Europäisches Netzwerk
Das Europäische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden
MehrDr. Roger Engelmann und Dagmar Hovestädt, Quelle: BStU
Im August 1992 richtete der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen einen eigenen Forschungsbereich ein. Damals begann Dr. Roger Engelmann seine Arbeit in der Behörde. Fast 30 Jahre lang erkundete und erforschte der Münchner Historiker die Stasi-Unterlagen und teilte seine Erkenntnisse in Dutzenden von Publikationen und Vorträgen mit. Im Podcast-Gespräch erläutert Engelmann u.a. Streitpunkte zwischen Wissenschaft und Politik und die Einzigartigkeit des Zugangs zum Archiv einer Geheimpolizei.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Willkommen zur Folge 33. Wir, das sind einmal Dagmar Hovestädt, Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und mein Co-Host Maximilian Schönherr, Autor, Journalist und Archiv-Enthusiast.
Maximilian Schönherr: Ich bin total überrascht über das Niveau von der heutigen Folge. Und zwar spricht Roger Engelmann mit dir und Roger Engelmann kenne ich nur aus Büchern. Und ich find ihn total sympathisch und er spricht so tief aus dem Archiv in diesem Podcast, also wirklich großartig. Ich war selber überrascht. Wir machen ja die Podcast im Wechsel. Manchmal sprichst du mit den Experten manchmal ich manchmal gibt es Veranstaltungshinweise. Demnächst kommt ein Podcast, wo nur in Anführungszeichen der Originalton die Hauptrolle spielt, aber wirklich toll Roger Engelmann ist ein großartiger Historiker, der sehr lange schon in eurem Archiv gearbeitet hat.
Dagmar Hovestädt: Genau und deswegen war es mir fast ein Bedürfnis mit ihm einfach mal über sein Leben, seine Biographie als Forscher in unserer Institution zu sprechen. Er ist nämlich kurz vor seinem Ruhestand und hat fast drei Jahrzehnte hier im Stasi-Unterlagen-Archiv mit Stasi-Akten zu tun gehabt, hat sie erforscht, hat darüber publiziert. Und das, dachte ich, ist eine super spannende Geschichte, das eben erst mal so aus der Binnenperspektive, wie erlebt man das, wenn man drei Jahrzehnte an einem Gegenstand weiter forscht.
Maximilian Schönherr: Was uns nicht hindern wird: Die Außenperspektive auch nochmal an Herrn Engelmann heranzutragen im späteren Podcast, weil mich der 17. Juni eben sehr interessiert, Beginn DDR-Justiz Geschichte und so weiter und wie das Ministerium für Staatssicherheit da die Akten gesammelt hat. Wir wollten einige Begriffe klären, die in diesem Gespräch vorkommen: Die Blockparteien.
Dagmar Hovestädt: Ja die SED, die sozialistische Einheitspartei Deutschlands, war ja die Hauptpartei der DDR, aber sie hat sich umgeben mit Parteien, die sich Blockparteien nannten auf der nationalen Liste einfach auch um nominell nicht als einzige Partei dazustehen und die Fiktion einer Demokratie mit verschiedenen Parteien dadurch aufrecht zu erhalten. Im Wahlgang äußerte sich das dadurch, dass die Blockparteien und auch die Massenorganisationen auf dieser nationalen Front waren und man entweder den gesamten Zettel gefaltet hat und in die Wahlurne gelegt hat, aber man konnte nicht einzelne Listen oder einzelne Parteien ankreuzen und da gab es eben zu DDR-Zeiten eine CDU und eine NPD, also eine nationale Partei und auch eine LDPD und eine Bauernpartei. Und diese LDPD, also die liberaldemokratische Partei Deutschlands der DDR, die wird kurz mal erwähnt.
Maximilian Schönherr: Dann kommen paar ehemalige Mitarbeiter in diesem Archiv vor, Thomas Auerbach, Jürgen Fuchs und Hubertus Knabe. Willst du zu einem oder mehreren was sagen?
Dagmar Hovestädt: Weil wir die auch so ein bisschen quasi ansprechen, als würde man die alle kennen: Also Thomas Auerbach, der war seit 1993 hier beschäftigt, ist ein Vertreter auch der Opposition aus den 70er Jahren, ist ausgebürgert worden nach Haft nach der Biermann-Ausbürgerung, kommt auch aus Jena und war da in der jungen Gemeinde aktiv und hat 93 hier angefangen zu arbeiten und war 2005 bis 2008 Leiter unserer Außenstelle Schwerin. Jürgen Fuchs, der sehr bekannte Autor, Dissident, Psychologe, der war seit 1991 zeitweilig hier beschäftigt und ist dann mit viel publizistischer Aufmerksamkeit aus unserem Beirat später ausgetreten 1997 und seine Erfahrung hier in dieser Behörde sogar an einem Roman verarbeitet, der heißt Magdalena und Hubertus Knabe, der Historiker, der dann ab 2000 die Gedenkstätte Hohenschönhausen geleitet hat, der war von 1992 bis 2000 auch hier beschäftigt in der Forschungsabteilung.
Maximilian Schönherr: Karl Wilhelm Fricke kommt vor weil Roger Engelmann mit ihm zusammen ein Buch geschrieben hat, was ein fundamental Werk ist quasi für die 1950er Jahre in der DDR-Geschichte. Karl Wilhelm Fricke war ein ehemaliger Kollege von mir im Deutschlandfunk, der hat den Hintergrund geleitetet, war Redaktionsleiter vom Hintergrund und den hat man in den frühen 50er Jahren tatsächlich aus Westberlin entführt, das wird hier auch angesprochen. Wir hätten Karl Wilhelm Fricke gerne in diesem Podcast, aber er ist dafür nicht mehr ansprechbar.
Dagmar Hovestädt: Das was dazu noch gehört zu der Entführung ist, dass er das auch mit einer langjährigen Haft in diesen fürchterlichen Knast Bautzen bezahlt hat.
Maximilian Schönherr: Du benutzt mal das Wort StUG und da gab es eine Änderung 2007.
Dagmar Hovestädt: Ja das StUG ist das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Also wenn man hier arbeitet ist das quasi die... ist das fürchterliche in der Verwaltung, aber weil man Worte so oft benutzt, werden sie schnell mal abgekürzt, also Stasi-Unterlagen-Gesetz, das StUG für Insider und 2007 wurde das in dem Sinne novelliert als seit dem Zeitpunkt Forscher von universitären Einrichtungen sozusagen Stasi-Unterlagen komplett und angeschwärzt lesen dürfen, weil sie bei der Akteneinsicht verpflichtet werden die personenbezogenen Daten nicht weiter zu nutzen und dann wenn sie Unterlagen verwenden wollen, bekommen sie die ausgehändigten Kopien mit den notwendigen Schwärzungen und das ist quasi so eine Art amtliche Verpflichtungen Stillschweigen zu bewahren über die Daten in den Akten, die die Persönlichkeitsrechte von betroffenen angehen.
Maximilian Schönherr: BF und KW?
Dagmar Hovestädt: Die Abteilung in der Roger Engelmann seinen überwiegenden Teil seiner Arbeit verbracht hat, heißt Abteilung BF, Bildung und Forschung, und die ist im Juli letzten Jahres zusammengelegt worden mit ein paar anderen Bereichen und heißt jetzt Kommunikation und Wissen, also KW.
Maximilian Schönherr: Grundsätzlich MfS, heißt Ministerium für Staatssicherheit, interessant ist die Stelle mit den zwei Quellen, da sagst du als Journalist ist das auch immer gefragt, dass man zwei Quellen vorweist, ich verrate jetzt mal nicht mehr davon. Es ist eine sehr spannende Stelle. Dann gibt es eine Hauptabteilung IX, das ist für euch ähnlich wie StUG, Stasi-Unterlagen-Gesetz, so flüssig und ihr wisst immer genau, was dahinter steckt. Was wäre zum Beispiel die Hauptabteilung VIII?
