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Der "Fall Kohl"
Als "Fall Kohl" bezeichnet man den Rechtsstreit zwischen Helmut Kohl und der Bundesrepublik Deutschland um die Herausgabe von Stasi-Unterlagen über Kohl.
MehrGünter Bormann, Quelle: BStU
Günter Bormann arbeitet seit 1993 beim BStU und ist heute Justiziar des Hauses. Er begleitete unter anderem einen langjährigen Rechtsstreit, bei dem Altkanzler Helmut Kohl vor 20 Jahren die Herausgabe von Stasi-Unterlagen zu seiner Person verhindern wollte. Bormann war auch an Arbeiten zur Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetz beteiligt. Ihn bewegen Fragen zur Staatskriminalität und staatlichem Unrecht.
[Intro]
Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ..ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Dagmar Hovestädt: Hallo zu einer neuen Folge des offiziellen Podcasts zum Stasi-Unterlagen-Archiv. Ich bin Dagmar Hovestädt und verantworte die Presse- und Online-Kommunikation.
Maximilian Schönherr: Und ich bin Maximilian Schönherr, Journalist und bereite gerade für das SWR2 Archivradio ein Projekt über die "operative Psychologie" vor. Ist dir natürlich ein Begriff.
Dagmar Hovestädt: Die "operative Psychologie", tatsächlich, ja!
Maximilian Schönherr: Dahinter steckt die Juristische Hochschule in Potsdam. Ich glaube, die war so teilweise geheim. Also niemand durfte wissen, was da passiert. Aber alle wussten, dass sie da war.
Dagmar Hovestädt: Ja, sie hat sich ja Juristische Hochschule genannt, damit sie nicht MfS-Hochschule heißt, also sie war so halb im öffentlichen Bereich. Aber2 keiner sollte wissen, dass sie eigentlich zum MfS gehörte.
Maximilian Schönherr: Und ist eigentlich so ein bisschen entstanden aus einem Minderwertigkeitskomplex von Mielke. Mielke dachte, ich bin selber so ein Bauer, dass ich jetzt eigentlich nicht mal an der Hochschule war. Also, das darf man jetzt eigentlich nicht offiziell so sagen! Das ist historisch nicht präzise, aber jedenfalls- -
Dagmar Hovestädt: Nee, aber es entsprang schon dem Wunsch, der Arbeiterklasse - schließlich waren am Anfang besonders viele Menschen ohne größere Vorbildung in das Ministerium gegangen - eine quasi, dem Anschein nach zumindest, akademische Ausbildung zu geben und damit auch die Arbeit der Geheimpolizei zu professionalisieren.
Maxmimilian Schönherr: Jedenfalls habe ich eine harmlose Anfrage bei deinem Archiv, bei eurem Archiv gestellt und bekam 130 Stunden zum Thema Psychologie offeriert, wovon ich dann zusammen mit Elke Steinbach vom Audiobereich im BStU, in drei Tagen Arbeit gut 24 Stunden herausdestilliert habe, die kommen dann im Archivradio auch. Ich wollte nur sagen, ich tauche immer wieder ins Stasi-Archiv ein und komme dann immer geläutert wieder heraus. [Hovestädt lacht] Elke Steinbach beschließt im Übrigen jede unserer Podcast-Folgen mit einem Original-Ton aus dem Archiv, den sie ohne Wissen über den Inhalt dieses augenblicklichen Podcast aussucht. Wollen wir vom heutigen schon was verraten?
Dagmar Hovestädt: Na gut, aber nur, weil es neugierig machen soll auf das Ende.
[Archiv-Ton von Horst Böhm:] ... den Kirchentag auszunutzen und dort Pazifismus oder andere Feindtätigkeit vom Stapel zu lassen.
Maximilian Schönherr: Ja, sollen wir mal kurz klären, warum wir diesen Podcast eigentlich den "offiziellen des Stasi-Unterlagen-Archivs" nennen?
Dagmar Hovestädt: Na ja, aus meiner Perspektive war es eigentlich eher so ein kleiner Gag. Weil die Akten sind ja aus der Perspektive des Stasi-Unterlagen-Gesetzes offen für jeden. Also kann eigentlich jeder, der unter den Bedingungen des Gesetzes an diese Akten herankann, mit ihnen arbeitet, selber die Geschichten erzählen, die er aus diesem Archiv rausholt. Aber weil es dann eben nur quasi eine offizielle Version gibt, sollte das Ding hier eben der "offizieller Podcast" heißen. Mit so einem kleinen Augenzwinkern, in der Hoffnung, dass viele das auch nachahmenswert finden.
