Biermann besucht Stasi-Besetzer
Video auf der Webseite des MDR über einen Besuch des Liedermachers Wolf Biermann bei den Besetzern der Stasi-Zentrale.
MehrBStU-Pressesprecherin Dagmar Hovestädt und die beiden MfS-Besetzer Michael Heinisch-Kirch und Frank Ebert, Quelle: BStU
Am 4. September 1990 drangen mehr als 20 BürgerrechtlerInnen in die Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg ein und besetzten Räume in "Haus 7". Sie hatten Sorge, dass die von ihnen in der Friedlichen Revolution quer durch die DDR gesicherten Stasi-Unterlagen in der deutschen Einheit unter den Tisch fallen würden. In einer Veranstaltung 30 Jahre später erinnerten in ihren Rollen von damals Frank Ebert, Michael Heinisch, Tom Sello, Roland Jahn und Sabine Bergmann-Pohl an die mehrwöchige Besetzung von Mielkes Hauptquartier, unterstützt von dokumentarischen Tönen aus der Zeit.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Hallo meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur 16. Folge des Podcasts "111 Kilometer Akten". Ich bin Maximilian Schönherr. Ich habe das Archiv-Radio im Südwestrundfunk gegründet und ich bin Journalist vor allem für den Deutschlandfunk.
Dagmar Hovestädt: … und ich bin Dagmar Hovestädt, die Sprecherin des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und die zweite Stimme hier im Podcast – oder wie man dafür auch sagen kann: die Co-Host.Dieses Archiv, das betonen wir gern und oft, ist weltweit einzigartig, weil mit seiner Öffnung erstmalig komplett die Unterlagen einer Geheimpolizei und eines Geheimdienstes für die Gesellschaft geöffnet wurden. Das verdanken wir mutigen Männern und Frauen, die die Stasi in der Friedlichen Revolution im Winter 1989/1990 entmachteten und dann auch im Herbst vor 30 Jahren, im Prozess der deutschen Einheit, den Zugang zu den Akten als wichtiges Anliegen der Menschen in der DDR einbrachten.
Maximilian Schönherr: 1990 war die DDR nach gut 40 Jahren am Ende. Die damalige Volkskammer setzte das um, was die Mehrheit der Menschen in der ersten freien Wahl im März wollten. Eine schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik. Die Vereinigung stand also im September 1990 unmittelbar bevor. Es gab aber einen Konflikt darum, ob die von den Bürgerrechtlern gesicherten Stasiakten nun auch wirklich im Vereinigungsprozess einer tatsächlichen Öffnung für die Bürgerinnen und Bürger zugeführt würden – so wie sie sich das nach der Sicherung der Akten in der Revolution überlegt hatten. Die Erinnerung an diesen besonderen Aspekt des Einigungsprozesses war Thema einer Veranstaltung, die der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen am 30. Jahrestag der Besetzung des Archivs am 4. September 1990 gemacht hat. Dagmar, wo fand das jetzt statt?
Dagmar Hovestädt: Also in diesem Jahr, 2020, genau 30 Jahre nach diesem Besetzungstag, haben wir erstmals im Innenhof der Stasi-Zentrale – unter freiem Himmel und bei viel Platz, damit die Stühle auch ausreichend Abstand haben - ein Kino-Festival veranstaltet. Vier Wochen lang hatten wir jeden Dienstag und Donnerstag Dokumentar- und Spielfilme, die sich mit dem Leben in der DDR und damit auch mit dem Wirken der Stasi beschäftigt haben, da gezeigt in diesem Innenhof. Und just zum Abschluss des Festivals, am 4. September, haben wir die Bühne und die Leinwand draußen im Innenhof dazu genutzt, mit Zeitzeugen und Film-Dokumenten an diese Besetzung genau an dem Tag vor 30 Jahren zu erinnern quasi auch im Blickfeld des Gebäudeteils, der damals besetzt wurde.
Maximilian Schönherr: Und weil wir Gebäudeteil ja gerade erwähnen: Es ist im öfter mal die Rede von der dritten Etage, vom dritten Stock, das ist quasi dieser Innenhof, ein Gebäude, also das ist nicht Mielkes Hauptgebäude, nicht der Haupteingang, sondern es ist rechts daneben.
Dagmar Hovestädt: Genau es ist nicht Haus 1, das ist natürlich der Dienstsitz von Mielke gewesen, dann Haus 7 und da der Nordflügel, da saß eigentlich die Hauptabteilung XX. Also genau die Abteilung zur Verfolgung der Opposition und in diesem dritten Stock, das wird dich besonders freuen, sitzt natürlich heute unserer Audiostudio, also auch Frau Steinbach von der wir später noch hören werden.
Maximilian Schönherr: Und hieß es damals schon Haus 7 oder ist es eine Erfindung der "Nach-DDR-Zeit"?
Dagmar Hovestädt: Nee, so einfallsreich war die Stasi tatsächlichen selber die Gebäude einfach numerisch zu benennen.
Maximilian Schönherr: Es kommen jedenfalls in diesem Podcast einige Menschen zu Wort: die BesetzerInnen, aber auch die, die zwischen den Besetzern und der Politik verhandelt haben und Berichterstatter in den Medien. Wollen wir mal versuchen, die Namen mal etwas zu ordnen und vorzubereiten, damit man nicht komplett überrollt wird?
Dagmar Hovestädt: Das sind ganz schön viele Menschen, die vorkommen, das stimmt wohl. Also die, die auf der Bühne stehen, die werden ja von mir dann auch kurz angesprochen und vorgestellt. Das sind zwei der Besetzer, ein Journalist, und zwei, die das Thema damals verhandelt haben. Aber es gibt auch ein paar weitere Namen, die einfach nur kurz benannt werden und an die will ich gern nochmal im Vorfeld erinnern. Da ist vor allem Bärbel Bohley, eine der wichtigsten Figuren der Friedlichen Revolution, die Mitgründerin des Neuen Forums, also der ersten quasi-Partei, die sich im September 1989 gegründet hatte. Bärbel Bohley war auch das Gesicht dieser Besetzung dann 1990. Sie ist leider im September 2010, vor 10 Jahren verstorben. Sie fehlt vielen Menschen heutzutage. Zu Beginn hörten wir bei der Veranstaltung und nun auch hier im Podcast die ARD-Tagesschau vom 4. September 1990. In dem Beitrag ist der Mediziner Jens Reich zu hören, ebenfalls eine zentrale Figur der Friedlichen Revolution aus dem Neuen Forum. Reich war damals Abgeordneter in der DDR-Volkskammer.
Maximilian Schönherr: Und weil es immer noch viele Namen sind: Über die sehr kompakte Webadresse www.bstu.de/podcast findet man das alles, übrigens auch verschriftlicht, das was man hören kann. Ja, und mehrmals wird ein gewisser Diestel erwähnt, damals Innenminister der DDR oder?
Dagmar Hovestädt: Genau, Peter-Michael Diestel, der offenkundig bis heute doch eine streitbare Figur ist für die damaligen Besetzer. Also da gehörte er auch damals schon zu einer Figur, die sie als Gegner erlebt haben, weil er sich doch immer wieder stärker für die Interessen der ehemaligen Stasi-Mitarbeiter und der im Apparat Verstrickten eingesetzt hatte und gerade nicht für den Aktenzugang. Wichtig wäre noch zu benennen, dass dann in dem dritten Filmausschnitt, der da kurz zu hören sein wird, einem Beitrag des ARD-Magazins Kontraste, auch Joachim Gauck, kurz zu Wort kommt. Der war der erste Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen und später dann Bundespräsident. Der Fernsehbeitrag handelt von verdeckt arbeitenden Stasi-Mitarbeitern, die im Herbst 1990 nach wie vor in den Behörden tätig waren und damit vor der Übernahme in den gesamtdeutschen Staatsdienst standen, also Stasi-Leute als BRD-Beamte. Es war ein delikates Thema und wen ich in der Veranstaltung nicht namentlich erwähne, dessen Name aber in der Kontraste-Sendung eingeblendet war, das ist der Co-Autor des Beitrags, der Journalist Peter Wensierski.
