehr spannend, von Menschen zu hören, wie das Leben in der DDR für sie war. Frank Wilhelm hat als Journalist dann Jahre und Jahrzehnte später noch die Menschenverachtung des Systems in den Stasi-Akten nachgelesen. Das glaube ich, hat auch für ihn seine DDR-Zeit nochmal neu beleuchtet.
Maximilian Schönherr: Ihr streift auch ein bisschen durch die Region, in der er arbeitet. Neubrandenburg. Gab es denn da auch eine Stasi-Dienststelle?
Dagmar Hovestädt: Neubrandenburg war einer von 15 Bezirken der DDR, also die DDR hat ja die regionale Reform durchgeführt, frühe 50er Jahre und insofern gab es natürlich auch in Neubrandenburg eine Bezirksverwaltung der Stasi dort, genauso wie eine eigene Untersuchungshaftanstalt der Stasi. Allerdings war die für lange Jahrzehnte nicht in der Hauptstadt des Bezirks, sondern in Neustrelitz, das ist eine halbe Stunde südlich von Neubrandenburg. So Ende der 1970er Jahr zog dann die Bezirksverwaltung um und erst 1987 die U-Haft-Anstalt. Im Gespräch verweist Frank Wilhelm häufiger auf Neustrelitz, dort ist heute am Ort der U-Haft ein Gedenkort.
Maximilian Schönherr: Und wegen Corona saßt ihr nicht zusammen, sondern er war dort und du warst in deinem Büro?
Dagmar Hovestädt: Er war zu Hause in Neubrandenburg an seinem Schreibtisch und ich in Berlin an meinem Schreibtisch.
Maximilian Schönherr: Dann würde ich sagen: Wir starten!
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Dagmar Hovestädt: Vielleicht stellen Sie sich am besten einfach mal kurz vor.
Frank Wilhelm: Ja mein Name ist Frank Wilhelm. Ich bin 1963 geboren in Seelow bei Frankfurt Oder, dann sind meine Eltern mit mir ins brandenburgische gezogen - ein kleines Dorf in der Nähe von Werder, dann nach Potsdam, studiert habe ich dann in Güstrow Pädagogik, hab dann promoviert 1990 bis 1993 eben zur literarische Satire in der SBZ und frühen DDR und seit 1993 bin ich beim Nordkurier Neubrandenburg beschäftigt, wo ich mittlerweile auch mit meiner Familie, mit meiner Frau und meinem 16 jährigen Sohn zusammen hier lebe.
Dagmar Hovestädt: Neubrandenburg ist in Mecklenburg Vorpommern aber kurz vor Brandenburg, richtig?
Frank Wilhelm: Nach vorm Land Brandenburg also sozusagen ist es ganz was anderes, ja. Also es gab schon viele Verwechslungen tatsächlich bis dahin natürlich, dass der eine oder andere auch in Brandenburg gelandet ist, der eigentlich nach Neubrandenburg sollte und dann nach Straßen gefragt hat und das gibt sogar so eine legendäre Geschichte, dass eine Berliner Bank eine Filiale in Brandenburg bauen wollte, die haben sie dann aber tatsächlich in Neubrandenburg gebaut und angeblich soll es erst bei der Einweihung aufgefallen sein, dass die Filiale in der falschen Stadt steht.
Dagmar Hovestädt: Zu welcher Zeit war das mit der Bank?
Frank Wilhelm: Das war in den 90er Jahren, muss das irgendwann gewesen sein.
Dagmar Hovestädt: Doch noch relativ neuzeitig, ich hatte jetzt fast gedacht, dass es sehr viel früher war. Und die Stadt Neubrandenburg wie kann man die jemandem beschreiben, der sie gar nicht kennt?
Frank Wilhelm: Die Stadt Neubrandenburg nennt sich ja nicht umsonst als Pseudonym "Vier Tore Stadt". Also die vier Tore der Stadt, die mittelalterlichen Tor aus dem 12./13. Jahrhundert, die sind noch perfekt erhalten, insbesondere die fast komplette Stadtmauer ist auch noch da und die Wiekhäuser, ungefähr 50 Wiekhäuser, die es auch nicht so häufig in Deutschland gibt, also diese ehemaligen Wehrhäuser sind das. Wir haben eine ganz tolle Konzertkirche, wo auch viele Menschen aus Berlin zu Konzerten kommen, wenn die Konzerte auch mal wieder stattfinden. Die Stadt liegt direkt am See. Wir haben 65.000 Einwohner, viel Wald, viel Kultur, also ist es ja auch wirklich eine schöne Stadt zum Leben, muss ich sagen und zum Arbeiten, wenn man Arbeit hat, aber Neubrandenburg hat auch sehr viele Jobs und wir haben sehr viele Einpendler aus den umliegenden Kreisen. Es lebt sich sehr schön hier.
Dagmar Hovestädt: Sie sind Reporter beim Nordkurier, das ist eine Regionalzeitung und, kann man schon sagen, sehr so durchaus ein regelmäßiger und sehr interessierter Nutzer des Stasi-Unterlagen-Archiv. Wie kommt man aus Neubrandenburg als eher Lokal- oder Regionalreporter dazu sich für die Stasi so stark zu interessieren? In ihrer Biographie gab es da Rückgriffe, Seelow, haben Sie gesagt, sind Sie geboren, das war ja Frankfurt Oder, DDR-Zeit 1963. Gab es da Begegnung, Berührung?
Frank Wilhelm: Also ich muss sagen, ich bin ja 1963 geboren, also war ich so in den Endzwanzigern und zu DDR-Zeiten die Stasi in meinem Leben im Prinzip keine Rolle gespielt. Bewusst geworden ist mir das einmal in der EOS, als wir mal, also in der erweiterten Oberschule, heute würde man Gymnasium sagen, als wir mal so Flugblätter unerlaubt gedruckt haben im Pionierhaus, da hatte meine Mutter gearbeitet und da ging es um so eine allgemeine pazifistische Friedensaktion. Wir haben da so ein paar Bilder verkauft und Kuchen-Basar gemacht und wir haben die übrig gebliebenen Flugblätter, da war ein Gedicht von Luis Corvalán auch drauf, die haben wir an einer Straßenbahn Potsdam verteilt und das war blöderweise aber die Straßenbahn, die von der Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam also von Potsdam-Rehbrücke ins Zentrum gefahren sind und da saßen dann offensichtlich ein paar Stasi-Leute drin, die die Flugblätter dann aufgefischt haben dann und auch bekommen haben und die saßen dann am nächsten Tag bei unserem Schulleiter bei unserem Direktor. Da ist aber außer ein "Du, du, du" nichts passiert. Also richtig Ärger hat dann der Drucker im Pionierhaus bekommen, der der die Sachen da vervielfältigt hat. Dann später mal dann schon Ende der Achtziger oder Anfang der 80er Jahre nach der Schule, als ich bei den Grenztruppen war, ich war in einem Nachrichtenbataillonen der Grenztruppen an der Grenze zu West-Berlin und habe auch mit so geheimen Verschlusssachen musste ich die arbeiten, mit chiffrieren und so weiter, da hat man dann auch so ein bisschen gespürt, dass man schon auch so ein bisschen unter Beobachtung stand und das hat sich dann auch tatsächlich gezeigt Anfang der 90er Jahre, als ich meine persönlichen Akten dann auch sozusagen mir bestellt habe, das ist da halt sozusagen dann auch das ein oder andere gab, was über uns berichtet wurde, meine Familie also einer unserer Nachbarn, da war der Mann bei der bei der Polizei, bei der Kriminalpolizei von dem fanden sich dann Berichte, aber das war jetzt harmlos. Also von unserer Familie ist jetzt keiner irgendwie böse geschädigt worden oder so. Also dadurch kam das.Und dann Prinzip dann bin ich eigentlich das erste Mal somit einem riesen Berg an Akten in Kontakt gekommen im Zusammenhang mit meiner Doktorarbeit. Also als ich dann halt die Akten vom deutschen Schriftstellerverband gesehen habe, viele Akten oder Akten eben auch aus dem DDR-Kulturministerium und vielleicht hat sich da schon auch so ein bisschen so dieser Reiz ergeben, aber für DDR-Geschichte war ich eben auch halt wegen meiner Biographie auch schon immer sehr offen und so hat sich das dann, denke ich auch, im journalistischen Alltag ergeben.