Maximilian Schönherr: Ja, aber mit der Rückendeckung des Bundesbeauftragten und mit dir als Co-Host ist es aber tatsächlich schon irgendwas Offizielles. Das merke ich auch bei der Arbeit an diesem Podcast. Wenn ich Gespräche - und auch das heutige - mit einem Hintergrundwissen, aber eher spontan und aus dem Bauch heraus angehe, schleichen sich natürlich Ungenauigkeiten ein. Die hörst du sofort. Und dir fallen auch zu jedem Spezialthema weitere Gesprächspartner ein, weil du den Laden einfach gut kennst. Und die können wir dann vielleicht in zukünftigen Podcast auch dann einsetzen. Und der heutige ist im Büro direkt neben, unter oder über dir?
Dagmar Hovestädt: Direkt über mir, noch im achten Stock. Das ist nämlich unser Justitiar. Das hat mich schon gewundert. Das war ja dein Wunsch, sich mit ihm mal zu treffen. Was hat dich eigentlich an unserem Justitiar so interessiert?
Maximilian Schönherr: Also, weil ich mich mit Juristerei überhaupt nicht auskenne. Und die Juristen in den großen Behörden wie auch beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, wo ich quasi zu Hause bin, in der Regel nie nach außen treten. Die sind ja nie in der Presse. Die halten auch nur ungern und sehr selten Vorträge. Aber sie wissen sehr, sehr viel und tief aus dem Inneren. Und von Günter Bormann, eurem Justitiar, kannte ich tatsächlich einen kleinen Aufsatz, über die Kriminalität von Staaten. Als Nicht-Jurist hatte ich das Wort Staatskriminalität noch nie gehört. Du?
Dagmar Hovestädt: Ja, man kann ja nicht in diesem Archiv arbeiten, ohne mit dem Wort in Berührung zu kommen. Aber ich habe mich auch in den letzten Jahren verstärkt nochmal um den internationalen Kontext von Aufarbeitung von Unrecht und der Rolle von Archiven darin beschäftigt. Dann kommt man da gar nicht ohne diesen Begriff aus, weil es sich ja immer um von Staatswegen begangene Kriminalität, also um "state crimes" handelt. Und das ist schon ein bisschen schwieriger, das in eine Reihe zu stellen, weil das immer sehr unterschiedliche Intensitäten von Gewalt und Unrecht sind. Aber aus dieser internationalen Rechtslehre gesehen, geht es eben um "state crimes", wenn es zum Beispiel um die Ahndung von Genozid geht oder auch die Repression in Militärdiktaturen. Wenn Menschen verschwunden werden, deshalb "Desaparecidos" in Lateinamerika, oder eben auch um das Unrecht kommunistischer Diktaturen anzugehen. Dann ist in diesen Systemen immanent Unrecht eingebaut, die systematische Verletzung von Menschenrechten. Und das ist ja eine eher philosophische, systemimmanente Frage, dass das eingebaut ist und deswegen ist eben der Begriff Staatskriminalität, von Staatswegen begangene Kriminalität, in diesen übergeordneten Kontexten ganz normal oder üblich.
Maximilian Schönherr: Aber wir kommen jetzt zum Justitiar des BStU. Und da gibt es online glaube ich auch, einen Kurzvortrag von diesem Günter Bormann, so heißt er, wo es um das mühsame Zusammensetzen zerrissener Stasi-Zettel ging. Damit fing ich auch das Gespräch mit ihm auch an. Hast du das auch miterlebt?
Dagmar Hovestädt: Ich hab das nicht persönlich miterlebt, sondern wir haben bis heute ja etliche tausende und tausende von Säcken mit zerrissenen Unterlagen.
Maximilian Schönherr: Immer noch?
Dagmar Hovestädt: Na ja bis heute haben wir immer noch ungefähr 15.000 in einer Größenordnung an Säcken. Mit wirklich von Hand zerrissenen Unterlagen, die die Stasi vernichten wollte. Durch Prozesse wie verbrennen oder auch vor allen Dingen verkollern. Also mit Wasser versetzen und [damit die Unterlagen] wirklich zerstören und unleserlich machen. Und diese größere Menge an vernichtetem, aber eben noch erhaltenem Material oder zerrissenem und erhaltenem Material, stammt aus der Friedlichen Revolution und weißt schon darauf hin, dass die Stasi Unterlagen vernichten wollte, die sie besonders in die Bredouille bringen. Aber da gehören auch - das haben wir in einer neueren Untersuchung festgestellt - Unterlagen mit dazu, die sie sowieso regelmäßiger auch aus dem Verkehr gezogen hat. Auch die Stasi hatte Platzprobleme oder Dinge in mehrfachen Kopien und musste sich von Sachen befreien. Tatsächlich aber ist in der Friedlichen Revolution in sehr starkem Maße vernichtet worden. Eben um die Unterlagen, die man auch als Belege für Menschenrechtsverletzung sehen könnte, zur Seite zu bringen. Und Günter Borrmann ist ja schon sehr lange bei uns beschäftigt. Das wird man noch erfahren. Deswegen hat er sich auch in vielen Zusammenhängen schon mal eingebracht. Und da er die Geschichte des Zusammensetzens dieser zerrissenen Unterlagen erklärt und die haben wir in Mitte 90er Jahren unter Anleitung unserer Archivare nach Zirndorf verlagert. Das war eine kleine Gruppe an Bundesbediensteten, die dort in einer Migrationsbehörde waren, die aber ein Überhang an Mitarbeitern hatte. Das erklärt er dann noch ein bisschen genauer. Und ich finde das ganz wichtig, er hat da sozusagen gesagt, wir hätten uns da eine eigene Konkurrenz geschaffen. Aber natürlich waren die auch dem Stasi-Unterlagen-Gesetz verpflichtet und haben das im Rahmen unserer archivischen Tätigkeit quasi unterstützend für uns gemacht.