Dagmar Hovestädt: Die XI ist das Untersuchungsorgan und die VIII ist die Beobachtung und im Feld draußen sein und die XI, über die wir dann reden, das ist das Untersuchungsorgan dann wenn man also verhaftet wird und dann in den Untersuchungshaftanstalten der Stasi sitzt. Also die VIII sitzt tatsächlich auch davor im Vorgang. Man muss erst beobachten, ermitteln, Leute sozusagen in flagranti im Sinne der Stasi ertappen und dann landen sie in der Behandlung der XI nachdem die VIII ermittelt hat.
Maximilian Schönherr: Gut und schließlich habe ich noch eine Frage, nämlich es geht um die Aufarbeitung der Geheimdienstgeschichte. Die Sowjetunion hat diese Aufarbeitung nicht gemacht?
Dagmar Hovestädt: Also der Zugang zu den Unterlagen des KGB oder der Geheimpolizeien, die noch viel früher liegen auch in der Zeit des stalinistischen Terrors in den 30ern oder rund um den zweiten Weltkrieg und danach. Der Zugang ist eigentlich in dem Sinne nie so weit offen gelegt worden wie in vielen anderen osteuropäischen Ländern. Ich glaube, nach 1988 formiert sich eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die heißt Memorial, der gelingt es so in der späten Gorbatschow frühen Jelzin Zeit erste Zugänge in das Archiv des KGB und das heißt ja heute FSB zulegen und da auch durchaus Verbindungen hin zu schaffen und das ändert sich sehr schnell. Spätestens zu dem Zeitpunkt als ein ehemaliger Mitarbeiter des KGB dann auch Verantwortung in der Regierung hat nämlich mit Wladimir Putin und die Zugänge zur russischen Archiven, muss man jetzt ja dann sagen, unterliegen offensichtlich sehr hohen Schwankungen. Es gibt Phasen in denen das auch für Historiker sonst wie ganz einfach ist und dann wieder sehr viel schwieriger wird, aber der Zugang zu der geheimpolizeilichen Überlieferung des KGB, der war so gut wie noch nie wirklich weit offen, bestenfalls über die Frühzeiten, Stalin Ära, geht das dann schon, das wäre auch für uns natürlich interessant, weil wir sehr stark davon ausgehen, dass ein Teil der Überlieferung des MfS, der Stasi, durchaus in Moskau zu finden ist und immer noch in den Archiven des KGB verwahrt wird und vielleicht auch bestimmte Lücken im Archiv schließen könnte. Es ist nicht so sehr davon auszugehen, dass in absehbarer Zeit da ein Zugang möglich ist.
Maximilian Schönherr: Aber wenn ich zum Beispiel in Bulgarien lebe und dort Auskunft haben möchte über die Ostblock-Zeit?
Dagmar Hovestädt: Also alle osteuropäischen Länder, die quasi früher die Satelliten Staaten des sowjetischen Imperiums waren, wenn man das so nennen möchte, haben ab 1998 bis 2000 begonnen ihre geheimpolizeilichen Überlieferungen zu öffnen, da haben sie sich wirklich das deutsche Beispiel zum Vorbild genommen. In Polen ging es los und dann verteilt sich das so bis 2008 Rumänien, Ungarn, die tschechische Republik, die slowakische Republik, Bulgarien. Da sind tatsächlich alle Archive geöffnet worden, wobei natürlich die Nachrichtendienste dort auch weiter gearbeitet haben, die Innenministerien auch weiter gearbeitet haben und der Bestand natürlich längst nicht so groß ist, weil auch Teile davon in die aktive Arbeit übernommen worden ist und der Streit darüber was man wie dann öffnet jeweils auch durch die Parlamente gesetzlich geregelt wurde, aber in allen diesen Ländern gibt es sozusagen offene Archive und wir sind mit denen seit 2008 /2009 in einem Netzwerk verbunden. Das Netzwerk der osteuropäischen Geheimpolizei-Archive in dem wir jetzt einmal im Jahr austauschen.
Maximilian Schönherr: Gibt es eine Webseite dazu?
Dagmar Hovestädt: Also es gibt Informationen dazu auf unserer Homepage internationale Zusammenarbeit, da kriegt man eine gute Übersicht über alle Archive, die im Netzwerk miteinander verknüpft sind und zu jedem Netzwerk haben wir da ein Link zu deren Homepages gesetzt, dass man also auch mal die Seite der Tschechen, Slowaken, Bulgarien, Ungarn oder der Polen sich angucken kann, das IPN, das Institut des Nationalen Gedenkens heißt das nämlich dort.
Maximilian Schönherr: So Dagmar jetzt haben wir gut alles vorgebrütet und jetzt starten wir mit unserem Gespräch, dein Gespräch mit Roger Engelmann.
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Dagmar Hovestädt: Roger Engelmann, ich freue mich, dass wir Gelegenheit haben einfach ein bisschen, wie soll man sagen, Institution-Geschichte zu wälzen aus Sicht eines Forschers und ich würde sagen, wir fangen einfach damit an, dass Sie sich vielleicht ganz kurz mal vorstellen.
Roger Engelmann: Ich bin Historiker, hab in München studiert und dann dort auch promoviert, war aber für meine Promotion am deutschen historischen Institut in Rom, habe aber über ein italienisches Thema gearbeitet in der Zeit, also der frühe italienische Faschismus und mich hat es dann sicherlich auch durch die historischen Entwicklungen bedingt, nachdem ich zwei Jahre am Institut für Zeitgeschichte in München gearbeitet hab, in die Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten, damals noch Joachim Gauck, verschlagen, im August 1992 war das.
Dagmar Hovestädt: Das war der Monat in dem die Forschungsabteilung gegründet wurde.
Roger Engelmann: Ja indem sie sozusagen aus dem Aufbaustab in eine normale Abteilung überführt wurde. Genau und dann habe ich praktisch fast 30 Jahre hier in dieser Institution verbracht. Ich glaube, ich bin einer der wenigen, der aus der Anfangszeit noch hier ist.
Dagmar Hovestädt: Was war das, was Sie letztendlich an diese Institution gebracht hat zum Bundesbeauftragten? Was waren auch die Erwartungshaltung? Warum war das, Sie haben eben gesagt historischer Kontext, was macht es interessant aus München nach Berlin zu kommen ausgerechnet an dieser Einrichtung?
Roger Engelmann: Na ja wir hatten ein Zeitzeugenprojekt in München gerade bearbeitet. Da sollte der Quellenwert von Zeitzeugeninterviews für die zeithistorische Forschung mal systematisch untersucht werden, das war also mein Projekt in München gewesen und da hatte man dann, weil das im Sommer 1990 initiiert worden war, hat man dann sich fokussiert auf das Thema innerdeutsche Beziehungen, weil wir mit dem Umstand konfrontiert waren, das auf einmal, jedenfalls auf der DDR-Seite, Akten zugänglich waren, die normalerweise nach so kurzer Zeit noch nicht zugänglich sind, das war also die Idee, dass man dann sozusagen die Validität dieser Zeitzeugeninterviews, das waren ja Funktionsträgerbefragungen, das es war jetzt nicht Oral History im landläufigen Sinn, dass man die Validität dieser Befragungen anhand der Akten dann gegenchecken konnte.
Dagmar Hovestädt: Und waren es damals schon die Stasi-Akten oder waren es auch als SED Partei Kaderakten?
Roger Engelmann: Das waren damals noch gar nicht Stasi-Akten, weil die waren ja noch nicht zugänglich, die wurden ja erst im Januar 92 zugänglich, sondern es waren ausschließlich SED bzw. wir haben da auch Blockpartei Akten zum Beispiel die LDPD, hat eine große Rolle in diesen informellen innerdeutschen Kontakten gespielt, vor allem in den 60er Jahren und auch in 15 Jahren übrigens schon, also das waren hauptsächlich SED und Blockpartei Akten, die wir verwendet haben.
Dagmar Hovestädt: Und natürlich zugänglich, weil das Land zudem sie gehörten dann mit dem 3. Oktober 1990 verschwunden waren.
Roger Engelmann: Genau, übrigens auch staatliche Akten natürlich, also der Regierungsakten.
Dagmar Hovestädt: Also deswegen eine Sensibilisierung schon mal für DDR für Akten in dem Bereich und dann kommt plötzlich das Stasi-Unterlagen-Gesetz und mit dem 2. Januar 1992 tritt es in Kraft.