Dagmar Hovestädt: Und warum hatten Sie das Gefühl gleich 1993 in die Akten schauen zu wollen, auch in die persönliche Akteneinsicht zu gehen?
Frank Wilhelm: Ja weil es schon so ein bisschen das persönliche Interesse war. Es hat ja damals fast jeder irgendwie auch gemacht. Besonders hatte mich auch interessiert, ich habe halt an einer pädagogischen Hochschule studiert. Ich habe damals Deutsch aber auch Staatsbürgerkunde studiert. Ich war immatrikuliert an einer Sektion Marxismus-Leninismus. Der damalige Sektionschef hat oft mit mir gesprochen. Da war ich bei ihm zu Hause und auf der Couch und hatte ich immer so ein bisschen das Gefühl, als wollte der mich irgendwie aushorschen oder so, aber es hat sich tatsächlich in den Akten nicht ein Fitzelchen über diese Studienzeit auch gefunden, auch bei einem Wiederholungsantrag noch mal. Da war nichts. Es gab halt 20 Blatt vielleicht von der Armee.
Dagmar Hovestädt: Und Sektion Marxismus-Leninismus? Wenn man sich jetzt vorstellt, dass Leute zuhören, die doch schon sehr viel später als in der DDR geboren wurden, wie würde man denen das erklären? Das "ML" kurz abgekürzt war ja durchaus in der Forschungslandschaft, wenn man sie so nennen möchte in der universitären Welt, unverzichtbar. In der DDR gab es überall "ML", ne?
Frank Wilhelm: Genau, es hatten ja alle Studiengänge sozusagen irgendwelche Philosophie Vorlesung Geschichte der SED irgendwas haben die alle mitbekommen und wir hatten natürlich als angehende Staatsbürgerkunde Lehrer, die wir dann werden sollten, haben dann natürlich dann die volle Power abbekommen, also die volle Rotlichtbestrahlung. Wir waren dann deshalb, weil wir das Fach studiert haben, auch ihm in dieser Sektion dann oder das war sozusagen und unser Ansprechpartner diese Sektion und der Sektionschef.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie das damals so erlebt als Rotlichtbestrahlung oder war das etwas, was man halt machen musste, das gehörte irgendwie dazu oder hat es Zweifel gesetzt oder war es ok?
Frank Wilhelm: War sehr unterschiedlich, es war sehr unterschiedlich. Es gab Professoren, das war unser Seminargruppenleiter zum Beispiel, der hat referiert zur politischen Ökologie des Kapitalismus, das war ein total, oder ist, der lebt noch, ist ein total angenehmer Typ. Wir sind uns dann hier wieder später in Neubrandenburg bzw. in Torgelow haben wir uns wiedergetroffen und mit dem konnte man auch diskutieren, da hatte man auch das Gefühl, da ist man gut aufgehoben, er ist ehrlich und so weiter und sofort. Dann gab es aber auch Typen wie den Parteisekretär, kann ich mich noch ganz genau erinnern, von der Hochschule der die Geschichte der KPdSU gelehrt hat, der sich dann tatsächlich in der Vorlesung hingestellt hat und aus diesem Standardwerk vorgelesen hat und einfach sein Inhalt runter referiert hat. Ja, da gab es auch immer mal wieder "Aha-Effekte". Ich kann mich erinnern, für mich war so ein Schlüsselmoment, als ich von Peter Weiss gelesen habe "Die Ästhetik des Widerstands". Ein sehr fundamentales Werk, was damals auch in den 80er Jahren auch tatsächlich in der DDR erschienen ist, obwohl das sehr kritisch umgegangen ist auch mit der Auffassung, dass allein der kommunistische Widerstand Widerstand gegen den Faschismus war und der dann auch sehr gut auch sozusagen Verwerfungen schon innerhalb der KPdSU, auch innerhalb der KPD beschrieben hat, sehr ins Detail gegangen ist und das war für mich eigentlich so, wo ich gemerkt habe: "Moment mal! Geschichte ist ja viel mehr, als das was uns hier vermittelt wird".
Dagmar Hovestädt: Und dann hat sich im Grunde genommen durch das Ende der DDR offensichtlich dann die Berufsperspektive geändert, weil Sie sind im Journalismus gelandet und dort nicht zuletzt durch die Akten, die Sie gelesen haben für ihre Germanistik-Promotion. Haben Sie das Gefühl gehabt in Akten steckt doch was drin, was man herausholen kann? Und wie fing es dann für die regionale Arbeit, wenn man Lokalreporter, Regionalreporter, es gibt ja immer einen Haufen Sachen zu tun, da passt die Stasi eigentlich, würde ich jetzt mal sagen, schon lange her bei mir dass ich mal im Lokaljournalismus gearbeitet habe, aber da passieren so viele tausend große und kleine Dinge, dass man selten Zeit hat in Archive zu steigen und Stasi-Geschichte zu recherchieren. Wie ist denn das gekommen?
Frank Wilhelm: Also es fing tatsächlich an, ich habe natürlich im Vorfeld unseres Gespräches ist noch mal so ein bisschen überlegt, wie fing das an oder was hast du denn überhaupt gemacht, weil jetzt bin ich mittlerweile halt 27 Jahre beim Nordkurier und da ist natürlich einiges an Berichterstattung auch angefallen, aber es fing tatsächlich an, das muss so 1994/ 1995 gewesen sein. In Neubrandenburg hat ja Brigitte Reimann gelebt, die viel zu früh verstorbene, aber sehr bekannte Schriftstellerin Hauptwerk "Franziska Linkerhand" und ich hab es dann irgendwo in ihren Briefen oder so oder irgendwo hat ich es gelesen, wurde das angedeutet, dass sie auch eine Zeit lang als inoffizielle Mitarbeiterin des Ministeriums für Staatssicherheit gearbeitet hat, das war irgendwie anderthalb Jahre oder so was und Brigitte Reimann wurde und wird in Neubrandenburg auch immer noch glorifiziert als die strahlende Schönheit, die viel zu jung gestorben ist, alles ganz tragisch und traurig und so weiter und sofort. Und ein bisschen zu hoch gehoben auf dem Schirm aus meiner Sicht, wenn man sich ihre Literatur anguckt.
Dagmar Hovestädt: Das dürfen Sie als Germanist natürlich gerne sagen.