Maximilian Schönherr: Du scheinst mit allen ziemlich gut bekannt zu sein, denn es menschelt richtig.
Dagmar Hovestädt: Ja, also ich kenne tatsächlichen, bis auf die letzte Volkskammerpräsidenten, Sabine Bergmann-Pohl, die in der letzten Runde da zu Wort kommt und Michael Heinisch, der gleich am Anfang spricht, alle auch wirklich persönlich und duze sie auch auf der Bühne. Ich hatte irgendwie das Gefühl an dem Ort bei der Erinnerung an die Aktion, wäre das merkwürdig diese Etikette jetzt sehr korrekt einzuhalten. Es funktioniert nicht, aber es ist ja trotzdem meistens etwas schräg, wenn man als Moderatorin die Gesprächspartner kennt. Das Gespräch soll nicht so kumpelig sein, aber es ist irgendwie auch künstlich, für das Publikum auf ein "Sie" umzusteigen.
Maximilian Schönherr: Das passt schon. Ich wollte noch auf ein bemerkenswertes Interview hinweisen, das wir in ungefähr 10 Minuten hören werden, mit dem aus der DDR ausgewiesenen Liedermacher Wolf Biermann. Biermann war nicht auf der Veranstaltung?
Dagmar Hovestädt: Nein, das wäre natürlich klasse gewesen, aber er hatte leider keine Zeit. Wolf Biermann, den die DDR ja 1976 aus dem Land quasi ausgesperrt hat, dem war das damals natürlich ein ganz besonderes Anliegen, die Besetzer zu unterstützen. Jedenfalls war das ganze eine Kooperationsveranstaltung vom Stasi-Unterlagen-Archiv, dem Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Robert-Havemann-Gesellschaft, das sei noch angemerkt und ich hoffe, jetzt haben wir alle ausreichend verwirrt mit den vielen Namen.
Maximilian Schönherr: Glaube schon. Biermann übrigens eine nette Äußerung, er macht aus allem ein Liedtext. Ich hab Biermann mal selber interviewt für den, glaube ich, Bayrischen Rundfunk und ich würde es jetzt mal eine gewisse Eitelkeit nennen, die hat er auf jeden Fall. Und es interessant, dass es in diesem Stück auch vorkommt, denn eigentlich kenne ich ihn nicht. Dazu musste jetzt nichts sagen, denn wir legen jetzt einfach los, zu Anfang also ein zweiminütiger Ausschnitt aus der Tagesschau vom 04.09.1990.
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[Tagesschau Ausschnitt]Tagesschau Sprecher: DDR-Bürgerrechtler haben heute ein Gebäude der früheren Stasi-Zentrale in Ost-Berlin besetzt. Sie wollen vor allem verhindern, dass der Bundesnachrichtendienst die sechs Millionen des einstigen Staatssicherheitsdienstes in die Hände bekommt. Mit dem Kompromiss im Einigungsvertrag wonach das künftige gesamtdeutsche Parlament endgültig über Aufbewahrung und Verwendung der Akten entscheiden soll, sind sie nicht einverstanden. Als Vermittlerin hat sich die Präsidentin der Volkskammer Bergmann-Pohl eingeschaltet.
Reporterin: Nachdem die Polizei das ehemalige Stasi-Gebäude umstellt und die Barrikaden der Besetzer gewaltsam aufgebrochen hatte, eilte Parlamentspräsidentin in Bergmann-Pohl zum schlichten in den einst gefürchteten Bau in der Normannenstraße. Immerhin sagt sie, sei in der letzten Woche verhindert worden, dass die Stasi-Akten ins Bundesarchiv nach Koblenz kommen und dass der BND sie nutzen könne. Doch das reicht dem Neuen Forum und der vereinigten linken nicht. Sie wollen, dass die sechs Millionen Stasi-Akten auch nach dem Beitritt am dritten Oktober der Kontrolle der DDR minder unterstehen, so habe ist schließlich die Volkskammer beschlossen.
Interviewter: Ich finde, dass das eine Vergewaltigung der Volkskammer ist, was hineingekommen ist und entsprechende Verhandlungen sind ja auch mit der Regierung gewesen. Die Regierung hat ja auch versucht das anders zu lösen. Die hatte ja den Auftrag dieses Gesetz mit zu übernehmen in den Staatsvertrag, hat sich nicht durchsetzen können. Na ja nun haben die Vertreter, das sind Vertreter von Komitees usw., Betroffene wahrscheinlich auch, diesen Weg gewählt um aufsehen zu erregen.
Reporterin: Die Besitzer, darunter auch Bärbel Bohley vom neuen Forum fordern nun die Herausgabe ihrer persönlichen Akten, damit eines Tages wenigstens ein Stückchen Wahrheit ans Licht kommt, sagen sie. Mehrere Abgeordnete kamen noch am Nachmittag in die Normannensstraße um zu verhandeln. Am Donnerstag, wenn in der Volkskammer der Einigungsvertrag beraten wird, steht das Thema Stasi-Akten noch einmal auf der Tagesordnung.
[Tagesschau-Ausschnitt Ende]
Dagmar Hovestädt: Das war die Tagesschau vor 30 Jahren und ich würde jetzt ganz gerne zwei von denen, die damals dabei waren, zwei von den 21, auf die Bühne bitten, nämlich Frank Ebert und Michael Heinisch.Ja die Idee der Besetzung war die eigentlich morgens gekommen mittags,nachmittags? Wisst ihr noch wann Besetzung ihr hier auf diesem Gelände eingetroffen seid und euch da in den dritten Stock verkrochen habt?
Frank Ebert: Na es sind ja eher zwei Vorgänge, einen Tag vorher hatten wir uns schon mal getroffen und haben gesagt, das geht so nicht. Im Einigungsvertrag war die Frage der Stasi-Akten völlig unzureichend behandelt.
Dagmar Hovestädt: Der war am 31. August unterschrieben worden richtig?
Frank Ebert: Ja.
Dagmar Hovestädt: Ihr hattet eine Kopie bekommen, in der Zeitung gelesen.
Frank Ebert: Genau und das ging so für uns gar nicht, weil wir wussten ja monatelang, jahrelang waren Stasi-Leute hinter uns her gefahren, wir waren zu Verhören gewesen, wir waren in Gefängnissen gewesen, wir wussten da sind Sachen über uns gesammelt worden, wir wussten selber nicht was und das soll jetzt ungefiltert der Bundesregierung übergeben werden, möglicherweise die BND übergeben werden, das ging für uns überhaupt nicht. Die Akten gehören uns und deswegen haben wir uns diese Aktion ausgedacht. Wir hatten vorher kurze Pressekonferenz gemacht, hier schräg gegenüber. Außerhalb des Geländes und hatten da gesagt wir werden jetzt darüber gehen und hier die Besetzung vornehmen und das haben wir dann einfach gemacht.
Dagmar Hovestädt: Aber das Tor war ja nicht weit offen Frank oder? Konnte man einfach reinmarschieren und sich da im dritten Stock aufhalten?
Frank Ebert: Ja, zu der Zeit konnte man reingehen, weil wir hier direkt auf dem Gelände hier, die Ausstellung stand selbstverständlich noch nicht, hier waren ein Parkplatz und wir hier rumgelaufen, da stand auch so ein Reisebus, das weiß ich noch, dann haben wir uns da ein bisschen versteckt dahinter und dann ist eben Henry Leide, der eine große Statur hat, sehr kräftig war, der hat einen Holzkeil dabei gehabt, keine Ahnung woher er wusste wie breit der Keil sein muss, müsste man mal Leute fragen, die vom Bürgerkomitee die damals dabei waren. Der Keil passte wunderbar unter die Tür, hat den reingeschoben. Der Eingang war dort vorne und wir sind dann rein gerannt.
Dagmar Hovestädt: Und es hat euch niemand aufgehalten?
Frank Ebert: Na ja davon waren nur glaube 2-3 Polizisten, die waren selber ein bisschen verdattert. Abgesehen davon hatten, ich glaube, Hans Schwenke und eben wahrscheinlich auch andere vom Bürgerkomitee, die hatten auch ein Ausweis.