Roger Engelmann: Es hing natürlich damit zusammen, dass mein Vorgesetzter oder einer meiner Vorgesetzten, ich hatte ja drei, in München Klaus Dietmar Henke dann, der da in der Zeit stellvertretender Direktor des Instituts für Zeitgeschichte war, dann als Abteilungsleiter nach Berlin gegangen ist und der mich gefragt hat, ob ich mitkommen möchte und das erschien mir eine sehr reizvolle Aufgabe zu sein, ein bisschen mulmig war mir schon, ehrlich gesagt, war auch, mal kurz gesagt, eine wilde Zeit vor allen Dingen so das erste halbe Jahr.
Dagmar Hovestädt: Was war wild? Und warum war es mulmig? Und was war reizvoll?
Roger Engelmann: Na ja es war eine Gemengen Lage verschiedener Dinge. Wir waren ja als Historiker mit einem doch professionellen Background waren wir so ein bisschen Sonderlinge in mehrerer Hinsicht. Also Sonderlinge in so einer Großbürokratie, wo ja Forscher auch nichts zu suchen haben normalerweise, und auch in dem politischen Kontext, weil die Aufarbeitung war ja sehr stark durch politische Akteure bestimmt und die Wissenschaft ja immer sich bemühen muss ein bisschen unparteiisch an die Sache heranzugehen und da ergaben sich gleich die ersten Konfliktlinien der ersten Jahre. Also einerseits sind wir ständig bei den gestandenen Beamten auf Unverständnis gestoßen mit unseren Anliegen auch etwa mit der Vorstellung, dass auch in einer Behörde es eine Art innere Wissenschaftsfreiheit geben muss, weil sonst Wissenschaft gar nicht möglich ist. Also das ist ja gerade sozusagen die Definition von Wissenschaft, dass sie frei zu sein hat. Die kann natürlich nicht uferlos frei sein, wenn man den Behörden Kontext forscht, aber sie muss zumindest was die Methodik und die Ergebnisoffenheit angeht, muss sie frei sein, sonst ist es keine Wissenschaft und das hat der eine oder andere Bürokrat, sage ich jetzt mal, nicht so schnell verstehen können. Auf der anderen Seite gab es und das waren durchaus gerade auch in unserer Abteilung einige Personen, die mit einem sehr starken politischen Impetus an die Aufarbeitung herangegangen sind aufgrund ihrer Biographie, die kam aus der DDR Opposition jetzt im weitesten Sinn.
Dagmar Hovestädt: Hat vielleicht auch den Zugang zu den Akten mit erkämpft.
Roger Engelmann: Waren teilweise auch direkt auch persönlich beteiligt bei den Besetzungen der Bezirksverwaltung.
Dagmar Hovestädt: Oder hatten wie im Falle von Jürgen Fuchs eigene Erfahrung mit der Stasi, massive Erfahrungen.
Roger Engelmann: Ja, genau. Also es gab alles. Also Thomas Auerbach war in Gera bei der Besetzung der Bezirksverwaltung auch dabei. Also es gab wirklich Leute, die sozusagen auch historische Akteure gewesen waren und-
Dagmar Hovestädt: -trafen jetzt auch Historiker aus München vom Institut für Zeitgeschichte, die sehr professionell und abgeklärt dem Gegenstand gegenüber standen.
Roger Engelmann: Klaus Dietmar Henke hat damals gesagt in Abwandlung eines Zitats, ich weiß gar nicht mehr von wem, ich glaube von Martin Broszat war das: "Das ist Zeitgeschichte. Es ist hier keine Geschichte, die nur qualmt, die brennt sozusagen noch". Und das war natürlich in der Anfangszeit war das durchaus ein Konfliktfeld. Man musste sozusagen diesen Grundsatz, dass Wissenschaft grundsätzlich ergebnisoffen zu sein hat, den musste man sozusagen auch verteidigen in der Phase, nicht nur intern sondern durchaus auch extern. Es gab auch bei den externen Wortführern gab es da Tendenzen, die dem ja kritisch gegenüberstand.
Dagmar Hovestädt: Also es gab durchaus auch externe Erwartungshaltung, das ist ja ungewöhnlich. Man erwartet von Historikern, dass sie Geschichte aufklären, verschiedene Ansätze finden, Perspektiven aufzeigen zur Interpretation. Man erwartet nicht, dass sie ein bestimmtes Ergebnis liefern in Hinblick auf den Gegenstand.
Roger Engelmann: Na ja gleich bei meinem ersten Auftrag, den ich bekam, spielte das eine Rolle. In der tagespolitischen Auseinandersetzung war ein Streit darüber entbrannt, wie zuverlässig die Stasi-Unterlagen uns Auskunft darüber geben, was war sozusagen, sage ich jetzt mal ganz allgemein. Also der Wahrheitsgehalt der Akten wurde diskutiert und auch von interessierter Seite in Frage gestellt, aber nicht nur. Es gab durchaus auch im Bereich der Rechtsprechung sehr kritische Urteile.
Dagmar Hovestädt: Und die interessierte Seite waren Menschen, die in den Akten dokumentiert waren als Mitarbeiter?
Roger Engelmann: Also beziehungsweise die politischen Kräfte die in diesem Zusammenhang waren, damals die PDS und die ehemaligen MfS-Mitarbeiter haben dann auch teilweise ihre Elaborate selbst auf einmal infrage gestellt, weil sie natürlich ihre Quellen schützen wollten.
Dagmar Hovestädt: Oder auch Strafverfolgung abwehren wollten. Das war ja alles noch 90er Jahre.
Roger Engelmann: Das ist richtig. Da sind sie relativ glimpflich davon gekommen, aber das war aus der Sicht der frühen 90er Jahren noch nicht so klar damals. Na ja und die Enquete-Kommission des Bundestages, die sich ja aus dem parlamentarischen Raum heraus mit DDR oder SED-Diktatur Aufarbeitung befasst hat, hat eben auch dann ein Gutachten über den Quellenwert der Stasi-Unterlagen in Auftrag gegeben und das war dann meine Aufgabe, das zu schreiben, weil ich ja eben aus so einem quellenkundlichen Projekt in München kam.
Dagmar Hovestädt: Und die Enquete-Kommission war ja auch 92 erst mit der ersten Enquete-Kommission gestartet. Also 92 haben die ihre Arbeit aufgenommen.
Roger Engelmann: Der Auftrag lag schon auf dem Tisch als ich im August da anfing.
Dagmar Hovestädt: Wie nähert man sich denn dann dem Gegenstand, wenn man sich noch nie mit Stasi-Akten beschäftigt hat in dem Sinne? Wie kann man dann ein Gutachten erstellen, das den Quellengehalt, den Wahrheitsgehalt oder die Validität der Quelle beurteilt?
Roger Engelmann: Ich kannte ja gar nicht so wahnsinnig viele Akten. Ich hab dann natürlich schnell mal mir einen Überblick exemplarisch verschafft, aber da steht natürlich vieles drin, was man über zeithistorische Quellen grundsätzlich immer sagen kann und das kann ich für mich in Anspruch nehmen: Es ist es die erste kleine Quellenkunde zu den spezifischen MfS-Akten. Also einerseits habe ich diese Problematik des Quellenwertes von geheimpolizeilichen Unterlagen, gibt es ja auch aus anderen Bereichen, also zum Beispiel aus dem Bereich Gestapo, aus dem Bereich Reichsicherheitshauptamt und das sind ja Dinge die zum Beispiel in der NS-Forschung schon immer genutzt wurden, also die ganze Holocaust-Forschung oder damals fast ausschließlich die gesamte Holocaust-Forschung und auch große Teile der NS-Forschung basierten auf der Auswertung von diesen Täter-Akten, wenn man so will, dass dann da andere Elemente reingekommen sind, das war eigentlich dann eher eine Entwicklung der 90er Jahre erst. Bis dahin hat man, also gerade auch am Institut für Zeitgeschichte, was ja das Zentrum der NS-Forschung war, hat man natürlich ganz hart an den Akten der in Anführungszeichen Täter-Institutionen entlang historiografisch geforscht.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also, das war so ein bisschen eine Matrix, Blaupause auf der man sich dem komplex Stasi-Unterlagen nähern konnte. Gab es denn eine relativ schnelle Erkenntnis zum Beweiswert, zum Wahrheitsgehalt dieser Akten?