Frank Wilhelm: Aber sie ist eine faszinierende Persönlichkeit und sie kann super schreiben, aber sie reicht eben vom Werk niemals an eine Christa Wolf oder sowas ran, so wollte ich das sagen, ne. Und dann hat mir ein damaliger Kollege, der Kulturchef, der hat mir dann so 2, 3, 4 Dokumente rüber geschoben aus denen dann tatsächlich, das war, glaube ich, damals die Verpflichtungserklärung von Brigitte Reimann und das waren dann vielleicht noch ein, zwei Berichte, keine Ahnung, und daraus habe ich dann was geschrieben und hab dann relativ viel Kritik auch eingefangen tatsächlich, wie das halt auch so wieder war in den 90er Jahren. Wie kann ich die Brigitte Reimann jetzt da so schlecht machen und auch tatsächlich hat sich Wolfgang Schreyer, ein ehemaliger bekannter DDR-Schriftsteller auch gemeldet und der sie sehr gut kannte. Und ich habe mich damals sehr geärgert, wenn ich jetzt heute noch mal diesen Bericht lese und mir das so vor Augen führe, sage ich mir, ja im gewissen Sinne haben die Leute recht, weil ich habe mir halt ein paar Dokumente in die Hand drücken lassen und habe mir nicht die Mühe gemacht vielleicht auch mal die komplette Akte zum Beispiel auch zu bestellen und mal zu gucken, was ist insgesamt da, das vielleicht auch noch ein bisschen mehr einzuordnen in die Zeit und auch mehr zu sprechen mit Leuten die Brigitte Reimann selbst erlebt haben. Was unheimlich wichtig ist bei dem Umgang mit diesen diesen Akten ab, dass man sie in den Kontext setzen muss, dass man die Akten halt nicht als alleinige Wahrheit sehen darf und daraus allein daraus irgendwelche Tendenzen ableiten sollte.
Dagmar Hovestädt: Und in den Neunzigern ist es ja doch sehr stark, ich sag mal, eindimensional gesehen. Sobald jemand mit dem Begriff IM - Inoffizieller Mitarbeiter - verknüpft war, hat das alles andere überstrahlt von dieser Person und das war sozusagen durchaus eine Brandmarkung und dann daraus ist ja auch durch diese Polarisierung nicht unbedingt so ein differenzierter Umgang entstanden. Egal wie intensiv man dann im Einzelfalle Akten gelesen hätte. Es ist sehr stark fokussiert worden in den 90ern auf dem Begriff IM. Der, die war IM und damit war die Geschichte vorbei oft. Das heißt aus dieser ersten Geschichte und der Kritik vielleicht sogar auch ist dann der Wunsch erwachsen ein bisschen genauer hinzuschauen, mehr zu lesen oder war das erst mal dann eine Weile wieder ruhig?
Frank Wilhelm: Also es war dann erstmal eine Weile ruhig und das hat sich dann eigentlich ergeben. Ich war dann sehr lange an anderen Lokalredaktionen beschäftigt erst in Neubrandenburg dann in Ueckermünde dann wieder zurück nach Neubrandenburg und Lokaljournalismus ist halt ein Tagesgeschäft. Da muss man am Tag seine 2, 3 Beiträge schreiben und da bleibt auch nicht viel Zeit jetzt auch mal ein bisschen grundlegender was anzugehen und bisschen längerfristiger. Und ich bin dann gewechselt in unsere Mantelredaktion. Damals war es eigentlich nur so eine Rumpfredaktion des Nordkurier und hab dann da eigentlich so ein bisschen auch die Freiheiten bekommen ein bisschen ausführlicher was zu machen, Serien auch zu machen. Und wenn ich mich jetzt recht erinnere, 2013 das war dann 60 Jahre 17. Juni 1953. Ich kannte damals die damalige Außenstellenleiterin heute Frau [Herr] Richter, damals Frau Pagels sehr gut und war auch ein sehr gutes sehr gute Zusammenarbeit. Ja, da habe ich mir dann Akten bestellt also richtig über einen Medienantrag, wie es sich so halt gehört und hatte nicht viel erwartet, muss ich sagen, und war dann also überrascht, dass ich tatsächlich jetzt mal so schätzungsweise 20, 30 Aktenordner da auf dem Tisch stapelten. Auch wenn wir sagen, wir betrachten den 17. Juni 1953, dann schauen wir auf Berlin, dann schauen wir auf Leipzig, auf Halle, in Halle war, glaube ich, ziemlich viel, in den großen Städten. Aber was sollte sich hier auf dem platten Land tun. Neubrandenburg hatte damals 30.000 Einwohner. Aber es war tatsächlich insbesondere in der Bauernschaft war da sehr viel Protestpotenzial, was dann halt sich nicht geäußert hat in irgendwelchen Demonstrationen oder sonst was, sondern, was weiß ich, da wurde in der Kneipe mal auf die SED geschimpft und Walter Ulbricht Witze gemacht, da wurde dann, was weiß ich, dann mal nicht richtig gearbeitet. Also so hat sich das dann äußert und da fanden sich dann tatsächlich auch viele menschliche Geschichten, die so erzählt wurden, wo man jetzt auch gesagt hat Holla die Waldfee, wo dann Leute für irgendwelche Losungen, die sie an Kneipenwände geschrieben haben oder für irgendwelche Reden und für irgendwelche Sprüche schon mal so locker sieben, acht, neun Jahre ins Zuchthaus gegangen sind. Das hatte ich also auch so nicht erwartet, dass es dann tatsächlich solch strenge Strafen gab. Was damals eben schwierig war, weil die Zeit schon so weit zurück war, da noch sozusagen Zeitzeugen zu finden, die möglicherweise dann auch in diesen Akten irgendwie eine Rolle spielen. Wenn ich mich recht erinnere, war da nicht viel, aber daraus ist dann eine Serie entstanden, glaube ich, 6, 7 Seiten, thematische Seiten, die dann so in relativ dichten Abstand erschienen sind, das war sozusagen dann die Premiere auch für den Nordkurier für mich.
Dagmar Hovestädt: Also so eine Art kleine regionale Geschichtsstunde. Also so ein großes Ereignis wie den Arbeiter- oder Volksaufstand vom 17. Juni einfach mal in der Region verankern und sagen hier ist übrigens doch einiges passiert. Gab es darauf Reaktionen? Haben Leute gesagt: "Mensch mein Opa, mein Vater...?"
Frank Wilhelm: Gab garantiert Leserbriefe, also es gab Leserbriefe. Ich kann jetzt nicht mehr sozusagen so richtig nachvollziehen wie viele und was, aber die Reaktion, die man dann auch gehört hat, halt dass die Chefredaktion das gut findet und dass man dann von Freunden, von Bekannten, die halt auch Nordkurier-Leser sind, die noch mal sagen Mensch und schön und dass das Thema mal so ausführlich gebracht wurde. Und inwieweit sich das jetzt möglicherweise Lehrer abheften und [lacht] keine Ahnung. Und aber genau das was was sie sagen, wie hole ich so eine großen Themen darunter auf die auf die regionale Ebene und da haben sich dann in den Folgejahren dann halt auch weitere Themen ergeben zum Beispiel Prager Frühling 1968.
Dagmar Hovestädt: Gab es da Reaktionen in Neubrandenburg auf den Einmarsch?