Maximilian Schönherr: Zirndorf, Mittelfranken.
Dagmar Hovestädt: [lacht] Das hört sich so an, als würden bei dir da ein paar Heimatglocken klingen.
Maximilian Schönherr: Nicht ganz, aber fast ja.
Dagmar Hovestädt: Ja, also da kann ich nur sagen: Sage noch einer Juristen sind dröge.
Vorhang auf für euer Gespräch!
Maximilian Schönherr: Gut, stellen Sie sich vielleicht gerade mal vor, was Sie tun und was Ihre Funktion ist.
Günter Bormann: Ja, schönen guten Tag, mein Name ist Günter Bormann. Ich bin Jurist beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Ich arbeite seit 1993 bei dieser Behörde. Also sozusagen im Jahr zwei der Akteneinsicht habe ich hier in dieser doch spannenden und sehr besonderen Behörde angefangen. Ich komme aus dem Westen, das muss man gleich dazu sagen. 90 Prozent oder mehr Mitarbeiter sind hier aus dem Osten. Ich gehöre zu den juristischen Spezialisten, bei denen man zu recht sagte, man brauch auch ein bisschen juristische Kompetenz für diese Behörde. Und ich kann auch nur sagen, jetzt fast 30 Jahre später, das war eine gute und richtige Entscheidung und eine ganz spannende Tätigkeit.
Maximilian Schönherr: Okay, ich möchte mal etwas fragen, was ich bis vorgestern noch nie gehört hatte, nämlich zu "Zirndorfer Schnipsel". Sie haben 2006 und das Internet vergisst ja so schlecht, einen Vortrag gehalten in Frankfurt an der Oder. Das ist weit weg von Zirndorf bei Nürnberg. Worum ging es bei den Zirndorfer Schnipseln und wie geht es den Zirndorfer Schnipseln heute, falls Sie das als Jurist noch verfolgt haben?
Günter Bormann: Ja, also das hab ich von Anfang an verfolgt. Also wer unser Archiv besucht, der stieß ja auf einen Raum, den nannten wir den "Kupferkessel". Im "Kupferkessel" lagen ungefähr 15.000 braune Papiersäcke. Und in diesen geheimnisvollen Papiersäcken befanden sich Papierschnipsel von Stasi-Akten und ich kann sagen, also von der ersten Stunde an haben wir natürlich uns sehr, sehr, sehr dafür interessiert, was sich in diesen Schnipseln befindet. Weil das waren - hat sich herausgestellt - vernichtete Stasi-Unterlagen und das macht ja jeden neugieriger, wenn die Stasi sich eine solche Mühe gegeben hat, eine solche Menge von Akten zu vernichten. Es war natürlich die Frage: Was stand in den Akten drin? Und von Anfang an haben wir überlegt, wie könnte man das irgendwie wieder lesbar machen. Am Anfang haben wir das eher sporadisch überprüft. Manche Schnipsel waren ganz nachlässig zerrissen. Also ganze Stapel von Karteikarten waren nur einmal durch gerissen, die konnte man natürlich ohne weiteres zusammensetzen. Aber dann gab es natürlich auch Schnipsel, wo die kleinsten etwa Daumen Größe hatten und das hat uns natürlich neugierig gemacht.
Und Zirndorf, das war eine interessante Situation. In den 90er Jahren hatten wir so viel zu tun! Also die Akteneinsichtanträge haben sich ja bis zur Decke gestapelt. Von daher hatten wir eigentlich überhaupt keine Ressourcen, uns jetzt auch noch um die Schnipsel zu kümmern. Und da gab es die günstige Möglichkeit: In Zirndorf gab es eine Behörde, die war stark umstrukturiert und da blieb sozusagen ein Kernbestand von Mitarbeitern, dass waren, glaub ich, 30 oder 40 Mitarbeiter, für die hat man händeringend eine Tätigkeit gesucht und das passte natürlich zusammen. Also bei uns die knappen Ressourcen, dort in Nürnberg 30/ 40 Mitarbeiter, die nach einer Tätigkeit gesucht haben. Und wir waren ja so großzügig und so nachlässig und haben gesagt, sollen doch die Zirndorfer mal probieren diese Schnipsel zusammenzusetzen. Und damals haben wir noch solche Sachen ohne große Konzepte angefangen und haben gedacht, mal sehen, was da passiert.