Roger Engelmann: Na ja, es gab halt zwei Dinge, die auffällig waren, die ich dann in dieses Gutachten natürlich rein geschrieben habe. Erstens, weisen die Stasi-Akten wie übrigens Akten auch anderer Provenienz im DDR Kontext in extreme Ideologisierung auf immer wieder an den Stellen, wo halt diejenigen die die Akten verfasst haben, kundtun ihre linientreue irgendwie demonstrieren mussten schriftlich und das ist natürlich eine Sache, die wenn man so will, die Wirklichkeitswahrnehmung über die Akten natürlich ein bisschen trübt oder verzerrt auch und dann gibt es halt das Phänomen, was für alle Berichtsformen gilt, dass Berichte immer von bestimmten Personen, die ein bestimmtes Interesse haben für einen bestimmten Zweck geschrieben, sind, das muss man sich klar machen als Historiker oder auch als Jurist oder wie auch immer, als jemand der solche Akten liest, dass der Berichterstatter auch Interessen hat auch in einem bestimmten Kontext Bericht erstattet und dazu neigt in der Berichterstattung gut dazustehen. Wenn man solche Tätigkeitsberichte schreibt, dann will man gut dastehen. Das ist so eine zweite charakteristische Problematik, sage ich mal, die man bei der Auswertung der Akten in meinem Blick haben muss. Deswegen darf man natürlich das nicht eins zu eins nehmen, was in den Akten steht. Man muss immer gucken: Kann derjenige der die Akten verfasst hat hier, erstens hatte er überhaupt einen Überblick über das Geschehen, zweitens hat er irgendein Interesse irgendetwas einseitig oder unvollständig darzustellen oder vielleicht sogar falsch darzustellen, drittens ist er vielleicht durch seine eigene ideologische oder auch bürokratische Prägung gar nicht in der Lage gewesen bestimmte Dinge zu sehen oder festzuhalten.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, das geht jetzt um das, was auf der Seite steht und wie nah ist das an dem was wirklich passiert ist? Und die andere Frage ist aber: Kommt irgendwas aufs Papier, was mit der Realität gar nichts zu tun hat und dann sind es ja die Arbeitsinstrumente einer funktionierenden Geheimpolizei. Also man schreibt nicht reine Fantasiegebilde auf das Papier nur um seinem Chef einen Gefallen zu tun.
Roger Engelmann: Na ja, das war eine Sache, die ich natürlich, obwohl ich nicht sehr tief einsteigen konnte ins Aktenstudium, habe ich natürlich gesehen, dass es doch sehr enge Kontrollsysteme im MfS gab. Das MfS hat über die Jahrzehnte, sage ich mal, selber gesehen, dass es gewisse Gefahren gibt bei den eigenen Arbeiten und die Konspiration ist natürlich auch eine Gefahr für die Glaubwürdigkeit der Akten, die aus so einem konspirativen System entsteht und um da sozusagen gegenzusteuern hat das MfS ein sehr dichtes Netz von Kontrollmechanismen gehabt, wo einfach der Wahrheitsgehalt, der ja wirklich eine große Rolle spielt für das MfS, der Apparat hatte ja kein Interesse daran unzutreffende Informationen zu verarbeiten und weiterzugeben innerhalb des Apparates sondern das Gegenteil. Deswegen gibt es ja im MfS diesen Begriff der überprüften Information. Also überprüfte Informationen bedeutete: Eine Information, wo ich zwei unabhängige Quellen habe. Also eine Quelle allein reichte dem MfS normalerweise nicht um eine Tatsache festzustellen. Es sollten zwei völlig unabhängige Quellen, die sozusagen das gleiche Ergebnis hervorbrachten.
Dagmar Hovestädt: Das ist sehr journalistisch gedacht auch. Eine Quelle reicht nicht.
Roger Engelmann: Genau, das ist eigentlich, wenn man so will, in allen Bereichen, wo man der Wirklichkeit auf den Grund kommen will, benutzt man diesen Grundsatz auch in der auch in der Geschichtswissenschaft spielt das natürlich eine Rolle, dass man wenn möglich verschiedene Quellenarten, die dann natürlich nicht zusammenhängen dürfen, verwendet um einen Sachverhalt zu beleuchten.
Dagmar Hovestädt: Das ist relativ gleich mit dem Gutachten, dass dann zufälligerweise gleich bei Ihnen gelandet ist. Geht es wirklich um den Wert der Akten als historische Quelle um ihre Belastbarkeit, um ihren Wahrheitsgehalt, um ihre Einordnung? Und das hat sie ein bisschen auch weiter begleitet durch die ganzen 90er Jahre kommen ja mehrere Publikationen auch dazu, die dann so ein bisschen Grundlage schaffen für andere Historiker, die sich auch diesem Archiv nähern und den Akten.
Roger Engelmann: Der Wert als historische Quelle war sicherlich natürlich ein Gesichtspunkt, aber noch wichtiger war am Anfang, das war für mich als Historiker auch neu, der Wert für die aktuellen Aufarbeitungstätigkeiten, die es gab, also im Bereich der Strafverfolgung, im Bereich der Rehabilitierung, im Bereich der Beauskunftung, was IM-Tätigkeit angeht. Da spielt es sogar die größte Rolle. Ich habe dann auch ein paar Mal vor Gericht gutachten müssen und da ging es dann in der Regel um die Frage: Ist derjenige tatsächlich IM gewesen oder nicht? Wie kann man das aus den Unterlagen herauslesen? Und welche Zweifel sind da möglich?
Dagmar Hovestädt: Und kann man das aus den Unterlagen herauslesen? Vielleicht zur Erklärung das Stasi-Unterlagen-Gesetz benutzt zwar den Begriff inoffizielle Mitarbeit, definiert ihn aber als eine dokumentierte Bereiterklärung zur Lieferung von Informationen. Wir sagen ja auch immer: Wir beurteilen nicht die Personen oder die Menschen, sondern wir beurteilen das Dokument und sehen ob es herausgabefähig ist nach StUG und dann ist der gesellschaftliche Diskurs darüber, was dort geschrieben ist, was heißt das eigentlich, wie gehen wir damit um, was war damals los, was ist heute los, was machen wir damit? Das sind ja die unterschiedlichen Geschichten. Die Publikation gerade in den 90er Jahren war immer sehr stark damit beschäftigt die Person zu outen und zu sagen der war IM.
Roger Engelmann: Na ja, das Stasi-Unterlagen-Gesetz musste natürlich eine scharfe Legaldefinition treffen des IM und ich glaube im Gesetzgebungsverfahren ist da auch länger drüber diskutiert worden und man hat sich dann darauf geeinigt diese Bereitschaftserklärung sozusagen zum Kern dieser Legaldefinition zu machen. Das Problem ist, dass das dann vor allen Dingen gerade in der, sagen wir mal, ersten Hälfte der 90er Jahre diese Feststellung, dass der nach der Legaldefinition des Stasi-Unterlagen-Gesetz ein inoffizieller Mitarbeiter ist und die Behörde deshalb die unentsprechenden Unterlagen herausgeben muss oder entsprechend Beauskunften muss, wenn es entsprechende Anträge gibt. Dass das verbunden war mit einem moralischen Vernichtungsurteil und das war das Problem, weil das natürlich der wirklich dem sehr bunten Panorama der Fälle nicht gerecht wurde. Also es gab Personen, die ohne diese Legaldefinition ganz fürchterliche Schurken waren und fürchterliches gemacht hatten und die waren dann sozusagen aus dem Schneider, weil sie diesen Stempel nicht hatten und andere die diesen Stempel bekamen, weil sie unter diese Legaldefinition fielen, waren zum Teil gewissermaßen moralisch freizusprechen, wenn man sich den Fall genau anguckte und das muss man ganz klar zugeben, das ist in den 90er Jahren teilweise nicht gut gelaufen. Diese Differenzierung ist in dieser aufgeheizten Atmosphäre oft nicht möglich gewesen und da ist auch Personen durchaus Unrecht getan worden.