Frank Wilhelm: Prager Frühling da hat es sich auch tatsächlich ergeben. Klar, weil bei der Abstand näher dran ist an unserer heutigen Geschichte. Da hatte ich vorher schon mal eine Geschichte gemacht. Daher wusste ich das. Es heißt ja bei der Niederschlagung des Aufstands immer das keine DDR-Truppen beteiligt waren, aber es gab ja dann doch ein Regiment, was dann bis kurz vor Prag gezogen ist und da hatte sich vorher tatsächlich der Vorsitzende des Latücht Vereins hier in Nord Brandenburg Holm Freier bei mir gemeldet oder ich wusste das von dem.
Dagmar Hovestädt: Was ist das für ein Verein?
Frank Wilhelm: Latücht Verein, Kulturkino, der hatte sich gemeldet hier. Also vorab wusste ich, dass der Funker war in der Einheit, der ist irgendwie im Herbst 1968 eingezogen worden und er wusste, dass diese Einheit im August dann tatsächlich auch nach Prag zogen beziehungsweise nach Tschechien gezogen ist. Da soll man sogar noch an den Autos irgendwelche, ich weiß jetzt nicht ob Einschusslöcher oder irgendwelche Spuren, dieses Einsatzes gesehen haben. Aber die schönste Geschichte eigentlich die sich daraus ergeben hat aus dieser Serie, war eine Geschichte über drei Jugendliche im Alter 14, 15, 16, die damals in Waren Flugblätter geschrieben haben. Die haben die über so einen Stempelkasten, wie es zu DDR-Zeiten gab, haben die die vervielfältigt im Zelt zu Hause und haben die dann angeklebt an Hauswände, an Autos und so weiter und so fort. Und da gibt es eine sehr ausführliche Akte dazu allein wie lange die Stasi auch gebraucht hat denen auf die Spur zu kommen, war sehr spannend und die sind auch dann damals zu relativ hohen Strafen verurteilt worden, auch eingewandert hier nach Neustrelitz in diese Untersuchungshaftanstalt in der Töpferstraße und nach dieser Geschichte hat sich dann tatsächlich der Bruder eines dieser Jungs gemeldet, der dessen Bruder war dann leider schon gestorben, aber der Bruder erzählte so ein bisschen wie die Familie das erlebt hat und dieser Mann aus Waren erzählte mir dann, dass der jüngste von diesen drei Jungs damals noch in Waren lebt und so ein kleines Fuhrunternehmen hat und dann habe ich mir den Namen geben lassen und bin eher spontan hingefahren und hab den da tatsächlich getroffen. Der wollte nicht so richtig erzählen und so, also zumindest nicht für die Öffentlichkeit und auch nicht mit Namen, aber ich haben ihn dann gefragt: "Sagen Sie mal haben sie sich eigentlich rehabilitieren lassen und haben Sie sich vielleicht auch die Entschädigungen geholt, die Ihnen möglicherweise zusteht und so?" Und das war so typisch Mecklenburg: "Nee, ach, nee, ach nicht alles wieder hochholen." Da stellte sich das raus, dass der der seinen Kindern hatte ja noch nicht mal diese Geschichte erzählt, dass er damals wegen dieser Flugblätter eingesessen hatte und ich habe es dann tatsächlich geschafft, dass er sich mit der Landesbeauftragten in Verbindung gesetzt hat und dort eine Rehabilitierung beantragt hat und auch eine Entschädigung beantragt hat. Und sowas ist natürlich dann sozusagen, wie sagt man, ein Highlight.
Dagmar Hovestädt: Ja, genau. Das ist eine sehr besondere Geschichte, dass man jemanden in seiner eigenen Schicksalsbewältigung richtig helfen kann. Der war damals doch bestimmt sehr jung, weil das ist schon öfter mal passiert, dass wenn man so sehr jung in die Fänge der Stasi gerät, dass das so hängen bleibt, dass man tatsächlich etwas Unrechtes getan hat und deswegen sich da bis zum Ende eigentlich für schämt obwohl man im Recht war, ne? Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, was auf den Flugblättern gestanden hat?
Frank Wilhelm: Boah, nee. Na irgendwie, irgendwas mit Freiheit. Und ich weiß noch, die hatten CSSR, CSR oder so, nee, die brauchten zwei S irgendwie für das... und im Stempelkasten war aber nur ein S - irgendwas. Und dann haben sie sich das irgendwie noch so hin gebastelt, oder da stand nur CSSR oder so.
Dagmar Hovestädt: Ich hoffe, dass der Mann, den sie quasi animiert haben, sich dieser Zeit nochmal zu stellen, dass es für den auch quasi eine Befreiung oder eine Befriedung war. Das es ihm gut getan hat, sich doch damit zu beschäftigen, um das rauszulassen als was Verbotenes.
Frank Wilhelm: Muss es, denn er hat sich danach nochmal bei mir tatsächlich alleine gemeldet und hat einen Termin gemacht mit dem Verein, der sich heute um diese U-Haftanstalt in Neustrelitz kümmert, in der Töpferstraße. Und wir haben uns dort nochmal getroffen und er hat dann nach 68-, also nach über 50 Jahren hat er sich dann diese 50-
Dagmar Hovestädt: 68, 2018. Ja, das waren ja 50 Jahre.
Frank Wilhelm: Ja, nach über 50 Jahren sich nochmal da dieser Hafträume dort auch angeguckt. Und es hat sich-, die Welt ist klein, die Welt ist wirklich klein. Nachdem dann dessen Geschichte drinne gestanden hat, hat sich aus Prenzlau jemand gemeldet, der auch im Zusammenhang mit dem Prager-Frühling und mit Protesten gegen den Prager-Frühling einsaß, der auch dort in einer Töpferstraße einsaß. Und es hat sich tatsächlich ergeben, dass die beiden jungen Männer damals zusammen in einer Zelle waren. Und jetzt hatte ich, wollte ich eigentlich die beiden nochmal zusammenbringen, aber da hat sich der Mann aus Waren, der wollte das nicht. Na ja, Hammer.
Dagmar Hovestädt: Ja, das ist dann so die Geschichte der Akten, wirklich Geschichten von Menschen, die ein ganzes Leben lang davon beeinträchtigt und beeinflusst sind.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Dagmar Hovestädt: Dann haben sie und das ist jetzt vielleicht eigentlich das größte Werk, was auch bei mir gelandet ist. Naja, weil es-, weil es ja auch in Buchform erschienen. Es ist nicht ihr einziges Buch, aber doch ein Buch, wo sie sich in eine quasi größere deutsch-deutsche Geschichte, man kann fast schon sagen Weltgeschichte ein bisschen mit rein gehangen haben, die aber trotzdem auch in Neubrandenburg gespielt hat, nämlich: "Die RAF - die Rote Armee Fraktion im Osten". So heißt ihr Buch. "Terroristen unter dem Schutz der Stasi". Da haben sie ja die Geschichte der zweiten Generation der RAF aufgerollt. Wie sind Sie auf dieses Thema gestoßen in Neubrandenburg?
Frank Wilhelm: Ja, das ist-, also das hab ich auch-, das hab ich eigentlich sozusagen den Anstoß auch der Frau Richter zu verdanken, die dann gesagt hat zu mir: Herr Wilhelm, sagen Sie mal, die-, diese RAF Geschichte, die jährt sich zum 25. Mal, wollen Sie nicht mal? Und da sage ich: Na ja, gibt's denn dazu was? Da sagt sie: Das waren ja zwei RAF-Terroristen in Neubrandenburg untergebracht und soweit ich das weiß, hat sie gesagt, gibt's da sehr gut aufbereitetes Material in der BStU.