Dagmar Hovestädt: Bürgerkomitee zur Auflösung der Stasi noch oder?
Frank Ebert: Ja zur Auflösung der Staatssicherheit. Wir reden ja vom September 1990.
Dagmar Hovestädt: Da war die Stasi an sich ja schon aufgelöst.
Frank Ebert: Na ja so richtig aufgelöst nun auch noch nicht, aber es war so, dass die quasi rein konnten und das war eben sozusagen die Chance für uns auch dann wirklich als nicht Berechtigte auch rein zu kommen.
Dagmar Hovestädt: Und die Idee ist wie entstanden, Micha?
Michael Heinisch: Einfach so per Zuruf, wie das damals sehr häufig entstanden ist, die eine kennt den eine, der andere kennt den anderen. Wir reden von einer Zeit vor den sozialen Medien, vor dem Handy. Man musste immer irgendwo hingehen klingeln, aber es waren so viele Adressen letztlich ja doch nicht, so dass hier die 21 waren wir, ich weiß es nicht ganz genau, kann sein.
Dagmar Hovestädt: Hab ich jetzt sozusagen in so einer Quelle gefunden, dass es 21 waren, können durchaus mehr oder weniger sein, über 20 waren es auf jeden Fall.
Michael Heinisch: Kann durchaus sein. In dem Dreh war das dann immer. Man trifft sich, man ist dann einfach da, wenn es darauf ankommt und wir haben ja damit gerechnet, dass es so ist, wie sonst immer. Unsere Erfahrung war ja, wir machen eine Aktion gegen Wahlbetrug oder gegen etwas oder für etwas und die Aktion dauert in der Regel nur wenige Sekunden, dann kommt Staatssicherheit, Polizei wie auch immer, wird uns abführen und uns in irgendein Gefängnis werfen, dann gibt es ein Verhör, eine Strafe und man wird wieder entlassen. Damit hatten auch wir jetzt gerechnet. Dass wir jetzt hier vier Wochen verbringen, das war ein echtes Problem.
Dagmar Hovestädt: Und ihr saßt da drin und das kriegt man ja einst so schnell gar nicht mit, dass 20 Leute sich hier plötzlich in einem Stockwerk festsetzen.
Frank Ebert: Es waren schon ein paar mehr sozusagen, die natürlich herkommen sind, versucht haben rein zu kommen. Es war natürlich nicht so einfach, dann Polizei ist natürlich dann hinterher, hat Leute wieder rausgetragen, rausgeschmissen sozusagen und da waren dann einige darunter, die auch aus der Opposition waren, wie Tom Sello, der ja auch noch mal hier redet und da haben wir eben Tom Sello, Wolfgang Rüddenklau und andere auch von anderen Gruppen haben eben genau vorne am Haupteingang dann die Mahnwache organisiert und damit eigentlich dann auch überhaupt erstmal für Öffentlichkeit gesorgt, weil natürlich konnte man dann, kaum waren mit drin im Haus, konnte man ja hier nicht mehr rein. Es wurde dann abgesperrt. Bei uns vor der Tür saß ja auch immer Polizei.
Dagmar Hovestädt: Also ihr konntet aus dem Raum auch nicht raus, ihr konntet nicht mal auf den Flur?
Frank Ebert: Am Anfang erstmal nicht.
Michael Heinisch: Nee, wir rechneten damit, wenn wir daraus gehen, dann kommen wir nie wieder rein, deswegen sind wir natürlich drin geblieben. Die Situation löste sich ja dann erst als es auch zu dialogischen Prozessen kam und deswegen irgendwann akzeptiert war quasi, wir sind jetzt die Besetzer, die ein berechtigtes politisches Anliegen vortragen und dann entspannte sich die Situation. Wir waren dann auch drin, aber hatten denn quasi deutliche Erleichterungen. Also die Objektpolizei, wie sie sich uns vorstellten, die brachten uns auch Decken und Matratzen zum Übernachten.
Dagmar Hovestädt: Solidarität von den alten Genossen.
Michael Heinisch: Ja, das war so ganz gemütlich auf einmal und wir konnten auch zu dringenden Angelegenheiten dann malrausgehen oder so und sind auch wieder reingekommen.
Dagmar Hovestädt: Schon am Tag danach, deswegen gehen wir mal kurz zur Seite, weil jetzt kommt noch ein kleines Filmchen, gibt es doch relativ prominenten Besuch bei euch und begleitet wird das Ganze von der aktuellen Kamera, der AK 2 DDR-Fernsehen, deswegen ist das auch eine ganz interessante Begegnung zwischen dem Gast, der euch da besucht. Film ab!
[Beitrag der Aktuellen Kamera]
Reporterin: Herr Biermann, die AK 2, eine Frage: Sie kommen hier jetzt zu den Hausbesetzern mit welchen Intentionen in dieser Situation?
Wolfgang Biermann: Ich will mich mit ihnen beraten über diese wichtige Frage, die mich ja nicht von oben herab interessiert, sondern in eigener Sache, denn von mir liegen ja auch viele Akten hier, in Klammern hoffentlich noch, hoffentlich sind sie nicht schon weggeschafft und ich halte diese Frage mit den Akten für sehr wichtig, denn wir wollen nicht wie die Eintagsfliegen leben. Wir wollen nicht dass ein Teil, ein wichtiger Teil, ein schmerzlicher Teil unserer Vergangenheit ausgelöscht wird. Ich selber habe nicht die geringste Lust diesen Dreck zu lesen, nur damit sie mich richtig verstehen. So sagte ich das auch Herrn Diestel gelegentlich, aber ich will auf gar keinen Fall, dass diese Akten vernichtet werden und ich bin der Meinung, dass die Opfer, die da bespitzelt wurden, das größte Recht haben mit diesen Akten umzugehen, wenn überhaupt, wenn sie es wünschen, ich nicht. Ich wünsche nur, dass das was mein Freund Robert Havemann betrifft, was mein Freund Jürgen Fuchs betrifft, was mich selber betrifft, dass diese Dinge nicht, wie man in Hamburg sagen würde, in die Grabbel kommen. Es mag Zeiten geben in Zukunft, wo aus politischen Gründen aber auch aus literarischen Gründen, aus Fragen der geistigen Kultur Geschichte dieses wichtige Materialien seinen könnten. Es gibt Leute, die zum Beispiel davon leben können, dass sie sich damit beschäftigen.
Reporterin: Historiker, Publizisten, Schriftsteller.
Wolfgang Biermann: Ja natrülich, die damit arbeiten können. Ich nicht, ich brauche es nicht, ich schreibe ja Lieder.
Reporterin: Aber sie halten es für einen Teil der Geschichte unseres Volkes, der nicht einfach vernichtet werden sollte?
Wolfgang Biermann: Ja ist doch klar, wir würden doch uns selbst ein Teil unseres Gehirns rausnehmen. Das ist doch ein Verbrechen. Man darf den Menschen, besonders denen die man gequält hat, nicht ihre Vergangenheit klauen und das ist ein Teil dieser Vergangenheit, ein schmerzlicher Teil, aber auch doch womöglich ein lehrreicher Teil. Man kann daraus ja auch Schlussfolgerungen ziehen, wie man sich in Zukunft besser wehren kann gegen solche Tendenzen. Das ist ja nicht sozusagen reine Lust alten Dreck zu lecken, ja. Aber dann gibt es außerdem noch soziale Fragen. Dort hinten am Tor krallte sich ein alter Mann fest an mir, der war gar nicht so alt, wie er aus sah. Der hat hier vier Jahre im Knast gesessen, ein einfacher Mensch.
Reporterin: Eine Frage der Wiedergutmachung...
Wolfgang Biermann: "Herr Biermann, wie komm ich an meine Akte ran? Ich krieg sonst keine Rente" und soll ich dem sagen: "Wissen Sie, Guter Mann, das ist für Sie nicht so wichtig!"?Nie im Leben.Für den ist es sehr wichtig. Der muss ich auch selber in die Hände kriegen. Ich meine nicht.