Dagmar Hovestädt: Also der differenzierte Diskurs darüber: Was hast du damals eigentlich gemacht? Wie denkst du heute darüber? Wie ist es dazu gekommen? Also der Versuch das auch daran festzumachen. Hast du anderen geschadet oder nicht mit dieser Tätigkeit? Ich habe das am Rande natürlich mitbekommen, war da Journalistin in den Jahren, das war sehr stark damit die Diskussion, die eigentlich beginnt, wenn man die Akten der Hand hält, die war zu Ende, weil da IM drauf stand. Also der Wunsch anhand der Akten sich weiter damit beschäftigen zu können wirklich die Wahrheit auf den Tisch zu packen und sie zu verhandeln um dann zu überlegen, wie gehen wir damit weiter um. Dieser Prozess ist ziemlich schnell sozusagen zu Ende gegangen dann, würde ich auch so sehen, ja.
Roger Engelmann: Na ja, und das ist halt-, das kann man eben auch aus den Akten herauslesen. Ein IM hatte durchaus, selbst wenn er dann sich bereiterklärte zur Mitarbeit und dann auch lieferte, hat er immer auch noch Entscheidung-, Entscheidungsmöglichkeiten, was er genau machte und was er liefert. Und da gibt sehr sehr unterschiedliche IM-Vorgänge, die man auch - das ist ja gerade der Vorteil, dass das MfS diese Dinge dann so ausführlich festgehalten hat - durchaus analysieren kann. Und da gibt's dann durchaus bei nicht ganz wenigen IMs, doch die Tendenz, die ganz klare Tendenz, nichts denunziatorisches weiterzugeben. Also das kann man-, kann man bei der Analyse von IM-Vorgängen durchaus sehen. Es gibt bei vielen IMs durchaus auch nicht-, keine Bereitschaft also uferlos allen Wünschen entgegenzukommen. Also z.B. gibt es bei den Ärzten, die IM waren das Phänomen, dass die zwar teilweise über ihre Kollegen berichteten und über das Krankenhaus und über die Organisation dort und über den Chef, aber nicht über ihre Patienten-
Dagmar Hovestädt: Die ärztliche Schweigepflicht.
Roger Engelmann: -die das zum Teil sogar auch ihrem Führungsoffizier gesagt haben: Okay, ich ich berichte alles mögliche aber nicht aus-, über meine Patienten.
Dagmar Hovestädt: Deswegen letztendlich ist die Einzelfallbetrachtung der einzige Weg, mit dem man jeweils immer wieder an die Sache herangehen muss.
Roger Engelmann: Genau.
Dagmar Hovestädt: Zumal es ja trotzdem auch in den 40 Jahren DDR IM oder ganz früher hießen sie ja "gesellschaftliche Mitarbeiter", da doch einen riesen Wall an Verrat und Schädigung von Mitmenschen durchaus geschehen ist.
Roger Engelmann: Ja, es gibt ganz fürchterlich denunziatorische IM-Vorgänge. Es gibt auch Denunziationen außerhalb von IM-Vorgängen. Wir haben ja ein Projekt, das noch nicht ganz abgeschlossen ist, aber was jetzt hoffentlich bald abgeschlossen wird mit einer Publikation, wo das mal untersucht worden ist, systematisch. Es gibt durchaus auch das Phänomen, dass Personen, die nicht IMs sind, bei der Stasi anrufen und sagen: Ich hab da was gesehen oder ich weiß da was. Also auch dieses Phänomen gibt es. In den 50ern, auch glaub ich, noch in den 60er Jahren gab es direkt eine Rubrik bei strafrechtlichen Ermittlungsverfahren - da waren dann die die Ursprünge, also die die Informationen, die diesem Ermittlungsverfahren zugrunde gelegt - gab's eine Rubrik "Informationen aus der Bevölkerung" und-, also Denunziation, neben IM-Information - war auch eine andere Rubrik. Also das ist durchaus ein Phänomen, was es auch in der DDR gegeben hat. Wahrscheinlich nicht so ausgeprägt wie in der NS-Herrschaft, da scheint das Phänomen Denunziation ausgeprägter gewesen zu sein als in der DDR, aber es gab auch das in der DDR.
Dagmar Hovestädt: Also die freiwillige oder nicht-formalisierte Denunziationen in der NS-Zeit, viel weitverbreiteter in der DDR, dann sehr stark formalisiert über die Gewinnung von Quellen, inoffiziellen Mitarbeitern, gesellschaftlichen Mitarbeitern, aber auch die Verpflichtung des Parteiapparates, an vielen, vielen Stellen Informationslieferung an das MfS zu organisieren.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Dagmar Hovestädt: Jetzt nochmal so ein bisschen zurück, wieder zu ihrer Geschichte und der Geschichte der Forschungsabteilung: Neunzigerjahre, man kommt als Historiker da rein, ist mit unglaublich viel politischen Erwartungen und Diskussionen konfrontiert. Dann in den 2000, dann geht ihr Interesse ein bisschen in die Fünfzigerjahre und in das Jahr 1953, 17. Juni. Wie ist es dazu eigentlich gekommen?
Roger Engelmann: Ich hatte ja über die 50er und 60er Jahre schon gearbeitet in dem Projekt des Instituts für Zeitgeschichte. Und ich war eh Ansicht, man fängt in der Geschichte nicht hinten, sondern vorne an, also in den Fünfzigerjahren. [lacht] Und dann hab ich damals auch sehr eng mit Karl Wilhelm Fricke zusammengearbeitet, der ja fast so ein bisschen ein Mitarbeiter von uns war, dann zunächst noch als als Redakteur des Deutschlandfunks und dann später, als er Rentner wurde. Und wir haben dann ein ganz interessantes gemeinsames Projekt gehabt, das sich auch aus seiner Biografie ergab. Ich hatte nämlich-, eines schönen Tages fand ich einen Operativplan zur Aktion Blitz, so hieß diese Staatssicherheits-Aktion, in dem seine Entführung sozusagen als einer der Punkte, die abgearbeitet werden-
Dagmar Hovestädt: Die Entführung von Karl Wilhelm Fricke?
Roger Engelmann: Von Karl Wilhelm Fricke, genau. Da standen auch noch andere geplante Entführung drin, die zum übrigens überwiegend nicht gelungen sind. Die Entführung von Karl Wilhelm Fricke ist ja leider Gottes wirklich durchgeführt worden. Und dann haben wir uns überlegt, dass wir seine persönliche Geschichte da in den größeren historischen Kontext setzen und aus diesem Projekt ist das gemeinsame Buch "Konzentrierte Schläge" entstanden. Das ist in gewisser Weise die Nachgeschichte des 17. Juni, wenn man so will. Denn diese konzentrierten Schläge, also diese recht drastischen Aktionen gegen Gegner im DDR-Inland, aber auch gegen die im Westen, also vor allen Dingen in Westberlin, die in die DDR hineinwirkten auf vielfältige Weise, ist ja ein sozusagen ein Ergebnis des 17.Juni sozusagen. Eine politische Schlussfolgerungen, die die SED-Führung und auch die MfS-Führung und was damals am allerwichtigsten war, die sowjetische Führung aus den Ereignissen des Juni-Aufstands gezogen hat. Ja, dann haben wir erst sozusagen diese Nachgeschichte in dem Buch "Konzentrierte Schläge - Staatssicherheit, Aktionen und politische Prozesse 53 bis 55" behandelt und sind dann nochmal einen Schritt zurück gegangen und haben die Rolle der Staatssicherheit vor, während und nach dem Juni-Aufstand nochmal in den Blick genommen. Und das war ganz spannend, weil das-, der Juni-Aufstand war ein historisches Großereignis, was die auch diesen Apparat der Staatssicherheit sehr intensiv geprägt hat. Also bis, man kann sagen, bis in die 80er Jahre hinein.