Dagmar Hovestädt: Vielleicht muss man einfach nochmal sagen für die, die nicht so ganz genau wissen, was mit der RAF Geschichte gemeint ist. 1980 ist die zweite Generation der Rote Armee Fraktion - was soll man sagen - Mitglieder untergetaucht und konnte nicht mehr gefunden werden. Und es waren insgesamt zehn, die mit Hilfe der Stasi wirklich in der DDR untergetaucht wurden. Und sie haben die zwei, die in Neubrandenburg gelandet sind, dann versucht, im Archiv aufzuspüren und deren Geschichte zu rekonstruieren. Wer war in Neubrandenburg?
Frank Wilhelm: Da war Silke Maier-Witt und Henning Beer. Silke Maier-Witt alias Sylvia Baier und Henning Beer alias Dieter Lenz. Tatsächlich ist es dann so, dass ich einen Antrag gestellt habe. Und ich glaube, die erste Akteneinsicht zu dem Thema hatte ich dann auch hier in Neubrandenburg machen können. Da sind die Akten oder Kopien der Akten dann hergekommen und daraus ist dann auch erstmal eine Serie entstanden. Das waren irgendwie so sechs, sieben, acht Folgen. Und ich hatte damals unter anderem mit Tobias Wunschik auch gesprochen, ihrem Mitarbeiter in der BStU, der sich ja auch sehr, sehr, sehr intensiv, viel intensiver als ich mit diesem ganzen RAF-Thema auch beschäftigt hat, dazu auch promoviert hat. Und ich hatte dann auch tatsächlich, weil wir bei Zeitzeuginnen sind, Kontakt mit Silke Maier-Witt. Wir haben dann auch ein kleines Interview geführt, mit Silke Maier-Witt habe ich mich inzwischen auch mehrfach dann auch getroffen. Einmal saßen wir auch in Berlin zusammen auf einem Podium und sie ist ja nun leider, leider eine der wenigen, die auch - der ehemaligen RAF-Terroristen - die auch erzählt aus dieser Zeit, die auch zu ihrer Schuld steht. Und das würde ich mir eigentlich wünschen, dass man das von mehreren auch noch hätte. Ich hatte in der Zwischenzeit auch Kontakt, unter anderem auch mit Eckhard Freiherr von Seckendorff-Gudent, der in Anführungsstrichen Arzt der RAF, der auch zu diesen Aussteigern gehörte, die in Eisenhüttenstadt gelebt hat und mit dem habe ich auch viel telefoniert, aber der ist eben auch nicht bereit, so noch nicht einmal als Hintergrundgespräch, sich mal mit mir zu unterhalten. Ich hatte dann nach langen, langen, langen Recherchen dann auch rausbekommen, jetzt muss ich vorsichtig sein, dass Henning Beer unter einem anderen Namen nach wie vor tatsächlich hier in einer Stadt in der Mecklenburgischen Seenplatte lebt. Also wir haben, wir haben bei der Veröffentlichung - Ich bin jetzt so vorsichtig, weil wir dann nochmal einen Rechtsanwalt rauf haben gucken lassen - Ich habe versucht mit Henning Beer Kontakt aufzunehmen und hab ihm - weiß, wo er wohnt - hab einen Brief rein gesteckt am Briefkasten mit dem Gesprächsangebot. Daraufhin hat sich dann tatsächlich sein ehemaliger Anwalt aus Hamburg gemeldet, der ihn damals im Prozess auch verteidigt hat und gesagt, dass sein Mandant nicht wünscht, Kontakt mit mir aufzunehmen und dass der Mandant auch nicht wünscht, dass sein jetziger Name in der Zeitung auftaucht.
Dagmar Hovestädt: Kann man sagen - das weiß ich jetzt gar nicht so ganz genau - Wenn er dafür rechtskräftig verurteilt war, im Knast gesessen hat, dann will er sozusagen von seinem Recht auf Resozialisierung Gebrauch machen?
Frank Wilhelm: Genau. Genau. Er hat gesessen. Er hat seine Strafe verbüßt und hat jetzt das Recht - Man kann seinen richtigen Namen nach wie vor natürlich nennen, Henning Beer. Man kann seinen Tarnnamen von von der Stasi, von der Stasi verliehenen Tarnnamen nennen und ja - und mit dem Buch. Es hat sich dann, also gerade zu Silke Maier-Witt, haben sich dann aber sehr viele Leute gemeldet, die sie hier in Neubrandenburg gekannt haben. Eine Nachbarin, viele Betriebsan-, also Leute, die mit ihr zusammengearbeitet haben. Zu Henning Beer haben sich auch viele gemeldet. Der hat ja hier gearbeitet. Erst bei Nagima, das ist hier so Nahrungs- und Genuss- Maschinenbaubetrieb in Neubrandenburg gewesen, der für die Nahrungsmittelindustrie gebaut hat, gearbeitet hat. Und da kamen wir. Da kannten ihn viele auch tatsächlich. Ein NDR Kollege war mit ihm zusammen in einer Brigade-
Dagmar Hovestädt: Ein Journalistenkollegen, weil sie NDR gesagt haben. Jemand, der jetzt beim NDR arbeitet.
Frank Wilhelm: Ja genau. Ein Journalistenkollege. Der dann aber leider nicht erzählen wollte. Also der, der wollte-, selbst der wollte nicht erzählen, was er so erlebt hat. Aber er kann sich noch erinnern, die sind ja, die sind ja mit einer falschen Legende in den Osten gekommen. Aber alle ausgerüstet mit der Legende, dass sie aus dem Westen kommen und die Lebensläufe, die die Stasi dann zusammen mit denen gestrickt hat, liefen im Wesentlichen darauf hinaus, dass sie, dass sie mit dem System in der Bundesrepublik nicht mehr zufrieden waren, dass sie sich dagegen gewehrt haben und letztlich keinen anderen Ausweg gesehen haben, als in die DDR überzusiedeln. Das waren sozusagen so überordnend dann die Biografien.
Dagmar Hovestädt: Damit waren sie ja nicht ganz alleine. Es gab ja durchaus über die Jahre und Jahrzehnte Tausende von Westbürger, die in die DDR eingewandert sind.