[Ende des Beitrages der Aktuellen Kamera]
Dagmar Hovestädt: Ich bin schon neugierig, erinnert ihr euch an den Tag, an dem Moment, an dem Besuch?
Michael Heinisch: Ja, klar erinnere ich das. Da kam denn Wolf Biermann und wir waren etwas erstaunt, weil alle anderen wurden nicht reingelassen, die auch noch zu uns rein wollten, mit besetzen wollen. Wolf Biermann wurde reingelassen.
Dagmar Hovestädt: Joachim Gauck auch? Der war kein Besetzer oder?
Michael Heinisch: Ja aber nur zu Besuch. Er musste wieder gehen. Während Wolf Biermann bleiben durfte, aber gut. So war es und ich erinnere auch das Zusammensein mit Wolf Biermann dort wirklich in ja sehr tiefgründiger Gesprächspartner für die verschiedenen Sachen. Mich hat es nur irgendwann genervt, weil egal welcher Impuls, ermacht ein Lied daraus und er glaubt doch, dass jeder das hören will immer zu jeder Nachtzeit, aber so war es und vier Wochen haben wir uns alle gegenseitig ertragen.
Dagmar Hovestädt: Er hat so darauf bestanden, dass er selber gar nicht in die Akten gucken wollte, das hat sich ja nicht so richtig bewahrheitet oder? Frank, du kannst dich doch daran erinnern, dass die Akten für ihn nicht ganz uninteressant waren.
Frank Ebert: Na ja was heißt erinnern. Ich denke, das weiß man auch heute, wenn man sich ein bisschen damit auskennen, was er so geschrieben hat, bezieht es sich ja sehr oft auch auf seine Stasi-Akten, aber damals war das ja auch gar nicht so wichtig für einen selbst. Also meine Intention war ja nun auch nicht unbedingt den Laden hier zu besetzen, weil ich der Meinung war, ich wäre so ein wichtiger Oppositioneller, ich kriege eine riesen Stasi-Akte jetzt geschenkt. Darum ging es ja gar nicht, sondern es ging natürlich, zumindest mir und auch anderen, das war durchaus auch ein Hauptanliegen. Es kam ja auch in dem Beitrag rüber. Also Biermann sagt das auch, mit dem alten Mann vor am Tor. Es ging um die Rehabilitationsmöglichkeiten der Leute, die im Knast gesessen haben. In den 50er Jahren hat man mal nicht einfach ein Jahr gesessen, da hat man mal 10, 15 oder 25 Jahre bekommen und dann ist man irgendwie in Russland verschwunden, tauchte irgendwann hier im Osten wieder auf und durfte nicht drüber reden und die meisten haben ja nicht darüber gesprochen und das waren die Leute, die zumindest für mich durchaus extrem wichtig waren, dass da was passiert.
Dagmar Hovestädt: Und ein Stück weit hat er ja da was artikuliert, dass man sich das eigene Hirn wegamputieren würde, würde man diese Akten einfach ignorieren und rauswerfen und in diesem Vereinigungsprozess schien das aber Gesamtdeutsch oder in beiden Staaten war es ja damals noch, zumindest auf der Westseite überhaupt nicht wirklich präsent zu sein und was daran vielleicht was mit verändert haben könnte, schauen wir uns im nächsten Film an. Danke erst mal bis hier hin für die beiden Besetzer von 21, heute vor 30 Jahren da im dritten Stock. [Applaus]Als nächstes kommt ein Kontraste Beitrag, der heißt "Unentdeckt in die deutsche Einheit".
[Kontraste Beitrag]
Moderator: Kontraste unterwegs im Ostberliner Pressezentrum. Wir suchen das Gespräch mit ehemaligen Stasi-Offizieren im besonderen Einsatz.
Reporter: Wir suchen einen Herrn Pirner.
Detlef Pirner: Pirner? Das bin ich.
Reporter: Das sind Sie?
Detlef Pirner: Ja.
Reporter: Sie sind hier angestellt beim Pressezentrum?
Detlef Pirner: Beim Pressezentrum.
Reporter: Es gibt Unterlagen, die aussagen, dass Sie Offizier im besonderen Einsatz sind.
Detlef Pirner: Naja, das war. Das ist aber natürlich vorbei.
Reporter: Aber Sie waren Offizier im besonderen Einsatz und bekennen sich auch dazu?
Detlef Pirner: Ja, warum sollte ich das verleugnen?
Moderator: Solch ein offenes Eingeständnis ist die Ausnahme. Mit den Stasi-Offizieren im besonderen Einsatz beschäftigt sich darum ein Volkskammer-Sonderausschuss.
Joachim Gauck: Das Staatssicherheitssystem war ja darauf aus, ständig mehr Sicherheit zu produzieren. So hat man dann eine besondere Personengruppe erfunden, die mit einer völlig unkenntlichen, die völlig unkenntlich in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens tätig waren, also im Grunde genommen getarnt. Sie waren Offiziere, aber waren ganz normale Mitarbeiter in einer Behörde oder in einem großen Betrieb.
Moderator: In einer geheimen Verschlusssache hatte Stasi-Chef Erich Mielke festgelegt, wie Offiziere im besonderen Einsatz – im Stasi-Jargon kurz "OibE" genannt – getarnt wurden. In dem Geheimpapier heißt es:Zur Einsatzlegende gehören: die vorbereitende Abstimmung zur Planung und Zuweisung einer Planstelle, die Erarbeitung von Personaldokumenten für den "OibE", die seine Zugehörigkeit zum MfS durch glaubhaften Nachweis anderer Tätigkeiten vollständig oder teilweise verdeckt.
Jürgen Haschke: Sie sind alle in den Stellen, die sie also aufgrund ihres Offiziersdienstgrades und ihres besonderen Befehls, alle sitzengeblieben und sitzen teilweise auch heute noch in diesen Stellen, weil es uns in der Kürze der Zeit einfach noch nicht gelungen ist, alle zu entfernen.
Moderator: So sitzen noch immer viele der getarnten Stasi-Offiziere in wichtigen Stellen der Betriebe, Universitäten, Ministerien oder Behörden. Viele Spuren der Stasi wurden inzwischen vernichtet. So hoffen sie darauf, weiter unerkannt zu bleiben, und auch nach der Länderbildung im geeinten Deutschland wichtige Posten zu besetzen.
Dagmar Hovestädt: Einer der beiden Autoren ist heute hier. Roland Jahn. Damals Redakteur des Senders Freies Berlin, heute Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen und auch Zeitzeuge hier am Ort. Wir eben mit den Besetzern ja gesprochen haben von drinnen, das ist ein Film der bundesweit im Fernsehen gelaufen ist und die Republik zum ersten Mal mit diesen verdeckt arbeitenden Stasi-Offizieren bekannt gemacht hat. Kannst du dich noch an die Reaktion erinnern? Hat das wirklich was bedeutet auch für den Westen, der sich vielleicht mit Stasi gar nicht so beschäftigt?
Roland Jahn: Ja unbedingt, es war ja und der Sendetermin der 11.09.1990. Genau zu dieser Zeit saßen die Besetzer oben im dritten Stock und wir haben schon auch in diesen Tagen als die Besetzung begann, gemerkt wie aufgeladen die Situation ist und das hat sich doch schon abgezeichnet auch bei den Recherchen. Immer wieder wurde auch darauf verwiesen auf die politische Diskussion: Was wird mit den Stasi-Akten? Wozu braucht man sie? Und es gab natürlich, wie man sieht, auch viele Leute, die Interesse hatten, dass die Stasi-Akten nicht geöffnet werden. Man hat gesehen, wie die elektronischen Datenträger vernichtet worden sind und da haben viele gehofft, dass sie unerkannt halt in die deutsche Einheit kommen und deswegen war es wichtig, dass diese Stasi-Akten erhalten bleiben und auch geöffnet werden.