Und ja wir haben uns da eine ganz starke Konkurrenz geschaffen, sage ich mal ganz einfach so ganz leger. In Zirndorf haben die es tatsächlich erfolgreich geschafft, im manuellen Verfahren sehr, sehr viele Schnipsel zusammenzusetzen. In den 90er Jahren waren ja die Stasi-Unterlagen ein aktuelles und sehr beachtetes Thema in Medien. Also hier die Stasi-Akten, die wir hier in Berlin und in den Außenstellen verwendet haben, waren mindestens drei bis vier Mal in der Woche in den Schlagzeilen und diese winzige Gruppe in Zirndorf hat uns doch tatsächlich ernsthaft Konkurrenz gemacht. Weil die natürlich jetzt Schnipsel hatten, bei denen hatte die Stasi anscheinend großen Wert darauf gelegt, die zu vernichten. Und diese kleine Gruppe war dann zeitweise genauso oft in den Schlagzeilen wie wir.
Maximilian Schönherr: Also das kann natürlich auch sein, dass es völlig unwichtige Schnipsel waren, weil die Stasi-Mitarbeiter in ihren, ich stelle mir immer so dunkle Büros im Untergeschoss vor, schnell dann noch 1989/ 90 alles zerfetzt haben, was ihnen in die Hände kam, das war nicht unbedingt das brisanteste.
Günter Bormann: Ja, man musste da schon die Spreu vom Weizen trennen und bei der manuellen Rekonstruktion waren die Zirndorfer also sehr erfolgreich darin, die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich kann mich noch erinnern, dass die einzelne Vorgänge ausgegraben haben oder - hier genauer genommen - zusammengesetzt, die wirklich auch unseren Blick auf die Stasi doch deutlich verfeinert haben. Also es gab erst mal die singulären Einzelfälle, die in Zirndorf rekonstruiert worden. Also ein Bischof der als IM gearbeitet hatte. Das war natürlich aus der Perspektive der Stasi ein ganz wichtiger IM-Fall, der aus Blickwinkel der Stasi unbedingt vor der Offenlegung geschützt werden sollte und die Kollegen in Zirndorf haben es geschafft, diese IM-Akte wieder zusammenzusetzen. Das ist nur ein kleines Beispiel.
Maximilian Schönherr: Kennen wir den Namen von dem Bischof noch?
Günter Bormann: Da kann ich mich im Moment gar nicht mehr erinnern. Also das war eine spannende Sache und dann- -
Maximilian Schönherr: Ich möchte noch mal kurz dazwischen fragen. Sie haben ja von den Plastiktüten geredet.
Günter Bormann: Von den Papiersäcken, 15.000 Papiersäcke.
Maximilian Schönherr: Genau, haben Sie denen die Papiersäcke tatsächlich nach Zirndorf geschickt?
Günter Bormann: Peu à peu. Das ist ja so eine gewaltige Menge 15.000 Säcke. Selbst wir hatten Schwierigkeiten die sachgerecht unterzubringen. Wir haben die auch mehrfach verlagert, mal in den Außenstellen ausgelagert. Wir brauchten ja auch Platz für unsere Akten und unsere Rekonstruktionsbemühungen.
Maximilian Schönherr: Ja klar, aber das ist ja so ein bisschen geheim. Also darf ja nicht jeder diese Schnipsel sehen. Also die mussten Verträge haben, ne?
Günter Bormann: Ja, es gab ja auch den ganz verrückten Vorschlag man schickt die Schnipsel nach China und die sollen die dann in Handarbeit rekonstruieren. Das wäre natürlich aus datenschutzrechtlichen Gründen und auch aus politischen Erwägungen gänzlich unmöglich gewesen.
Maximilian Schönherr: Die hätten es ja nicht lesen können.