Dagmar Hovestädt: Das hat aber quasi in den 2000er dann ein Stück weit den Fokus unserer Forschung wieder auf, ich sage mal, Sachthematik gelegt, während in den 90er Jahren doch sehr viel auch dieser politische-, der politische Streit um das, was in den Akten steht, wie man es zu bewerten hat, wie es tagespolitisch verhandelt wird, ja bis rein in die Belegschaft ging. Wir haben ja ein paar sehr meinungsstarke Historiker gehabt, wir haben die "Unterwanderte Republik" da publiziert, oder auch nicht - es gab größere Konflikte darüber - es haben etliche Kollegen manchmal sehr lautstark und wahrnehmbar die Abteilung verlassen. Also da denke ich jetzt wieder an Jürgen Fuchs. West-Arbeit war damals Hubertus Knabe, der auch in der Forschungsabteilung bei uns gearbeitet hat, bis zum Jahre 99. Also, wir haben die politischen Debatten auch in der Forschungsabteilung ein Stück weit einfach mitgespiegelt und mitbewegt. Oder ist das ein falscher Eindruck?
Roger Engelmann: Na ja, es gab auch schon in den 90er Jahren im Grunde beides. Es gab die aufgeheizten Debatten, die politisch waren im Kern, zum Teil auch historio-, historiographisch-methodisch, sagen wir mal, aber über mit so einem innenpolitischen Kontext. Aber es gab auch in den 90er Jahren schon neben diesen Diskussionen, die natürlich in der Öffentlichkeit sehr stark wahrgenommen wurden, gab's dann die minutiöse, ja, und in gewisser Weise auch zurückgenommene Forschung über Dinge, die Klaus Dietmar Henke hätte gesagt, die einfach unsere Hausaufgaben waren. Also das-
Dagmar Hovestädt: Das Handbuch?
Roger Engelmann: Das Handbuch ist initiiert worden.
Dagmar Hovestädt: Also die Darstellung der wesentlichen Abteilungen, Hauptabteilung des MfS, ihrer Arbeitsweise, ihre Institutionengeschichte.
Roger Engelmann: Eine sehr ausführliche Institutionengeschichte, muss man sagen, wenn man das mit anderen Institutionen vergleicht. Ich behaupte mal, die Stasi dürfte, vor allen Dingen wegen dieses Handbuchs-Projekts, dürfte der Apparat sein, der am intensivsten beschrieben worden ist überhaupt.
Dagmar Hovestädt: Aber vielleicht auch am hilfreichsten für den Zugang zu den Akten. Also um zu verstehen, wo was liegt und wer was abgelegt hat, ist es wichtig zu verstehen, welche Abteilung für was zuständig war, um in diesen Kontext zu bilden, um die Akte wieder zu verstehen.
Roger Engelmann: Genau. Also ich meine diese Handbuchteile, die sind - also wir haben uns sehr bemüht, die nach einem bestimmten Kanon abzuarbeiten, aber die Autoren sind natürlich auch Persönlichkeiten, deswegen sind die auch unterschiedlich.
Dagmar Hovestädt: Aber in einer der letzten Ausgabe haben sie doch noch mitgeschrieben? Jetzt vor ein paar Jahren erst. Die Hauptabteilung IX?
Roger Engelmann: Ja, ich glaube, die bei der letzten, genau, die Hauptabteilung IX war der letzte Baustein. Das war ist ja auch eine der wichtigsten Diensteinheiten des MfS, weil das sogenannte Untersuchungsorgan, ja das eigentlich polizeiliche, der polizeiliche Bereich des MfS war, der also exekutiv tätig war und im Grunde auch offiziell. Das war ja keine inoffizielle Tätigkeit. Die Leute sind ja real verhaftet worden und bekamen dann auch ganz-, also strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Untersuchungshaft, wie das eben durch die Strafprozessordnung der DDR geregelt war. Da war das MfS eben kein Geheimdienst, sondern eine polizeiliche Struktur. Die schlimmsten Repressionen sind ja eigentlich mit diesem Zweig des MfS verbunden. Also wenn man sich anguckt, was vor allen da in den 50er Jahren passiert ist, also angefangen von willkürlichen Festnahmen, Tag und Nacht-Verhören, vor dem März 53 auch regelmäßig Folter, auch später noch Dinge, die man so qualifizieren kann. Tag und Nacht-Verhöre waren also bis Anfang der 60er Jahre üblich im MfS, auch wenn das die Herren, die sie selbst durchgeführt haben, dann in den 90er Jahren bestritten haben.
Dagmar Hovestädt: Aber all das war Teil der Arbeit der Hauptabteilung IX?
Roger Engelmann: Das war die Arbeit der Hauptabteilung IX und die hat ja auch in der Beziehung wie eine ordentliche Bürokratie gearbeitet. Deswegen wissen wir also, dass die Nacht-Verhöre und auch exzessive Nacht-Verhöre, manchmal über fast eine Woche am Stück, was natürlich eine Katastrophe war für den zu den Untersuchungshäftling, weil der ja auch am Tag dann nicht schlafen konnte. Die, die durften sich ja nicht auf die Pritsche legen, in Untersuchungshaft und dann völlig übermüdet waren. Und das kann man sagen, erfüllt sowieso den Tatbestand der Folter, allein diese fortgesetzten Nacht-Verhöre. Das war, also gerade in z.B. in der Zeit der konzentrierten Schläge, also 1955 war das Gang und Gäbe und die haben uns ja auch die Uhrzeiten auf den Vernehmungsprotokolle schön eingetragen die Vernehmer. Von daher wissen wir das.
Dagmar Hovestädt: Das heißt also "Die Anatomie der Staatssicherheit", das Handbuch, beginnt in den 90er Jahren und wir schließen es 2016/2017 dann ab. Das ist sozusagen eine Konstante, die aus der Forschungsabteilung über die drei Jahrzehnte fast mit bedient worden ist.
Roger Engelmann: Na ja, erfahrungsgemäß werden solche Dinge, die ja Hilfsmittel sind, also Hilfsmittel für den Historiker, aber auch Hilfsmittel für andere Leute, für Journalisten, für allgemein Interessierte, teilweise auch für die politische Bildung, solche Hilfsmittel werden ja viel intensiver rezipiert als wissenschaftliche Monographien. Da kann man ja froh sein, wenn man zwanzig Leser hat.[lacht]
Dagmar Hovestädt: Der arme Historiker wird kaum gelesen.
Roger Engelmann: Ich war halt immer der Ansicht, dass man in so einem Kontext dazu verpflichtet ist, den anderen die Grundlagen zu erarbeiten, weil man verbraucht ein Haufen Steuergelder. Und wir hatten ja auch lange Zeit auch einen privilegierten Zugang zu den Akten.
Dagmar Hovestädt: Bis 2007 war der Zugang zu nicht geschwärzten Unterlagen eigentlich nur den Forschern innerhalb der Behörde möglich. Alle, auch externen Forscher von Universitäten, mussten damit leben, dass die schutzwürdigen Interessen Dritter abgedeckt sind.
Roger Engelmann: Genau, und das hat zwei Verpflichtung zur Folge gehabt. Erstens diese Verpflichtung, das Grundwissen zur Verfügung zu stellen für die anderen und zweitens die Verpflichtung, die Themen zu behandeln, prioritär, die von öffentlichem gesellschaftlichem Interesse sind. Das waren zum Teil auch sehr brisante Sachen. Also wir haben dann etwa auch die Frage untersucht, ob es die Schädigung von Untersuchungshäftlinge durch Strahlen gegeben hat im MfS. Dieses Thema tauchte auf, weil es da Indizien gab, dass es so was gegeben haben könnte. Das ist dann natürlich ein Thema gewesen, das wir auch bearbeiten mussten prioritär. Oder die Frage dieser ganz harten Dinge wie, ja, Spezialkommandos, Mordaufträge, ähnliches...
Dagmar Hovestädt: Tag X?
Roger Engelmann: Also ja, genau, die Isolierungslager, das war auch ein Thema, also das die DDR Isolierunglager-, oder das MfS war das in erster Linie - Isolierungslager für die politisch Unzuverlässigen geplant hatte, für den Spannungs-Krisenfall, wie auch immer, das ist ja sehr schnell herausgekommen. Und dann gab es halt da auch ein öffentliches Interesse, da genau zu wissen, was geplant war und wer betroffen war. Und das ist z.B. auch ein Projekt, was wir sehr früh in Angriff genommen haben.