Dagmar Hovestädt: Gab sozusagen eine neue Wahrnehmung des Themas Stasi überhaupt? Wurde das für die Leute auch dann plötzlich wichtig? Weil natürlich alle diese Ministerien mit dem dritten Oktober gesamtdeutsche Ministerien würden und diese Mitarbeiter dann weiter gearbeitet hätten. Hat das ein Stück weit einfach eine neue Sensibilisierung für die Wichtigkeit der Aufdeckung früherer Stasi-Strukturen? Damals waren sie ja noch bestehende Stasi-Strukturen. Das es wichtig ist für den Westen?
Roland Jahn: Na ja, es ging ja gerade auch um die Glaubwürdigkeit des öffentlichen Diensts, gerade die Frage, wenn man aufs Amt geht, den alten Kadern von damals begegnen, wird man Stasi-Leuten begegnen, die nicht erkannt werden und das war ja auch eine Zumutung für die Opfer, die im Gefängnis gesessen haben, wenn sie auf öffentliche Ämter gehen und deswegen war es wichtig, dass hier im öffentlichen Dienst der Bundesrepublik Deutschland, sprich auch in den östlichen Bundesländern, dann wirklich eine Glaubwürdigkeit für den öffentlichen Dienst an geschaffen wird.
Dagmar Hovestädt: Gut, die Frage ist immer noch nicht beantwortet. [lacht] Aber weil für Menschen im Westen, die ja sich mit Stasi gar nicht beschäftigt haben, hat das dann plötzlich dort eine neue Dringlichkeit geschafft für das Thema.
Roland Jahn: Ja, überhaupt die ganze Berichterstattung angefangen bei der Tagesschau, die wir gesehen haben, wo die Besitzer mit ihrem Anliegen dargestellt worden sind bis hin zu dem was dann in der Volkskammer stattgefunden hat, wo es auch um die Überprüfung der Abgeordneten ging. Es war ja eine Berichterstattung in den Medien in ganz Deutschland und da hat man schon gesehen, wie das den Leuten unter den Nägeln brennt, das man nicht einfach sagen kann: "Super, wir haben so viele Probleme im Land, jetzt mit dem Zusammenwachsen und der Wirtschaft, hört uns auf mit der Vergangenheit", sondern man hat gespürt, dass es ein ganz wichtiges Anliegen ist, das hier die Menschen in diese Akten schauen können und diese Losung jeden seiner Akte, das war ja sozusagen eine Losung der Besetzer und das war das was ja gefehlt hat im Volkskammergesetz als auch im Einigungsvertrag dann, dass die Betroffenen in ihrer genauer reinschauen können und nicht nur eine Auskunft bekommen. Man wollte nicht abhängig sein, davon was der Staat in dem Sinne dann die Bundesrepublik Deutschland so erlaubt, sondern dieser Anspruch, das sind unsere Informationen und das ist etwas, was dann durchgesetzt worden ist, das ist das Verdienst dieser Besetzung auch, dass wir heute oder dass heute jeder Bürgerin und jeder Bürger hineinschauen kann in diesen Akten, dass es einen Rechtsanspruch gibt und das ist durchgesetzt worden durch viele Akteure, sowohl die Besetzer aber auch einzelne Volkskammerabgeordnete, die das weiter vorangetrieben haben und dann auch im deutschen Bundestag die Abgeordneten die einen Stasi-Unterlagen-Gesetz geschaffen haben, was die rechtliche Grundlage seit fast 30 Jahren ist.
Dagmar Hovestädt: Kleine Abschlussfrage noch. Es war ja – auch für damalige Verhältnisse, heute wahrscheinlich noch schwerer vorstellbar – ziemlich rabiat, mit der laufenden Kamera in alle möglichen Ministerien zu gehen und diese Herren bei ihrer Arbeit aufzustöbern und sie vor laufender Kamera zu konfrontieren. Also einen Geheimdienst vor laufender Kamera zu enttarnen. Warum ward ihr beide damals der Überzeugung, dass man das ruhig so tun kann?
Roland Jahn: Ja, wenn ich heute die Bilder sehe, denke ich manchmal: Mensch, war das nicht zu dick, da diesen Mann im Postministerium so zu nageln? Aber auf der anderen Seite – es ging ja wirklich drum, die Leute aufzudecken. Wir hatten ja was in der Hand! Es war ja nicht irgendwo ein Verdacht, sondern wir hatten Dokumente in der Hand. Und hier für Aufklärung zu sorgen, dass war sozusagen das Bestreben. Das irre ist, dass selbst diese Offiziere im besonderen Einsatz am Ende sogar froh waren, dass wir endlich gekommen sind. Und Sie müssen sich vorstellen, der Offizier im besonderen Einsatz im Pressezentrum, der Verwaltungsdirektor dort, der am Ende gesagt hatte: "Ich will nicht mehr mit Ihnen reden!" – der hat mich 20 Jahre später am 11.09.2010 in der Redaktion 'Kontraste' angerufen und hat gesagt: Heute ist ein wichtiger Jahrestag. Genau vor 20 Jahren sind Sie zu mir gekommen und ich konnte mich damit auseinandersetzen und ich bin froh, dass Sie das offengelegt haben, damit ich diese Last nicht mehr trage." Und das fand ich das irre dran! Dass am Ende eine Revolution auch die Peiniger mit befreit. Und das ist das Schöne an der ganzen Sache. Das wir heute in einem einheitlichen Deutschland leben können, wo alle Grundrechte haben. Auch diejenigen, die damals die Grundrechte mit Füßen getreten haben.
Dagmar Hovestädt: Sehr schön, ein grundsätzliches Abschluss-Statement. Jetzt gehen wir ja tatsächlich wieder ein bisschen zurück in die Besetzer-Zeit und sehen uns die 'Tagesschau' vom 6. September 1990 an.Danke, Roland Jahn.
[Applaus]
[Jingle] Sprecher: Sie hören: Sprecherin: 111 Kilometer Akten – Sprecher: …den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
[Tagesschau-Sprecher:] Seit Tagen halten circa 30 Angehörige von Bürgerrechtsgruppen das ehemalige Stasi-Hauptquartier besetzt. Die Demonstrationen finden immer weniger Zulauf. Die Besetzer fordern, dass die Akten einzig in die Zuständigkeit der künftigen ostdeutschen Länder, nicht in die des Bundesarchivs fallen. Die Daten sollen für westliche Nachrichtendienste gesperrt sein. Das hat die Volkskammer auch so beschlossen, aber im Einigungsvertrag las es sich anders.In der Frage der Stasi-Akten geht es um mehr als nur Kompetenzstreitereien zwischen Bonn und Ost-Berlin. Für die Bürgerbewegungen steht die Glaubwürdigkeit der Vergangenheitsbewältigung auf dem Spiel. Eine Aufgabe, die nur die bisherigen DDR-Bürger etwas angehe. Die DDR-Regierung will die Forderungen der einstigen Vorkämpfer der Revolution gegenüber Bonn durchsetzen als Beweis für den viel zitierten "aufrechten Gang in die Einheit".
[Dagmar Hovestädt:] Dazu möchte ich jetzt gern die letzte Runde an zwei Zeitzeugen einladen. Sabine Bergmann-Pohl, die wir zum Auftakt schon gesehen haben als damalige Volkskammerpräsidentin und Tom Sello, der für die Besetzer hier in der Stasi-Zentrale, im Stasi-Archiv die Kommunikation, die Pressearbeit übernommen haben.Wie haben Sie diese Besetzung denn eigentlich erlebt und warum war das für Sie wichtig, gleich am Anfang sich mit diesen Besetzern zu solidarisieren und Sie hier in der Stasi-Zentrale zu besuchen?
Sabine Bergmann-Pohl: Also, als ich als Volkskammerpräsidentin vorgeschlagen wurde kam de Maizière zu mir und sagte dann: Wir müssen Sie ja überprüfen, ob Sie eine Stasi-Akte haben. Das wusste ich natürlich nicht. Und er sagte dann zu mir: Wer soll's machen? Ich sage: Na- -[Rückkopplung]
Dagmar Hovestädt: Huch!
Sabine Bergmann-Pohl: Ich glaube, wir stehen zu dicht beieinander.