Günter Bormann: Ja, das wäre natürlich ein Sicherheitsfaktor gewesen, hat unser Datenschutzbeauftragte auch gesagt, aber wir können nicht ausschließen. Es gibt auch Chinesen, die deutsch sprechen. Also aus Geheimhaltungsgründen wurden die natürlich in kleinen Mengen nach Zirndorf gebracht. Dort war auch ein Mitarbeiter von uns tätig, der darauf geachtet hat, dass die rekonstruierten Unterlagen strikt und streng vertraulich gehandhabt werden und nach den strikten Vorschriften des Stasi-Unterlagen-Gesetzes verwendet werden. Es waren ja nicht nur IMs. Es waren ja auch Betroffene und Opfer deren Akten vernichtet wurden. Also diese Akten mussten natürlich insgesamt gesichert sein und erst nach dem Verfahren die das Stasi-Unterlagen-Gesetz dafür bietet, konnten die zugänglich gemacht werden.
Maximilian Schönherr: War für Sie was interessant dabei?
Günter Bormann: Die spannendste Sache waren die Akten zur Gruppe Förster. Das klingt ja jetzt ganz unverfänglich und es hatte sich rausgestellt, die Gruppe Förster war eine geheime Tarnorganisation der Stasi; doppelt und dreifach abgesichert nach Stasi-Grundsätzen. Das war eine Organisation im Westen mit Mitarbeitern aus dem Westen, die im Spannungsfall sozusagen hinter der Front, hinter den Linien mit Sabotageakten tätig werden sollten. Also diese Gruppe Förster wurde eigentlich nur in diesen Unterlagen gefunden. Hier in Berlin, in unseren Unterlagen haben wir weder Karteikarten, noch Hinweise, noch Konzepte gefunden, dass es diese Gruppe überhaupt gab und das war natürlich eine der größten Sensationen, die sich aus diesen Schnipseln ergeben hat. Die ganze Tarnorganisation im Westen deren Nachweise nur als Schnipsel überliefert wurden.
Maximilian Schönherr: Führte das zu Strafprozessen?
Günter Bormann: Strafprozess ist ja ein ganz verzwicktes Thema. Der Nachweis der Schuld ist ja jetzt allein mit Papierunterlagen nicht zu führen.
Maximilian Schönherr: Sprechen wir gleich noch ausführlich durch, ich will nur den Förster abschließen.
Günter Bormann: Ja also diese Unterlagen wurden nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz verwendet für Überprüfung, für Auskünfte an Forscher und Medien, an Antragsteller und es gab auch einige Mitglieder der Gruppe Förster, die sich dagegen gewehrt haben als Mitglieder bezeichnet zu werden. Da haben wir auch einen oder zwei Prozesse leider tatsächlich verloren, weil die Gerichte sagen: Naja die Stasi-Unterlagen, das ist ja doch ein sehr schillernder Aktenbestand. Und das muss man ja generell für Stasi-Unterlagen sagen. Die geben natürlich erst mal den Blick der Stasi auf die Wirklichkeit wieder und das Einzelmitglied, das dann in den Unterlagen genannt wurde, konnte ja sagen: Ich war mir gar nicht bewusst, was das für eine Organisation war. Ich wurde gar nicht so angesprochen. Ich bin wahrscheinlich nur aus formalen Gründen dort geführt worden. Ich war nur eine sogenannte Kontaktperson. Das heißt, ich wurde in dieser Gruppe geführt, ohne dass ich tatsächlich Mitglied war. Das kann man alles nicht ausschließen, aber ich glaube für Historiker und für die Öffentlichkeit war es schon interessant. Also es gibt tatsächlich noch Bereiche der Stasi, die wären beinahe gänzlich unerkannt geblieben. Also von daher war das zur Gruppe Förster wirklich eines der spannendsten Dinge.
Weil Einzelfälle, IM-Akten hatten oder Opferakten, haben wir ja in ausreichender Anzahl, aber diese kleine Organisation, kleine und wichtige Organisation, die wurde ja nur ans Licht der Öffentlichkeit gebracht durch die gute Arbeit dieser Zirndorfer Gruppe.
Maximilian Schönherr: Ich komme ja aus dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und da bin ich als Journalist tätig. Das ist meine hauptamtliche Tätigkeit quasi und wenn ich so mitkriege, was die Justizabteilungen, die Juristen, in diesen öffentlich rechtlichen Sendern vor allem tun müssen, ist Hörern und Hörerinnen, die sich beklagen über bestimmte Dinge, die gesendet wurden. Und das wurde teilweise auch justiziabel, das heißt, da musste dann die Juristenabteilung eingreifen sozusagen tätig werden.
In ihrem Archiv senden Sie ja nicht wie der öffentliche Rundfunk Sendungen, aber trotzdem haben Sie eine Webseite und ist es einer Ihrer Arbeitsgebiete, dass jemand von außen sagt: Ihr habt der Dinge veröffentlicht, Unterlassung bitte!
Günter Bormann: Im Grunde passiert das ganz anders, weil wir behaupten ja nicht, dass die Stasi-Unterlagen die allein selig machende Wahrheit enthalten. Wir beachten einfach die gesetzlichen Vorschriften und können bestimmte Dinge an Journalisten, an Forscher oder auch Amateurforscher, Einzelpersonen herausgegeben.