Dagmar Hovestädt: Ich glaub auch, so kleinere Hilfestellungen zum Bereich Neonazismus, faschistisches Denken der DDR auch in den 90er Jahren oder Doping. Wir haben so kleinere Studien immer mitgeliefert, um so erste Einstiege für Interessierte zu liefern.
Roger Engelmann: Na ja gut, es gab natürlich die Problematik des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern auch gleich Anfang der 90er Jahre und das war eins der ersten Themen überhaupt. Das war, diese Reihe gibt es sogar noch "BF informiert", also Bildung und Forschung informiert. Das erste "BF informiert" handelte vom Rechtsextremismus in der DDR, von Walter Süß, damals noch ohne Umschlag sozusagen, als zusammengeheftete lose Blattsammlung. Walter Süß hatte sich als Journalist damit schon befasst, bevor er zu uns kam und war sozusagen schon perfekt eingearbeitet und hat dann sich entsprechende Unterlagen dann noch recherchiert und hat in sehr kurzer Zeit das, wenn ich mich richtig erinnere, war das 93 schon, diese Broschüre über den Rechtsextremismus in der DDR zur Verfügung gestellt.
Dagmar Hovestädt: Also das stimmt schon, wenn man drüber nachdenkt und an bestimmten Punkten haben wir veröffentlicht und haben damit auch Meinungen, Geschichtsschreibung bis dato ein bisschen umgestoßen, denke ich jetzt an Henry Leide "Staatssicherheit und NS-Zeit", die Behandlung, die Nachbehandlung, Aufklärung über die NS-Zeit in der DDR. Das hat tatsächlich auch viele der MfS Mitarbeiter und bestimmte Historikerkreise, die DDR-sozialisiert sind sag ich jetzt mal, auf den Plan gerufen und haben das sehr heftig bekämpft.
Roger Engelmann: Ja, ja, ich meine das war natürlich so ein heikles Thema. Die MfS-Hauptamtlichen, die ja sozusagen, deren Welt zusammengebrochen war, die hielten sich an einem Thema fest. Wir waren aber die besseren Antifaschisten. Das war so der letzte Rest an positiver Selbstwahrnehmung, die ihnen so geblieben war. Und da war natürlich dann, wenn man näher hinguckt, war das natürlich ganz und gar nicht so. Man muss natürlich schon sagen, also, es ist ja auch nicht völlig anders gewesen, weil man muss ja immer den Vergleichsmaßstab Bundesrepublik im Auge haben. Und was sich die Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren geleistet hat, auch im Bereich - oder nicht geleistet hat - im Bereich der NS-Aufarbeitung, Dds muss man natürlich immer auch als Kontrastfolie sehen. Aber wenn man mal in die Akten schaut und das sind ja auch überwiegend, ist das gewissermaßen in den MfS-Akten begraben dieses Thema, dann hat die DDR doch vieles gemacht, was ganz und gar nicht diesem Selbstbild, das sie mit großer-, mit großer Kraft ab Ende der 50er Jahre, vor allen Dingen dann in den 60er Jahren nach außen hin propagiert hat, um auch ihr internationales Standing und auch ihr Standing im Systemkonflikt mit der Bundesrepublik zu verbessern. Also dieser Antifaschismus, der kriegt schon erhebliche Kratzer, wenn man sich dann anguckt, dass sie, gerade weil sie sich so als antifaschistischer Musterschüler dargestellt hatten, dann in den 70er und vor allem in den 80er Jahren auch anfangen müssen, Dinge klein zu kochen und zu vertuschen, die, wenn sie jetzt so eins zu eins an die Oberfläche gekommen wären, dieses Bild halt wirklich sehr stark relativiert hätten. Davon handelt das Buch von Henry Leide und das hat natürlich sehr viel Unmut bei den Hauptamtlichen, die sich an diesem antifaschistischen Mythos halt krampfhaft festhielten, hervorgerufen.
Dagmar Hovestädt: Insofern ist das wieder aus den früheren Zeiten betrachtet das Risiko, 40 Jahre polizeiliche geheimdienstliche Dokumentation für gesellschaftlichen Diskurs zu öffnen. Wie würden Sie sagen: Hat sich das Risiko gelohnt? Oder war das vielleicht doch zu gewagt? Und nach drei Jahrzehnten muss man feststellen: Hat uns nicht so richtig gut getan.
Roger Engelmann: Also man muss ja nur nach Russland schauen und dann sieht man, dass es uns gut getan hat. Also das diese Stasi-Strukturen, auch die Strukturen die eben nicht erkennbar sind, wirklich ratzeputz zerschlagen wurden im Beitrittsgebiet, sag ich mal, das ist nun wirklich nicht schlecht gewesen. Wenn man sieht wie die organisierte Kriminalität in den postkommunistischen Ländern teilweise aus diesen Stasi-Strukturen entstanden ist und in Russland ja eine richtige Macht ist, auch eine politische Macht, dann weiß man das schon zu schätzen. Auch, wenn es - ich hatte das ja schon angedeutet bei der Frage, bei dem Thema Bewertung von von IM-Biografien - auch wenn es da durchaus auch übertriebene Härten und Ungerechtigkeiten gegeben hat, insbesondere in den 90er Jahren. Aber diese 100'000-fache persönliche Akteneinsicht - auch das ist - Ich hab ja auch einen kleinen Aufsatz da mal geschrieben, der ist nur Englisch erschienen, aber die meisten Leute können ja Englisch. Das ist eigentlich total unterbewertet, immernoch. Das ist wirklich das ist historisch einmalig, dass so viele Leute anhand von geheimpolizeilichen Unterlagen ihre Biografie unter der Diktatur betrachten, neu bewerten, in Ordnung bringen oder auch nicht. Es gibt da sicherlich ganz unterschiedliche - man kann nicht ausschließen, dass es auch Leute gibt, die durch die Lektüre der eigenen Akte traumatisiert worden sind. Aber was mit Sicherheit gelungen ist, es ist eine größtmögliche Transparenz entstanden, die es der Gesellschaft im Grunde auch ermöglicht hat, das Thema abzuhaken. Es ist in gewisser Weise abgehakt und es gibt nicht, auch nicht den Verdacht, dass irgendwelche Reststrukturen, also die berühmten Seilschaften hier, noch Jahrzehnte nach dem Untergang der DDR unser Leben bestimmen oder so. Das ist, also es gibt Leute, die das immer noch meinen, aber das kann man dann wahrscheinlich inzwischen als Verfolgungswahn abtun. Das ist definitiv bei dieser größtmöglichen Transparenz der Aufarbeitung, die das Stasi-Unterlagen-Gesetz ermöglicht hat, ist das auszuschließen und das ist ein Riesengewinn, also gesellschaftlich und auch kulturell. Das sollte man auch durchaus würdigen. Ich meine, nicht umsonst haben ja die nahezu - außer den nicht-demokratisch verfassten postkommunistischen Staaten, also Russland, Weißrussland und Kasachstan und was es da noch gibt - aber die demokratisch verfassten postkommunistische Staaten haben, sind ja dann im Endeffekt alle dem deutschen Beispiel gefolgt. Anfangs noch nach starken Widerstreben-
Dagmar Hovestädt: Mit einem Abstand von fast zehn Jahren. Polen haben ja als erste begonnen.
Roger Engelmann: Genau, also die Polen. In Polen gab es ganz starke Widerstände dagegen erst. Und dann war die Öffnung sogar extremer als bei uns in gewisser Weise, weil man dann auch an Unterlagen herankam, wo bei uns immer noch Datenschutzvorbehalte bestehen.
Dagmar Hovestädt: Man hatte ja auch eine Ermittlungsbehörde draus gemacht.
Roger Engelmann: Genau. Also die Polen haben ein bisschen eine andere Tradition. Das hängt damit zusammen, dass die auch ihre die NS-Zeit mit so einer Ermittlungsbehörde - das ist übrigens die gleiche, wenn man so will - aber die, sagen wir mal die, die, die Forschungsabteilungen oder es sind ja sogar mehrere bei einem polnischen IPN, die sind ja größer als die beim BStU jemals waren. Und ja, aber trotzdem. Also im Grundsatz die Regelungen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes sind eine Blaupause gewesen für alle diese anderen Regelungen, die es in den postkommunistischen Staaten gibt.