Dagmar Hovestädt: Ja, okay.
Sabine Bergmann-Pohl: Jedenfalls hat er gesagt: Wer soll's machen? Ich sag: Ich kenn keinen. Na, machen Sie das doch! – Dann sagte er: Na ja, ich müsste aber noch zwei Leute mitnehmen. Ich sage: Ja, können Sie sich selber aussuchen und er nahm Gysi und Stolpe mit. [Dagmar Hovestädt lacht]Und hinterher erfuhr ich, dass ich eine Akte habe, wo – ja, angeblich Dinge drin stehen, die mich, sag ich mal, belastet haben, aus meinem engeren Umkreis. Und ich war natürlich selber daran interessiert, später mal in die Akte reinzugucken. Und für mich war es eigentlich nie eine Frage, dass die Akten geschlossen und im Bundearchiv verschwinden sollen. Also im Prinzip war das auch immer die Mehrheit der Volkskammerabgeordneten, hatte ich den Eindruck. Deswegen verstand ich zunächst einfach nicht, warum besetzen die jetzt die Stasi-Zentrale hungernd? Es gab ja auch ein paar, die gehungert haben.
Dagmar Hovestädt: Eine Woche später wurde es ein Hungerstreik.
Sabine Bergmann-Pohl: Genau.
Dagmar Hovestädt: Kannst du noch gleich erzählen, was die Strategie dahinter war, ja?
Sabine Bergmann-Pohl: Und das eskalierte dann etwas. Und auch durch das Handeln von Diestel. Dann hab ich gesagt, gut, ich wird mich da einschalten. Dann wurde ich erst zurückgehalten, also ich sollte da nicht zu schnell hingehen. Jedenfalls bin ich dann hingegangen, das haben Sie ja gesehen.
Dagmar Hovestädt: Genau, war gleich auch am ersten Tag. Das Handeln von Diestel – was meinen Sie damit? Von dem Innenminister damals?
Sabine Bergmann-Pohl: Ja, na die Polizeiabsperrungen hier und die Behandlung der Besetzer, weil- -
Dagmar Hovestädt: Es gab eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, ne? So. Okay.
Sabine Bergmann-Pohl: Genau, genau. Und ich hab also gedacht: Wir wollen doch Demokratie gestalten und da können wir doch nicht mit Polizeigewalt die Leute dort bedrängen, die eigentlich ein ganz berechtigtes Anliegen haben.
Dagmar Hovestädt: Und da haben Sie auch Frank und Micha getroffen. Frank Ebert und Michael Heinisch.
Sabine Bergmann-Pohl: Ja, das war ganz komisch. Ich hatte auch Herrn Ullmann noch mitgenommen von Bündnis 90/Die Grünen und wir gingen also gar nicht erst mit Presse rein sondern wir gingen allein rein zu den Besetzern. Und da lag jemand vor mir auf so einem Aufstellbett und hatte die Decke über den Kopf gezogen und ich hab immer zu ihm gesagt: Sagen Sie mal, wie soll ich mich mit Ihnen unterhalten wenn Sie die Decke nicht vom Kopf nehmen?Also es war auch nicht unbedignt2 die Bereitschaft da, mit uns zu reden. Weil wir offensichtlich für sie auch so ein bisschen Staat oder ich weiß es nicht, warum.
Dagmar Hovestädt: Also durchaus so eine gewisse Zurückhaltung, sich mit- -
Sabine Bergmann-Pohl: Wir haben aber dann – wir haben dann miteinander gesprochen und ich hab natürlich auch gesagt, dass wir das Versprechen abgeben, dass die Unterlagen gesichert werden. Es wurde ja auch am 24. August ein Gesetz verabschiedet zur Sicherung der Daten der Staatssicherheit und des AfNS und insofern war es eigentlich die Mehrheit der Volkskammer, die auch diesen Willen hatten, die Akten auch hier zu behalten.
Dagmar Hovestädt: Ja. Tom Sello, damals eigentlich schon den Besetzern zugehörig, aber nicht besetzend im Haus sondern nicht drinnen bei den 21 sondern davor. Und dann auch mit der Überlegung zu sagen: Ich helf' euch zu organisieren, euer Anliegen zu kommunizieren. Also Pressesprecher von der Besetzung. Wie bist du an diesen Job gekommen?
Tom Sello: Also Pressesprecher ist ein bisschen zu viel gesagt. Ich würde sagen vielleicht Öffentlichkeitsarbeit. Aber ich war bei der Besetzung dabei und gehörte zu denen, die von der Polizei rausgetragen wurden, sozusagen was Frank vorhin berichtet hatte. Also, das waren noch vier, fünf Leute mehr, die dann eben nicht mit in dem Gebäude drinne geblieben sind. Wir sind dann hier vom Gelände weg, da war das Fenster oben offen, die Besetzer waren drinnen und merkten: Wir sind drin und keiner kriegt was mit! Und deshalb kam die Anweisung von oben: Macht was, dass das überhaupt wahrgenommen wird. Und das haben wir dann versucht.Man muss sich das vorstellen, man hat das ein bisschen bei den Bildern gesehen. Das Wetter war nicht wie jetzt im Moment sondern eher wie heute Morgen und das über mehrere Tage so. Die Ausrüstung für die Öffentlichkeitsarbeit – das konnten Sie vorhin auch auf dem Foto sehen – bestand eben zuerst aus einer NATO-Plane und mehr war das nicht. Und nach und nach ist das immer mehr geworden. Es kam ein DRK-Zelt dazu und dann ein zweites. Schlafsäcke.Es war dann wie das manchmal so passiert, aber durchaus nicht üblich war, doch schnell eine große Solidarität aus der Bevölkerung wahrzunehmen. Die brachten Getränke, die brachten Essen, die Schlafsäcke und so weiter. Also für die Mahnwache, die sich dann hier in der Ruschestraße vor dem Tor etablierte. Aber auch für die Besetzer, die drinnen waren und in der ersten Zeit – soweit ich mich erinnere – nicht raus konnten, weil sie auch Angst hatten, ob sie wieder rein kommen. Wir selbst, die rausgeflogen waren und von der Mahnwache, hatten auch keinen Zugang mehr. Der Austausch konnte dann erst wieder stattfinden - man muss dran denken es war nix mit Handy oder irgendwelchen Telefonen – als von den Besetzern welche wieder rauskommen konnten zu uns. Und dann konnten auch wieder Absprachen stattfinden.
Dagmar Hovestädt: Wie ist es denn dann gelungen aufmerksam zu machen auf die Besetzung? Bis hin – ne, es gab diesen kurzen Draht zur Volkskammer – na, Tagesschau, es gab Berichte dann darüber, es ist nicht ganz im Verborgenen geblieben. Aber was war denn überhaupt wichtig oder wie wolltet ihr die Leute aufmerksam machen und vor allen Dingen: auf was? Worum ging es im Kern dann?
Tom Sello: Sagen wir mal so: Also Medien über einen Zeitraum von knapp vier Wochen immer wieder dazu zu bringen, dass die darüber berichten, das war keine einfache Sache. Und auch der eine Kommentar von Klaus Richter hat das vorhin schon gesagt: Es werden immer weniger Leute, die denn kommen. Also das waren auch nicht jeden Tag tausende vor der Tür, also das war schon eine Herausforderung.Eine Idee war eben auch, eine öffentliche Veranstaltung, ein Konzert stattfindet. Ein Lkw wurde zur Bühne umgebaut, dort hat dann Biermann gesungen. Da fanden dann aber auch Diskussionen statt, wo die verschiedenen Positionen zu der Problematik dargelegt wurden. Also das war eine Öffentlichkeit, die auf diese Art und Weise geschaffen wurde.Und dann war die Überlegung: Wir wollen die Bevölkerung aufrufen und sagen es soll jeden Tag eine Demonstration stattfinden. Wann sollte das sein? Na ja, muss unbedingt nach der Arbeitszeit sein. Also täglich 17 Uhr oder 18 Uhr, ich weiß es nicht mehr genau, und denn kamen auch immer Leute. Es gab dann selbst als die Besetzer dann rausgegangen waren, hat die Mahnwache weiter agiert und dann gab es noch eine lustige Aktion.