Maximilian Schönherr: Und auf Ihre Webseite tun.
Günter Bormann: Nein, der Hauptpunkt ist, wir geben dann die Kopien an den einzelnen Antragsteller, an den Journalisten oder an den Forscher. Der kann dann diese Unterlage als Recherchematerial, als Grundlage für seine Berichterstattung verwenden. Und dann passiert es ganz oft, dass der Journalist auf Unterlassung verklagt wird, weil der Betroffene sagt: Also deine Interpretation, dass ich IM war, ist gänzlich unzulässig. Da haben ja ganz prominente Politiker ganze Ketten von Prozessen gegen Journalisten geführt, um die Unterlassung von Behauptung zu erreichen. Weil der Anspruch an Journalisten muss ja auch folgender sein: Es reicht jetzt nicht die Erkenntnisse der Stasi nach zu beten, sondern das ist Recherche und Grundlagematerial. Das muss im Zusammenhang gelesen werden, dem Betroffenen muss auch Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Die Hauptzahl der Prozesse richtete sich also gegen die Verwender unserer Unterlagen.
In vielen und auch wichtigen Fällen sind wir natürlich auch direkt verklagt worden. Da hat einfach der Betroffene gesagt: Es war unzulässig diese Akte herauszugeben, denn ich bin gar kein IM. Nach dem Gesetz dürfen wir nur Akten zu Mitarbeitern und inoffiziellen, wie hauptamtlichen Mitarbeitern der Stasi herausgeben. Also die sagten: Ich bin gar kein IM. Ihr habt mich falsch eingeordnet. Ihr dürftet diese Unterlage gar nicht herausgeben. Der berühmteste Prozess ist da der Prozess des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, der ja lange gesagt hat: Ihr interpretiert das Gesetz falsch. Es ist unzweifelhaft, dass ich kein inoffizieller Mitarbeiter bin. Ich habe keineswegs gemeinsame Sache mit der Stasi gemacht. Und wir haben immer versucht zu erklären, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz verschiedene Zugangsmöglichkeiten bietet und da gibt es auch eine Zugangsmöglichkeit, die uns besondere juristische Probleme bereitet hat. Das Stasi-Unterlagen-Gesetz enthält eine Klausel, nach der Akten zu "Personen der Zeitgeschichte" in begrenztem Umfang unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte herausgegeben werden können. Und da gab es sehr, sehr lange Streit, ob wir diese Klausel "Personen der Zeitgeschichte" richtig interpretieren. Also unser Standpunkt war ganz klar. Der Staatssicherheitsdienst hat zu Helmut Kohl als Bundeskanzler Exposees, Beobachtungsberichte, Einschätzungen und Auswertungen erstellt.
Maximilian Schönherr: Klar!
Günter Bormann: Und die sind natürlich, historisch gesehen, eine unglaublich wichtige Quelle. Wir wollten diese Unterlagen herausgeben und Helmut Kohl sagte: Ihr versteht das Gesetz falsch. Ich bin Betroffener. Ich wurde von der Stasi beobachtet. Ich wurde von der Stasi bespitzelt. Niemand erhebt ernsthaft den Vorwurf, dass ich irgendwie gemeinsame Sache mit der Stasi gemacht hätte. Also muss ich nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz in vollem Umfang geschützt werden. Und er hat sich dann gegen die Herausgabe der Stasi-Unterlagen gewandt.
Maximilian Schönherr: Mit Erfolg.
Günter Bormann: Mit Erfolg, mit Teilerfolg und mit Misserfolg. Also die ersten Instanzen haben gesagt: Wir verstehen das Gesetz vollkommen richtig. Das Verwaltungsgericht Berlin hat gesagt: Ganz klar, das Gesetz sagt "Personen der Zeitgeschichte" sind im begrenzten Umfang, also die Unterlagen sind im begrenzten Umfang herausgabefähig. Aber das Gesetz war unklar formuliert, das ist uns dann beim Bundesverwaltungsgericht auf die Füße gefallen. Die haben gesagt: Das Gesetz ist aber so formuliert, dass der Opferschutz die Herausgabe nicht möglich macht. Damals musste dann am Gesetz noch mal gearbeitet werden. Es musste eine Klarstellung ins Gesetz eingefügt werden und danach ging es nochmal zum Bundesverwaltungsgericht und die sagten dann: Okay ihr habt einen bestimmten Aktenbestand zur Herausgabe vorbereitet. Wir interpretieren das Gesetz noch etwas enger, so dass wir nur einen Teil der Unterlagen zu Helmut Kohl herausgeben konnten. Nach meiner Einschätzung war es der wesentliche und wichtige Teil. Es war also ein Teilerfolg, aber das Grundprinzip war dann auch beim Bundesverwaltungsgericht anerkannt. Das Grundprinzip lautete: "Personen der Zeitgeschichte" müssen dulde, dass in begrenztem Umfang Unterlagen zu ihnen herausgegeben werden.