Frank Wilhelm: Genau. Genau, in dem Sinne ja. Aber tatsächlich erzählt er, der Kollege dann zumindest ein Zitat, was die Kollegen dann in der Brigade immer sich zugerufen haben. Wenn dann also Henning Beer alias Dieter Lenz über den Hof geschlendert ist, der war ja damals Anfang zwanzig, also noch blutjung, ganz schmales Bürschlein. Haben sie dann immer gesagt: Ah, da kommt unser Terrorist. Also ohne das zu wissen. Aber irgendwie ja. Es hat sich dann ich weiß gar nicht mehr, wer mir diesen Hinweis gegeben hat. Es hatte sich dann tatsächlich auch ein Bild in einer ehemaligen Betriebszeitung - das finden Sie auch in dem Buch - gefunden, wo Henning Beer natürlich als Dieter Lenz abgebildet war. Er war in so einer Brigade, die haben irgendwie so Konsumgüter hergestellt, da war ja jeder Betrieb in der DDR verpflichtet. Und die haben so eine Werkzeugbänke hergestellt. Und dann wurde diese vorbildliche Brigade mal vorgestellt von der Betriebsleitung und da war Dieter Lenz tatsächlich auch mit drauf. Und das muss - leider hat sich in den Akten nichts dazu gefunden. Ich kann mir aber vorstellen, dass es da einen Riesenärger gegeben haben muss, weil die natürlich niemals mit Foto erscheinen durften in irgendeinem DDR Presseerzeugnisse und sei es so eine, so eine kitschige Betriebszeitung.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, sie haben sich natürlich mit der Story auf die Spurensuche in Zeitzeugen und zu den Personen gemacht. Aber die Akten dokumentieren ja eigentlich die Tatsache, wie überhaupt der Kontakt zustande kommt, wie kommt eine aktive terroristische Vereinigung in Kontakt mit der Stasi. Warum entscheidet die Stasi, dass sie ihnen Unterschlupf gewährt? Dann verschwinden die für zehn Jahre aus dem Blickfeld. Die Strafverfolgungsbehörden in der Bundesrepublik können nie so richtig herausfinden, wo sie sind. Vermuten die DDR, kommen aber nicht wirklich richtig ran. Und 1990, die Mauer ist gefallen, die DDR geht auf ihr Ende zu, das Archiv beginnt sich zu öffnen und im Sommer 1990 noch werden Strafverfolgungsmaßnahmen eröffnet, weil man in den Unterlagen entdeckt, dass die Stasi dieses Verschwinden der zweiten Generation orchestriert, organisiert, abgesichert hat über 10 Jahre lang. Und was haben Sie denn beim Akten lesen eigentlich entdeckt? Was, wie hat sich für Sie die Stasi und ihre Logik und überhaupt warum sie dieses ganze Ding gemacht, wie sie es organisiert, wie haben Sie das in den Akten nachvollziehen können?
Frank Wilhelm: Na ja, aus Sicht eines Geheimdienstes, wenn ich jetzt aus Sicht eines Geheimdienstes das bewerten würde, müsste ich sagen: Tolle Arbeit, die ihr da geleistet habt. Ja. Na ja, die haben sozusagen ja wirklich zehn Leute zehn Jahre lang bzw. Inge Viett und Henning Beer kam ja erst 1982, also zehn Leute über Jahre hinweg in der DDR versteckt, die ja zwar abgeschottet war durch die Grenze, die ja aber doch eine gewisse Durchlässigkeit hatte, durch Verwandtenbesuch, durch das Fernsehen, die Plakate von den Terroristen hingen überall in den Bahnhöfen, an überall in öffentlichen Gebäuden, an Polizeidienststellen. Also jeder, der aus der DDR in die Bundesrepublik gereist ist und sich nicht nur für Strumpfhosen, Kaffee und Schokolade interessiert hat, hätte quasi darauf stoßen können. Jeder, der Fernsehen guckt, der Tagesschau guckt, der irgendwelche anderen Sendungen geguckt hat, wo diese Leute abgebildet wurden, hätte sich sagen können: Moment mal, den kennst du ja, der arbeitet doch hier neben dir. Und so ist das ja dann tatsächlich Susanne Albrecht ergangen, damals in Köthen, die ja tatsächlich von Arbeitskollegen dann identifiziert wurde, wo eine Frau im Westen zu Besuch war, dann aber auch nochmal sie dann irgendwie abgeglichen hat mit einer Fernsehaufnahmen und sich gesagt hat: Moment mal, das ist doch so Susanne Albrecht und ihr dann einen Zettel in den Briefkasten gesteckt haben: Sie werden dich finden, du kommst damit nicht durch. Was natürlich dann wiederum für für die Stasi und für sie von Vorteil war, weil nachdem dieser Zettel im Briefkasten lag, sie Hals über Kopf Köthen verlassen konnte oder Köthen verlassen hat, die ganze Familie, sozusagen die Zelte-
Dagmar Hovestädt: Aber das hat natürlich die Stasi dann initiiert, die war ja nicht auf sich allein gestellt, sondern die Absicherung - Das ist ja-, das ist ja nicht nur Schritt 1: Kontaktaufnahme. Schritt 2: Okay, wir holen die jetzt rüber. Schritt 3: Wir integrieren die. Sondern das musste ja genau aus den Gründen, die Sie gerade beschrieben haben, die gesamten zehn Jahre lang abgesichert sein. Und falls jemand dann doch etwas entdeckt, weil das sollte nicht passieren, dass die DDR vor der Weltöffentlichkeit als Unterschlupf für Terroristen gilt, musste das entschärft werden. Also ich weiß gar nicht: Susanne Albrecht ist dann nach Moskau gebracht worden, oder?
Frank Wilhelm: Genau. Die haben sie dann sozusagen erstmal zwischengelagert in Wandlitz, in so einem konspirativen Objekt, in so einem kleinen Häuschen. Bei Susanne Albrecht war eben das Problem, dass sie ja verheiratet war inzwischen, dass sie zusammen mit ihrem Mann ein Kind hatte und sozusagen jetzt irgendwie auch eine Familie auch irgendwie verpflanzt werden musste und auch wieder eine neue Identität verschafft werden musste. Und tatsächlich dann dadurch, dass der Mann dann - der war Physiker - ein Angebot bekommen hat bzw. man ihm irgendwie ein Angebot vermittelt hat, kam er dann zum Kernforschungszentrum nach Dubna, bei Moskau. Und da war sie natürlich dann bei den Freunden in Anführungsstrichen auch erstmal dann irgendwie aus der Schusslinie. Aber z.B. Silke Maier-Witt hat durch diese-, durch diese-, dadurch, dass sie erkannt wurde ja, hat sie dreimalig den Arbeitsort oder Lebensort hat sie in der DDR gewechselt. Und wenn sie sagen: Na klar, die Stasi, aber die haben schon auch kräftig mitgewirkt, natürlich, die waren auch alle irgendwie als Inoffizielle Mitarbeiter verpflichtet worden. Es gibt sehr, sehr viele Quittungen zum Beispiel, wo sich zeigt, dass Henning Beer offensichtlich auch Informationen geliefert hat. Weil es gibt sehr viele Quittungen, wo man sieht, dass er da Sonderzahlungen bekommen hat als IM. Und als z.B. Silke Maier-Witt in Erfurt aufgeflogen war, 1986, hat sie selbst mitgeholfen in alter RAF-Manier ihre Wohnung zu cleanen. Also die Frauen, die Frauen bei der RAF hatten ja, also außer Brigitte Mohnhaupt und ein paar andere Anführerinnen waren die Frauen, die ja dann in der DDR waren, das war ja so die zweite, dritte Reihe, das waren - ich sage mal so salopp - die Frauen, die dann die Wohnung angemietet haben, die die Autos angemietet haben, die die Fahrtwege ausspioniert haben und die dann, wenn die RAF Wohnungen sozusagen aufgegeben hat, dann im Prinzip alle Spuren verwischt haben. Also die nannten das halt cleanen. Und Silke Maier-Witt musste dann auch tatsächlich, nachdem sie abgezogen war aus Erfurt, ist sie dann nochmal zurück und hat ihre Wohnung dann gesäubert und alles da irgendwie beseitigt.