Dagmar Hovestädt: Der 28. September war glaube ich das offizielle Ende der Besetzung. Sabine Bergmann-Pohl hat eben gesagt es gab durchaus Vorbehalte gegen alles, was staatlicherseits angeschoben wurde und ob man sich darauf verlassen konnte. Hast du das auch so erlebt?
Tom Sello: Also ich will mal nur von mir reden. In mir war ein grundsätzliches, tiefes Misstrauen gegen staatliches agieren. Das kann ich jetzt im Rückblick sicher einordnen. Das kam aus den Erlebnissen, den Prägungen aus DDR-Zeiten her, aber auch – wir haben das gerade erlebt – also auch die neuen Staatsvertreter, der unsägliche Diestel, die machten es auch nicht gerade einfach das Vertrauen aufzubauen. Das hat bei mir noch Jahre gedauert.Das ist der eine Punkt. Der andere waren die Signale – also ich beziehe mich mal nur auf das Thema Stasi-Akten – das andere waren die Signale, die aus dem Westen kamen, von der Politik aus dem Westen. Wo also die herausragenden Vertreter – also Kohl, Schäuble und andere – aber auch eben ostdeutsche Politiker – Krause, Diestel hab ich gerade schon gesagt und andere – jeweils eben deutlich machten: Darin soll man lieber gar nicht rühren, an dem Thema. Das bringt nur Unglück, Mord und Totschlag und was weiß ich nicht alles prognostiziert wurde. Das waren natürlich auch alles Positionen, die das Misstrauen auch entsprechend verstärkt hatten.
Dagmar Hovesädt: Als die Ergänzungsklausel zum Einigungsvertrag gekommen ist, waren Sie da sicher das ist jetzt geregelt? Das gesamtdeutsch. Und das war ja auch was für die Volkskammer nicht unwichtiges. Das ganze Land hat ja sich solidarisiert, durchaus in verschiedensten Formen, mit den Besetzern hier. Hatten Sie Zutrauen, dass die Akten-Öffnung in dem vereinten Deutschland stattfinden wird?
Sabine Bergmann-Pohl: Also ich glaube, es ist ganz interessant dann auch, wenn man mal in die Protokolle der Volkskammer-Sitzungen rein sieht. Da erkennt man auch den Willen der Mehrheit der Volkskammer Abgeordneten, dass genau das passiert. Also durch das Gesetz der Sicherung, was ich eben angesprochen habe, und das im gesamtdeutschen Bundestag dann ein Stasi-Unterlagen-Gesetz verabschiedet wird. Herr Gauck war ja auch ein starker Vertreter. Aber es war schon so, dass wir ein bisschen Druck ausüben mussten. Also Herr Sello hat völlig recht, der Druck war von der Bundesseite aus sehr groß mit den Argumenten Mord und Totschlag und keiner weiß ja richtig, was in den Akten steht und das ist nichts für die Öffentlichkeit und so weiter. Und wir waren eben anderer Meinung, einfach aus unserem eigenen Erleben heraus und insofern hab ich eigentlich vertrauen gehabt in den ersten gesamtdeutschen Bundestag, dass das auch so verabschiedet wird. Und es ist ja dann auch Gott sei Dank auch so gekommen. Und der erste Bundesbeauftragte war ja Joachim Gauck, der ja vorher auch für dieses Zierl maßgeblich mitgekämpft hat.
Dagmar Hovestädt: Der 3. Oktober ist Tag der deutschen Einheit. Der Sonderbeauftragte beginnt seine Arbeit und es dauert eigentlich gar nicht viel mehr als ein gutes Jahr, das Jahr '91, um das Stasi-Unterlagen-Gesetz zu schreiben und zu verabschieden und in Kraft treten zu lassen. Also insofern hätte man auch in einem Jahr schon halbwegs Vertrauen haben können; zu mindestens, dass die Akten-Öffnung gelingt.
Tom Sello: Ich hab mal Jürgen Fuchs gefragt.
Dagmar Hovestädt: Den Schriftsteller und- -
Tom Sello: Zu diesem Thema und gesagt: Sag mal, wie lange dauert denn das eigentlich, bis man irgendwie mit diesem System und zwar mit allem überhaupt klarkommt. Dass man da sozusagen sich normal im Alltag bewegen kann. Und er hat mir eine Prognose gesagt von sieben Jahren. Also damit musste ich schon rechnen. Und Roland Jahn hat zu der Zeit schon- -
Dagmar Hovestädt: Sechs Jahre.
Tom Sello: …sechs Jahre hinter sich gehabt. Da war das so ein bisschen anders. Bei mir war es eben nicht so. Und um es ganz klar zu sagen: Ich wollte auch nicht nur die Stasi-Akten öffnen sondern ich hätte es auch richtig gefunden, wenn man die westdeutschen Geheimdienste auch gleich noch mit abgeschafft hat und die Akten auch aufdeckt.
Dagmar Hovestädt: Das waren ja einige, die das wollten.
Tom Sello: Ich will das sozusagen auch, um die ganzen Dimensionen zu beschreiben. Und da sind auch einige andere mit dieser Idee angetreten, von den 25-26 Leuten, die hier reingegangen sind. Diese Geheimniskrämerei.Und man muss sich vielleicht auch nochmal vergegenwärtigen: Also wir haben jetzt hier einen 'Kontraste'-Beitrag gesehen. Das war nicht die übliche Medienberichterstattung zu der Zeit! Und auch Frau Bergmann-Pohl. Die Diskussion in der Volkskammer da habe ich bei dem Thema auch nicht die Mehrheit auf Ihrer Seite gesehen, sondern das war ein hartes Ringen ob es da um die Aufdeckung derjenigen geht, die für die Stasi gearbeitet haben. Also das waren alles so Sachen! Über Justiz, über Polizei, über Bildungssystem – da gab es nichts sozusagen an öffentlicher Auseinandersetzung und Wahrnehmung. Und man muss sich sozusagen das vorstellen, dass jetzt also auch noch die Stasi – das soll alles weggepackt werden!Ich weiß nicht, wer von Ihnen die Regelungen parat hat, die Das Bundesarchivgesetz betreffen. Wir hatten damals nur Hörensagen-Informationen von Bekannten. Und die besagten: Akten dieser Art, die im Bundesarchiv gelagert werden und deren Bestimmungen unterliegen, die sind Jahrzehnte geschlossen. Und da war der früheste Zeitraum 30 Jahre. 30 Jahre! Das würde bedeuten jetzt würden wir anfangen, in die Stasi-Akten zu gucken und umzugehen.Und wenn man sich überlegt, war sozusagen in diesen drei Jahrzehnten passiert ist, kann man sich eine ungefähre Vorstellung machen. Also, eine Situa- -
Dagmar Hovestädt: Das ist schon gut, dass ihr damals gekämpft habt für den sofortigen Zugang.
Tom Sello: Eine Situation, die- -
Sabine Bergmann-Pohl: Herr Sello, darf ich mal- -
Tom Sello: Ja, und bitte.
Sabine Bergmann-Pohl: …eine Gegenrede sagen!? Also, Sie machen da einen Vorwurf an die Volkskammer. Also, bedenken Sie mal: Wir waren sechs Monate und haben in sechs Monaten 164 Gesetze verabschiedet und erarbeitet. Und drei Staatsverträge. Was denken Sie? Wir waren ständig von morgens bis abends wirklich, sag ich mal, unterwegs und der Vorsitzende, Herr Haschke, hat mir gesagt – darum haben wir auch erst in der vorletzten Sitzung, glaube ich, die Namen der Stasi-Leute in unserer Volkskammer genannt oder beziehungsweise veröffentlich – der hat zu mir gesagt: Wissen Sie, ich weiß heute noch nicht, ob alle Namen, die wir jetzt hier haben, wirklich auch Täter oder Opfer sind, weil auch Vermischungen da waren. Er sagt auch der Aufbau der Akten. Die waren in den Bezirks- -
Dagmar Hovestädt: Verwaltungen?