[Intro]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten",
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
Maximilian Schönherr: Wir sprechen mit Günter Bormann. Sie sind quasi der juristische Chef beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Wir haben jetzt anekdotische, sehr spannende Dinge besprochen. Mich interessiert ein Begriff, den haben Sie in mehreren Zusammenhängen erwähnt, nämlich die "Regierungskriminalität". Können Sie dazu was sagen?
Günter Bormann: Ja! Die Stasi-Akten geben ein relativ umfassendes Spiegelbild der DDR-Wirklichkeit wieder. Die Stasi war ja so aktiv und hypertroph, dass wir Unterlagen zu allen gesellschaftlichen Bereichen finden und auch mittelbar zu dem Bereich, den man als "Regierungskriminalität" bezeichnen kann. Die Stasi hatte ja - zum Beispiel, ein schönes Beispiel – Bauprojekte verfolgt. Die Jagdhütten der SED-Elite mussten ja abgesichert werden. Zum Beispiel aus diesem Grund hat die Stasi auch mittelbar über Aktivtäten berichtet, die also im Bereich Regierungskriminalität liegen. Das waren also erst mal die Selbstbereicherungen, die Selbstbereicherungen der Eliten, die besondere Versorgung der Eliten. Und Wandlitz! Wandlitz war ja für die Stasi ein unglaublich wichtiges Sicherungsobjekt und aus diesen Akten zu Wandlitz kann man auch sehr viel zum Beispiel über die Lebensgewohnheiten, die Versorgungslage der SED- und Politbüro-Elite entnehmen. Also klar, eigene Versorgung, Produkte aus dem Westen; von denen der "gewöhnliche DDR-Bürger" ja nur träumen konnte.
Maximilian Schönherr: Und das nennt man Regierugskriminalität?
Günter Bormann: Das ist ein winziger Ausschnitt. Ein ganz wichtiger Ausschnitt waren die Aktivitäten der KoKo – der Kommerziellen Koordinierung unter Alexander Schalck-Golodkowski, der ja sozusagen die Durchbrechung der Embargo-Politik organisiert hat. Der auch den Verkauf von Antiquitäten aus der DDR in den Westen organisiert hat. Das waren ja ganz, ganz spannende Sachen. Da gab es ja einen Bundestagsausschuss, der sich nur mit KoKo beschäftigt hat und da waren die Stasi-Unterlagen auch eine wichtige Grundlage der Forschung.
Maximilian Schönherr: Also ein Vorgang, dass jetzt die Staatssicherheit sagt: "Wir müssen jetzt aus West-Berlin den Herrn Fricke betäuben und entführen ihn im Kofferraum." Das ist keine "Staatskriminalität" sondern das ist eine Kriminalität von einem Individuum? Oder wo ist da der Unterschied?
Günter Bormann: Na das ist auch "Staatskriminalität"! Das waren also die Zeiten – die Stasi hat ja mehrere Personen entführt. Auch das findet sich in den Stasi-Akten wieder.
Maximilian Schönherr: Ja, das ist Regierungskriminalität auch. Also wenn man das Individuum nicht packen kann. Aber das Strafgesetz geht doch eigentlich immer auf Individuen. Also ich hau jemandem eine auf den Kopf, dann bin ich der Täter und mein Opfer hat eine auf den Kopf bekommen. Der Staat ist ja nie der Verbrecher – oder doch?
Günter Bormann: Das ist ein sehr gutes Beispiel Das Strafgesetzbuch ist natürlich dafür ausgelegt, individuelle Straftaten zu verfolgen. Also das Strafgesetzbuch kann wunderbar Taten beschreiben und strafbar machen, die auf der individuellen Eben liegen. Erpressung, Nötigung, Freiheitsberaubung, alles das sind Delikte im Strafgesetzbuch, die auf individueller Ebene einfach nachzuweisen sind. Schwierig wird es, wenn man diese strafgesetzlichen Normen auf staatliches Handeln anwenden will.
Maximilien Schönherr: Den Grenzpolizisten, der schießt?