Dagmar Hovestädt: Das ist eine verrückte deutsch-deutsche Geschichte eigentlich. Auch das sie dann aus dem terroristischen Alltag in die DDR kommen, in so eine Kleinbürgerlichkeit und dann auch noch zu inoffiziellen Mitarbeitern werden und wiederum dieses gesamte Spitzelinformationslieferungs-System unterstützen. Und sie haben das im Grunde genommen wahrscheinlich zu DDR-Zeiten selber gar nicht so mitbekommen, aber dann aus Sicht der Stasi im Grunde genommen nachvollziehbar gemacht, indem sie diese Akten studiert haben und sich da viel dieser Geschichte auch mit angeeignet haben. Was ist denn - das Akten lesen hat, hat das sozusagen ihr Verständnis über die Stasi, ihre Denkweise, Ihre Arbeitsweise, auch bei so einem sehr außergewöhnlichen Projekt, sag ich jetzt mal, das Untertauchen der RAF-Terroristen zu ermöglichen, aber auch vielleicht in anderen Sinne - Hat das das irgendwie verändert? Haben Sie gemerkt, je mehr Sie lesen, lernen Sie mehr über den Apparat, über die Denkweise oder je mehr hat Sie das irgendwie eher befremdet? Kann man diese Sprache überhaupt durchdringen? Das ist ja voll mit Formulierungen, Formularen und manchmal auch Dingen, die man, wenn man gar nicht Bescheid weiß, was da auf dem Papier steht, gar nicht sich so leicht erschließen lassen.
Frank Wilhelm: Schwierige Frage. Also das, was eben so beeindruckend ist, aus heutiger Sicht, also beeindruckend jetzt mal neutral gesagt, ist diese unheimliche Sammelwut, hunderte Kilometer Akten, die da jetzt zusammengetragen sind. Und so viel wurde vernichtet, trotz allem. Es ist ja heute oft so, wenn man dann mit Leuten spricht, die sagen: Ach komm, die im Westen haben doch das Gleiche gemacht und heute gibt's doch auch die Geheimdienste. Dann entgegne ich in der Regel: Ja, aber dieses System mit diesen vielen inoffiziellen Mitarbeitern, das gibt's heute nicht. Und das im Prinzip viele versucht wurden zu engagieren dafür, so viele mitgemacht haben, dass schon junge Leute angesprochen wurden in der Schule, 12-, 13-, 14jährige. Was mich dann auch immer so bei anderen Geschichten auch so erschrocken hat. Ich hatte auch mal irgendwas gemacht zum Thema Jugendliche in der Stasi, wo sich dann das auch findet, dass die Schuldirektoren da einfach mal so einen Klassenraum zur Verfügung gestellt haben, wo sie wussten, dass sich Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit mit einem Schüler trifft, ohne dass die Eltern davon davon Bescheid wussten. Wo ich sage: Mensch, das kann doch nicht sein. Ein Lehrer, der da eigentlich-, Also so, so'ne Sachen, dass die, die sind dann immer wieder auch, finde ich auch immer wieder schlimm. Ich hab ja auch mittlerweile mit zwei, drei ehemaligen Stasi-Mitarbeitern gesprochen. War auch so eine Geschichte. Neubrandenburg, den kannte ich vorher schon, der war ich ja aus der Kreis Dienststelle. Ein kleines Licht, aber einer, der sich so ein bisschen auch heute noch so ein bisschen hervortut, gerne und über die Sachen erzählt. Und der hatte sich mal irgendwie gemeldet, weil Frau Richter immer gesagt hat: Ja, und es werden-, müssten endlich mal auch die Stasi-Leute auch mal sagen, wie hat es funktioniert, und da sind viel zu wenige, die dann auch zu ihrer Geschichte stehen. Und dann hat der sich gemeldet und dann hat da auch so ein Interview gemacht mit Frau Richter zusammen und ihm. Und dann standen wir noch so ein bisschen im losen Kontakt und irgendwann zu dieser RAF-Geschichte, als ich dem dann erzählt habe, ich mache was dazu, hat er dann gesagt: Ach, Herr Wilhelm, ich war übrigens derjenige, der Henning Beer seinen neuen Job verschafft hat in Neubrandenburg. Also Henning Beer war dann nicht mehr zufrieden mit seinem Job bei Nagima und wollte irgendwas anderes, wo er mehr verdient, vielleicht nicht so schmutzig, keine Ahnung, was die Ursachen waren. Das findet sich nicht so richtig in den Akten. Und das ist dann über die Terrorabwehr, also über diese zentrale Abteilung, die sich da um die um diese RAF-Leute gekümmert hat, angetragen worden, den Kollegen an Anführungsstrichen oder den Genossen in Neubrandenburg. Natürlich ohne zu sagen, dass Henning Beer alias Dieter Lenz ein Terrorist ist, sondern das ist eben sozusagen einer, der steht hier auf unserer Liste und denen sollten wir uns ein bisschen kümmern, weil er aus dem Westen kommt. Sieh mal zu, dass er für einen anderen Job bekommt. Und der Mitarbeiter von der Kreisdienststelle, der war zuständig für die Betriebe in Brandenburg auch und kannte dann halt den Betriebsdirektor von Geothermie, das ist auch eine kleinere Firma in Neubrandenburg, die sich so mit mit der Erwärmung von Wasser in Erdspeichern befasst. Also relativ innovativ, auch damals schon zu DDR-Zeiten. Und der hat dann Henning Beer tatsächlich, der ist dann eben zum Betriebsdirektor gegangen, als Kreisdienststellen-Leutnant, hat dann gesagt: Hier, wir haben einen bei Nagima jemand, der ist nicht zufrieden. Hast du nicht einen Job für den? Und der hatte dann einen Job für den als Dispatcher. Und der hat dann so ein bisschen so seine Geschichte auch so erzählt. Ja, und da merkt man dann auch, das ist eigentlich ein sympathischer Typ, wenn man dem so auf der Straße begegnet. Na ja, aber er hat damals eben hauptamtlich für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet. Aber da sage ich mir: Das ist mal noch besser, wenn der dann heute nach 30 Jahren zu ihm kommt und sagt: Pass mal auf, die und die Geschichte, die gehört vielleicht in deiner noch rein. Und das ist dann halt so ein Mosaikstein. Und gerade bei dieser RAF Geschichte ist es so, Mosaiksteinchen für Mosaiksteinchen ergeben dann irgendwie dann auch mal wieder ein Bild. Und das ist ja - da haben wir-, also, wenn eine RAF Geschichte gut dokumentiert ist, dann ist es halt die der zehn RAF-Aussteiger in der DDR. Denn viele, viele RAF Taten sind nach wie vor nicht aufgeklärt. Man weiß nicht wer die Mörder sind von Rohwedder und was weiß ich alles und so. Bis heute weiß man nicht wer Schleyer umgebracht hat, Hanns Martin Schleyer genau, da musste ich erst überlegen mit dem Namen und das weiß man nicht. Da sind zwar Leute verurteilt worden, aber man kann es nicht-, man kann es nicht genau sagen.