Sabine Bergmann-Pohl: In den Bezirken, haben dort Akten gesucht und so weiter. Die haben wirklich Tag und Nacht gearbeitet. Und es ist nicht ganz gerecht dann zu sagen, das ist nur so halbherzig gemacht worden.Und ich kann Ihnen auch sagen, warum ich mich dann geweigert habe, die Namen zu nennen. Also, wir haben bis morgens um halb vier oder so im Präsidium gesessen und das Präsidium hat mehrheitlich also zu mir gesagt: Sie sagen morgen in einer geheimen Sitzung die Namen. Da wusste ja jeder, also dass das nicht geheim bleibt sondern dass die Presse draußen schon lauert und dass die ersten Namen, die Sie da nennen, sowieso schon bei der Presse sind. Und diese Aussagen von Herrn Haschke, die haben mich sehr nachdenklich gemacht und ich hab meinem Mann dann morgens gesagt: Ich werd die Namen nicht nennen, weil ich weiß, sie gehen sofort an die Presse. Und genau das ist passiert und es ist zu Namensverwechslungen gekommen. Und ich habe auch bittere Briefe nachher bekommen. Ich bin auch angegriffen worden von der Presse, dass ich die Namen nicht verlesen habe, aber Herr Ullmann hat sie dann verlesen.Also, ich sag mal: Wir standen ja auch unter einem unglaublichen Druck dort. Und wenn Sie so in der Öffentlichkeit stehen und auf so etwas nicht vorbereitet sind, dann überlegen Sie sich wirklich zehnmal, ob Sie das oder jenes eben so machen. Das ist eine ganz andere Situation, als wenn Sie Bürgerre4chtler sind und auf die Straße gehen und demonstrieren. Ne? Das ist schon klar. [lacht]
Dagmar Hovestädt: Wir sind eigentlich tatsächlich sogar schon mittendrin in dem, was dann in den 30 Jahren danach verhandelt wurde. Nämlich wer hat wie für den Staat, für die Stasi gearbeitet, gehandelt? Wer war hauptamtlicher, inoffizieller? Wie gehen wir heute damit um? Das hat in der Volkskammer Ende September 1990 schon begonnen.Danke beiden Zeitzeugen für das, was sie in diesen Zeiten vor genau 30 Jahren mit bewirkt haben. Dass wir heute hier stehen können und jeder, der das möchte, seine eigene Akte oder das Wirken der Stasi durch einen Antrag beim Stasi-Unterlagen-Archiv sozusagen nachvollziehen kann. Und wir 30 Jahre später aus der Geschichte in dem Sinne die Chance haben zu lernen. Danke.
[Applaus]
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war der Mitschnitt einer Veranstaltung im Areal des Stasi-Unterlagen-Archivs in Berlin-Lichtenberg am 4. September 2020, exakt 30 Jahre nach dem Sturm auf die hier befindliche Stasi-Zentrale. Wen haben wir gehört, Dagmar?
Dagmar Hovestädt: Das waren zuletzt Sabine Bergmann-Pohl, die vor 30 Jahren Präsidentin der letzten und einzig frei gewählten Volkskammer der DDR war und Tom Sello, vor 30 Jahren Teil der Besetzung des Stasi-Archivs, heute Berliner Beauftragter für die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Maximilian Schönherr: Die haben sich ein bisschen gestritten, die beiden, ne?
Dagmar Hovestädt: Ja, da konnte man merken, dass der Konflikt immer noch relativ aktiv ist, ne. Dass immer noch dieses Verhältnis zwischen 'Wir habend das Beste getan, was wir tun konnten' und 'Aber wir konnten euch nicht vertrauen und ihr wolltet eigentlich nicht wirklich das, was wir wirklich wollten' – ne, das lebt immer noch in denen fort. Ja, das fand ich auch interessant.Dann davor war Roland Jahn dran, damals Journalist für die ARD und heute Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.Und die Erinnerung an die Besetzung des Stasi-Archivs vor 30 Jahren begann mit einem Gespräch mit zwei der Besetzer, die in einem Archivgebäude dann für fast vier Wochen ausgeharrt haben. Das waren Michael Heinisch, heute unter anderem Sozialmanager und Vorsitzender eines sozial-diakonischen Vereins in Berlin, und Frank Ebert, heute Mitarbeiter der Robert-Havemann-Gesellschaft in Berlin, die unter anderem das Archiv der DDR-Opposition unterhält.
Maximilian Schönherr: Vier Wochen ausharren dort – wie die wohl verpflegt wurden? Das müssen wir mal demnächst besprechen.
Dagmar Hovestädt: [lacht] Genau.
Maximilian Schönherr: Es ist jedenfalls alles nachzulesen auf bstu.de/podcast.
Dagmar Hovestädt: Bleibt nun, wie immer unser akustischer Blick ins Archiv.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich mit meinen Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Wir hören heute einen Ton aus Gera und zwar den IM-Bericht eines Taxifahrers über Meinungen zum Schwangerschaftsabbruchgesetz. Bei Wikipedia konnte ich lesen, dass Anfang 1972 der Beschluss der Volkskammer über das 'Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft' geschlossen wurde. Und interessanter Weise ist dieses Gesetz in der Geschichte der Volkskammer, die nicht einstimmig ausfiel, da es 14 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen gab.Von den 77 Minuten, die auf der Kassette zu hören sind, hören wir jetzt den Ausschnitt von ungefähr 2:40 Minuten.
Es ging um Betreffs des – äh – Schwangeren-äh-Gesetzes, welsches [welches] ab 01.01. – äh - _72 in Kraft ist. Im Rat des Kreises, Abteilung Gesundheitswesen gibt es unter den Angestellten und auch seitens des Kreis-Hygienearztes solsche [solche] Meinungen, dass man es [betont: nicht] für richtig hält, äh – dieses Gesetz so ohne weiteres auf alle anzuwenden. Und das – äh – zu Beispiel so 'ne Möglichkeit besteht, dass die Frauen halbjährlich erscheinen könn'n, um also eine Unterbrechung – äh – durchzuführ'n. Das würde dazu führ'n, dass eene [eine] Reihe asoziale un-und sexuell veranlagte Mädchen – äh – jährlich mehrmals – äh – zu solschen Unterbrechung'n erschein'n würden. Dass das unkontrolliert wäre, äh – dass das das Gesundheitswesen belasten würde und – äh – man müsste doch hier eine entsprechende vernünftischere [vernünftigere] Lösung finden.In da [der] Konsumverkaufsstelle 609 – äh – unterhielt ich mich mit mehrer'n Verkäuferin'n, so unter anderem mit Kollegin [anonymisiert] und [anonymisiert], die zum Ausdruck brachten, dass sie das Gesetz so, wie es angewendet wird, auch nischt für rischtig [richtig] hielten. Äh – es würden doch auf Staatskosten dort die Unterbrechung' durchgeführt. Diejenigen Person'n, meist wären es ja asoziale und sogenannte Nutten, äh – würden – äh – noch krankgeschrieben uff [auf] Staatskosten. Äh – die Operation wäre noch kostenlos und das wäre doch letzten Endes nicht im Sinne unsres Staates. Diese Gelder müssten doch alle erarbeitet werden und könnten besser – äh – genützt werden.Es is' also insgesamt einzuschätzen, dass dieses Gesetz nicht grundlegend abgelehnt wird, äh – aber dass doch – äh – bei verschied'nen Personenkreisen - äh – hier differenziert – äh – diese Probleme zur Anwendung komm'n müssten un-und das also nich' – äh – so, wie es zur Zeit ist, äh – für alle Mädchen für gut geheißen wird.
[schnelles Tonspulen][Jingle]Sprecher: Sie hörten:Sprecherin: "111 Kilometer Akten –Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Video auf der Webseite des MDR über einen Besuch des Liedermachers Wolf Biermann bei den Besetzern der Stasi-Zentrale.
MehrDie Bundeszentrale für politische Bildung mit einem Bericht über die Offiziere im besonderen Einsatz.
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