Dagmar Hovestädt: Jetzt neigt sich ihre aktive Karriere dem Ende zu. Aber was kann man sich vorstellen? Was ist-, was sollte für die nächsten zehn Jahre, was kann man noch erforschen? Gibt's noch was zu erforschen? Braucht man noch die Beschäftigung mit der Stasi, jenseits davon, dass Historiker sowas immer spannend finden werden. Aber es gibt ganz neue Generationen, gerade weil diese Einrichtung und die Forschung so stark mit gesellschaftlicher Relevanz politischen Geschichten verknüpft war, weil die Aufarbeitung so eng verknüpft war auch mit unserer Forschung. Wenn das alles ein Stück weit zurücktritt, weil ganz nächste Generationen, ohne jemals mit DDR irgendeine Erfahrung gemacht zu haben, den Diskurs mitbestimmen, wo sieht man da Forschung zur Stasi?
Roger Engelmann: Na ja, also sagen wir mal, die Stasi als Apparat wird als Forschungsgegenstand wahrscheinlich in Zukunft eher uninteressanter werden. Der ist ja auch stark erforscht. Also man muss ja auch immer die Dimensionen sehen. Also wenn man also-, oder die Vergleichsmaßstäbe sehen, wenn man das vergleicht mit anderen geheimpolizeilichen oder polizeilichen oder geheimdienstlichen Apparaten ist die Stasi sehr sehr sehr sehr gut erforscht, sehr breit-
Dagmar Hovestädt: Und hat auch viel Material hinterlassen.
Roger Engelmann: Na ja, er hat viel Material hinterlassen, aber ist auch sehr intensiv erforscht. Das heißt natürlich nicht, dass man da - es gibt, mir würden auf Anhieb ganz viele Dinge einfallen, die noch gar nicht gut erforscht sind und die man noch erforschen kann, die ganz eng mit dem Apparat zusammenhängen - aber das eigentliche Potenzial der Stasi-Unterlagen sehe ich auf einem anderen Gebiet. Das ist allerdings ein bisschen heikel, weil das sozusagen eine Instrumentalisierung der Grundrechtsverstöße, die die Stasi, die die Stasi vollführt hat, bedeutet. Das MfS Archiv ist natürlich ein Spiegel auch des Alltagslebens und dadurch, dass die Stasi so viel gesammelt hat, auch wirklich sehr viel aus sein-, aus Sicht des Apparats Belangloses, das war sozusagen Beifang, aber das ist halt alles, liegt halt immer noch in den Archiven. Nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz darf ja da auch nichts kassiert werden. Normalerweise werden-, wird die Hinterlassenschaften von Apparaten sehr viel stärker ausgedünnt im Zuge der Archivierung. Das ist beim MfS-Bestand nicht der Fall. Ich würde mir ehrlich gesagt auch wünschen, dass das nicht gemacht wird, weil man dann eben diese Möglichkeit sich nimmt oder künftigen Generationen nimmt, aufgrund von solchen Unterlagen einfach gesellschaftliche Realität in der DDR zu rekonstruieren. Vielleicht auch jenseits von Fragestellungen, die irgendwie eine politische Konnotation haben. Ich sag mal etwas provokativ: Man könnte auch anhand der Stasi-Unterlagen etwas über das Liebesleben der DDR-Bürger schreiben. Sicherlich heute noch nicht, aber vielleicht in 150 Jahren, vielleicht sogar schon früher.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war Roger Engelmann, langjähriger wissenschaftlicher Forscher im Stasi-Unterlagen-Archiv. Und wie geht es weiter?
Dagmar Hovestädt: Es geht weiter wie immer. Zum Ausklang mit einer akustischen Begegnung mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv der ganz zufällig ausgewählte Ton aus den Audio-Beständen.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Im Ton-Bestand gibt es sogenannte Fremdproduktionen. Darunter sind Medienmitschnitte von Radio und Fernsehsendungen zur Auswertung zu verstehen, aber auch Auftragsproduktionen, die auf Veranlassung des MfS entstanden sind. Ein Beispiel dafür ist ein Anfang der 1970er Jahre in Zusammenarbeit mit dem MfS gestaltete Hörspiel Reihe des DDR Rundfunks. Unter dem Titel "Verdeckte Fronten" entstanden Folgen wie "Kaiser funkt nicht mehr", "Der tote Briefkasten am alten Graben" oder "Das Geständnis des Ludwig Kolosker über die Arbeit des MfS". Wir hören jetzt einen Ausschnitt vom Anfang der Folge "Das kopernikanische System" von 1973.
[Archivton]
[männlicher Sprecher 1:] Eigentlich mache ich eine Entdeckungsreise.
[weibliche Sprecherin 1:] Nein, wie romantisch! Eine Entdeckungsreise.
[männlicher Sprecher 1:] Ach, mehr geschäftlich als romantisch. Ich fahre für meine Firma, Reisebüro Windrose Hamburg.
[weibliche Sprecherin 1:] Aha. Ihre Firma veranstaltet Ostreisen?
[männlicher Sprecher 1:] Wir wollen, gnädige Frau, wir wollen. Deswegen fahre ich nach Polen.
[Jingle]
Sprecher: Das kopernikanische System. Erster Teil.
[männlicher Sprecher 2:] Lassen wir den charmanten Vertreter des Reisebüros Windrose, die ältere Dame im Zug noch ein Weilchen voll flunkern. Er weiß noch nicht, wer in Berlin Bahnhof Friedrichstraße auf ihn wartet, sonst würde er wohl doch in Westberlin Bahnhof Zoo aussteigen oder hätte seine Reise gar nicht erst angetreten. Wir schreiben Herbst 1967. Seit einem Jahr arbeite ich im Ministerium für Staatssicherheit in Berlin. Bekanntlich versuchen imperialistische Geheimdienste immer wieder, unsere Transitwege zu missbrauchen, um über die DDR ihre Agenten in sozialistische Länder zu schicken, z.B. in die Volksrepublik Polen. Wir hatten erfahren, dass der amerikanische Geheimdienst CIA den Reiseagenten Jan Foltin nach Polen in Marsch setzen würde. Und zwar getarnt als Angestellten eines an sich seriösen Unternehmens des Reisebüros Windrose Hamburg. Foltin hatte den Auftrag, in der Volksrepublik Polen Kontakt zu der Agentengruppe KS aufzunehmen. Eine Sonnenbrille von extravagantem Aussehen sollte dabei eine besondere Rolle spielen. Wir hatten sofort unsere Genossen von der polnischen Staatssicherheit informiert und Major Marian Tomasz, mit dem ich schon mehrfach zusammengearbeitet hatte, war nach Berlin gekommen. Mitgebracht hatte er Hauptmann Jan Adamski. Die Genossen kamen nicht mit leeren Händen.
[männlicher Sprecher 3:] [lacht] Es war eine hoffnungslose Lage, Genosse, während - ich saß am Tisch, die Füße in einer Schüssel mit heißem Wasser, den Kopf über einer Schüssel aus der brühheiße Kamillendämpfe aufstiegen. Und alle drei Minuten goss mein Peiniger mehr kochendes Wasser in die Schüssel. Nur an Widerspruch oder gar Widerstand gegen dieses alte Familienrezept meiner Frau war nicht zu denken. Ja und da klingelt es und ihr Bericht über Kopernikus und Jan Foltin erlöst mich. Ich, ähm, ich danke Ihnen, Genosse.
[männlicher Sprecher 4:] Es tut mir leid, dass wir nicht schon früher von Foltin und seinem Auftrag erfahren haben. Aber wie ich mit Freuden feststellte, hat Ihnen das Schwitzbad gut getan.
[männlicher Sprecher 3:] Ja, meine Frau sagt das Schwitzbad, ich sage ihr Bericht.
[männlicher Sprecher 4:] Genosse Tomasz, im Zusammenhang mit Foltin sprachen Sie von Kopernikus?
[männlicher Sprecher 3:] Ja, richtig, natürlich. Hmm, vergessen wir überstandene Erkältung. Am besten, so denke ich mir, wird sein, wenn ich von grundauf berichte, was wir über Kopernicus und sein System wissen...
[schnelles Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Das Europäische Netzwerk der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden
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