Dagmar Hovestädt: Am Ende waren so viele Mosaiksteinchen, dass es für ein Buch gereicht hat. "Die Terroristen in unserer Nachbarschaft", auch ein Teil auch ein Kapitel der Geschichte von Neubrandenburg, das Frank Wilhelm mit erzählt hat und sogar in ein Buch gepackt hat. Also man kann sehen, es gibt enorm viel, was man aus dem Archiv holen kann und was man auch in der Region erzählen kann und was für die Leute dazu beiträgt, zu verstehen, was die Geschichte des eigenen Ortes ist und was vorher da passiert ist. Ja, ich danke sehr für ein tolles Gespräch. Hat uns durch eine große, kleine Wanderung geführt. Vielen Dank, Frank Wilhelm.
Frank Wilhelm: Ja, ich bedanke mich auch.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war Frank Wilhelm, Germanist und seit 1993 Reporter und Redakteur beim Nordkurier in Neubrandenburg. 2019 war er Journalist des Jahres in Mecklenburg-Vorpommern. Seine vielen Recherchen zur regionalen Geschichte sind in der Zeitung nachzulesen und die große Reportage zum Leben der RAF-Aussteiger in der Region hat er 2019 als Buch veröffentlicht.
Dagmar Hovestädt: Und wie immer zum Schluss - Weißt du eigentlich, dass du das schon 30 Mal gesagt haben?
Maximilian Schönherr: 30 mal?
Dagmar Hovestädt: Hmhm. Kein Ende unseres Podcasts ohne einen Originalton der Stasi aus dem riesigen Tonbestand des Stasi-Unterlagen-Archivs.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um den Audiobestand des MfS. Im Tonbestand gibt es sogenannte Fremdproduktionen. Darunter sind Medienmitschnitte von Radio und Fernsehsendungen zur Auswertung zu verstehen sowie Auftragsproduktionen, die auf Veranlassung des MfS entstanden sind und dessen Arbeit widerspiegeln. Ebenso zu finden sind Produktionen aus dem Bereich Traditionspflege. Ein Beispiel dafür ist eine Hörspielreihe des DDR Rundfunks aus den 70er Jahren. In "Nelken für Alta" geht es um das Leben von Ilse Stöbe, die im Dienst der Sowjetunion als Kundschafterin zur Tarnung in die NSDAP eintrat und 1942 in Berlin Plötzensee hingerichtet wurde. In Wikipedia fand ich zu ihr, Zitat: "2006 ehrte der russische Botschafter in Belgien Ilse Stöbe mit anderen Helden der Roten Kapelle für ihren Widerstandskampf." Ein Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte kam zum Fazit, dass, Zitat: "Die Voraussetzung für eine öffentliche Würdigung Ilse Stöbes ist in Deutschland gegeben seien. Sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus politisch ethischer Sicht sei auch für jene Widerständler, die mit den Kriegsgegnern Deutschlands kooperierten der Vorwurf des Verrats abzulehnen." Am 10. Juli 2014 wurde demgemäß in einer Gedenkstunde ihr Name in die Gedenktafel des Auswärtigen Amtes im Haus am Werderschen Markt eingetragen. Sie ist die erste Frau auf der Gedenktafel.
[Archivton]
[männlicher Sprecher 1:] Nelken für Alta.
[Jingle]
[männlicher Sprecher 2:] Was ist das für ein Name? Alta?
[männlicher Sprecher 3:] Ein Deckname.
[weibliche Sprecherin 1:] Von wem?
[männlicher Sprecher 3:] Von Ilse Stöbe.
[männlicher Sprecher 2:] Wer war Ilse Stöbe?
[männlicher Sprecher 3:] Ilse Stöbe war gerade 20 Jahre alt, als sie 1931 Kundschafterin wurde, für die Sowjetunion.
[weiblicher Sprecher 1:] Was für eine Frau war sie? Lachte sie gern? Las sie? Mochte sie Musik?
[männlicher Sprecher 3:] Ja, Musik und Bücher gehörten zu ihr. Sie war intelligent und sehr mutig.
[männlicher Sprecher 2:] Was arbeitete sie? Wo lebte sie?
[männlicher Sprecher 3:] 1933 arbeitete sie als Journalistin in Warschau. Sie war beliebt. In der deutschen Botschaft ging sie aus und ein. Robert Weisemann, ein deutscher Journalist, liebte sie. Das konnte sie in Schwierigkeiten bringen.
[Ton eines haltenden Zuges]
[Bahn-Ansage:] Achtung, Achtung! Grenzstation! Der D-Zug Berlin-Warschau hat zehn Minuten Aufenthalt. Personalpapiere und Reisepässe bitte zur Kontrolle bereit halten. Achtung, Achtung! Grenzstation! Der D-Zug Berlin-Warschau hat zehn Minuten Aufenthalt...
[männlicher Sprecher 4:] Deutsche Passkontrolle. Bitte entschuldigen Sie, meine Herrschaften. Darf ich um die Pässe bitten?
[männlicher Sprecher 5:] Sie dürfen.
[männlicher Sprecher 4:] Verbindlichen Dank. Bitteschön, Herr von Schelia. Und gute Weiterfahrt.
[männlicher Sprecher 6:] Hier, bitte.
[männlicher Sprecher 4:] Danke. Herr Weisemann.
[männlicher Sprecher 6:] Ist etwas nicht in Ordnung?
[männlicher Sprecher 4:] Aber ich bitte sie, bei einem deutschen Journalisten. Bitteschön, ihr Pass.
[männlicher Sprecher 6:] Danke.
[männlicher Sprecher 4:] Gute Weiterfahrt, meine Herren. Und schöne Tage in Warschau wünsche ich. Auf Wiedersehen und heil Hitler!
[männlicher Sprecher 5:] Servus, mein Lieber.
[männlicher Sprecher 6:] Es ist nicht zu fassen, Herr von Schelia. Da behandelt uns dieser Mann mit einer Artigkeit, die einem Maître de Plaisir in einer Tanzschule für höhere Töchter wohl anstünde. Und andere Uniformträger, die dem gleichen Befehle gehorchen, üben sich in Berlin darin mittelalterliche Folterungen und Hexenverfolgungen wieder einzuführen.
[männlicher Sprecher 5:] Übertreiben Sie nicht etwas, mein lieber Weisemann?
[männlicher Sprecher 6:] Wahrscheinlich haben Sie recht. So brutal können die Männer der Inquisition nicht gewesen sein.
[männlicher Sprecher 5:] Dieser Pessimismus ist ganz neu an Ihnen.
[männlicher Sprecher 6:] Er ist nicht die einzige Neuigkeit. Seitdem der Reichstag in Berlin angezündet wurde, lässt Herr Göring Jagd machen auf all diejenigen, die wissen oder ahnen, dass nicht die Kommunisten die Brandstifter waren.
[männlicher Sprecher 5:] Wer denn, nach ihrer Meinung?
[männlicher Sprecher 6:] Die Nationalsozialisten, die allein haben einen Nutzen davon. Jetzt haben sie einen prächtigen Vorwand, sich all ihrer Gegner zu entledigen.
[männlicher Sprecher 5:] Sie leben doch noch Weisemann.
[männlicher Sprecher 6:] Die Schläge nicht mehr zu spüren, heißt nicht, dass man sie vergisst. Ich ahne jetzt, wie es um das deutsche Wesen bestellt ist, an dem doch die Welt einmal genesen sollte.
[männlicher Sprecher 5:] Sie machen mich neugierig.
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Webseite des Erinnerungsortes Stasi-Untersuchungshaftanstalt Töpferstrasse in Neustrelitz.
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