Daniel Bormann: Die Urteile zu den Grenztoten, die sind ja ein juristisch ganz spannender Abschnitt. Also wir haben die Grenztruppen und die Zwischenfälle wurden in den Stasi-Akten akribisch dokumentiert. Das ist auch gar nicht mal der Bereich HV A sondern diese Unterlagen haben wir relativ vollständig. Auch in der Akteneinsicht von Angehörigen. Die konnten dann durchaus sehen, wie der Flüchtling an der Grenze zu Tode kam, wie er medizinisch versorgt wurde, was mit der Leiche passiert ist. Die Stasi hat dann auch die Beerdigung konspirativ abgesichert und verhindert – oder versucht zu verhindern – dass diese Fälle dann über Gebühr Aufmerksamkeit erregt haben. Also da haben wir sehr viele Fälle dokumentiert und diese Akten waren Grundlage für die vielen Verfahren gegen Grenzsoldaten. Die den Juristen natürlich große Probleme bereitet haben.
Maximilian Schönherr: Wegen der Staatskriminalität? Weil dahinter so ein Apparat steckte?
Günter Bormann: Es ist vor allem ein juristisches Problem. Also Mord und Totschlag ist in Ost und West strafbar gewesen, das ist ganz klar. Aber die Grenztruppen oder der Schuss auf den Flüchtling geschahen ja scheinbar auf einer rechtlichen Grundlage. Es gab ja DDR-Gesetze, nach denen war das Überschreiten der Grenze eine Straftat. Von daher - formal gesehen, also aus Sicht der DDR-Täter, die wollte sich darauf berufen: Nach DDR-Recht haben wir eine Straftat verhindert. Wir haben den Grenzverletzer versucht zu stellen. Wir haben Warnschüsse abgegeben und nur als "ultima ratio" dann auch den tödlichen Schuss. Dafür gab es eine ganze Reihe von DDR-Vorschriften. Also den Paragraphen Grenzverletzung, der steht ja auch im Strafgesetzbuch. Das war strafbar.
Jetzt mussten die Juristen, wenn man diese Tat ahnden will, sich mit dem Problem auseinander setzen: Ja, nach westdeutschem Recht war es eine Straftat, aber nach ostdeutschem Recht [betont: schien es] anders zu sein.
Maximilian Schönherr: Und da gibt es ja quasi in einem rechtsstaatlichen System die Ansage: Wenn unter einem anderen System, zu einer anderen Zeit es ein Gesetz war, das wir jetzt niemanden bestrafen können, nur weil sich das Gesetz geändert hat. Dafür gibt es einen Fachausdruck bei Ihnen, ne?
Günter Bormann: Ja, also "nulla poena sine lege" – keine Strafe ohne eine gesetzliche Grundlage. Der DDR-Grenzposten beruft sich drauf: Ich hab eine Straftat verhindert! Jetzt müssen die Juristen begründen, warum war das auch aus DDR Sicht eine Straftat. Und das ist ja ganz schwierig.
Also in dem großen Bereich NS-Unrecht gibt es ja die Radbruchsche Formel, da hat man relativ vereinfachend gesagt: Das NS-Recht war in gesetzesform gegossenes Unrecht, das war grundsätzlich unwirksam.
Bei dem DDR-Recht war die Situation schon schwieriger. Diese Vorschrift gab es. Der Grenzsoldat hatte Vorschriften, der hatte dann auch diese mündliche Anweisung zu schießen. Übrigens ist ja dieser Schießbefehl niemals in schriftlich verbindlicher Form gefunden worden.
Maximilian Schönherr: Aha!
Günter Bormann: Jeder wusste, die Grenztruppen schießen, die sind dazu in irgendeiner Form aufgefordert worden. Aber es blieb erst mal bei dieser Behauptung: Wir haben eine Straftat verhindert. Und die Rechtsprechung hat es sich in diesem Fall nicht einfach gemacht. Also mit der Radebruchschen Formel – so einfach war dieser Konflikt nicht zu lösen. Sondern die westdeutschen Juristen haben gesagt: Ja wir nehmen jetzt mal das DDR-Recht ernst. Also wie müssen wir das DDR-Recht bei direkter Auslegung verstehen? Und das hat dann die sogenannte westdeutsche Justiz gesagt, bei korrektem Verständnis des DDR-Rechtssystems hätte auch der Grenzposten wissen müssen, dass seine Handlung letztlich durch DDR-Recht nicht gedeckt war. Weil es gab ja schon Helsinki, die Menschenrechts-Charta. Es gab dieses Recht auf Freizügigkeit.
Maximilian Schönherr: Und es gab keinen konkreten Schießbefehl, den man irgendwo hätte vorzeigen können.
Günter Bormann: Den hätten wir liebend gern gesucht. Wir haben mal regionale Besonderheiten gefunden, die auf einen Schießbefehl hindeuten, aber [betont: den] Schießbefehl in schriftlicher Form gab es nie. Das heißt man musste dem Grenzposten zustehen: Du hast vermeintliches DDR-Recht angewendet, aber bei richtigem Nachdenken und bei richtiger Auslegung des DDR-Rechtes hättest du zum Ergebnis kommen müssen. Das ist nicht gerechtfertigt. Dieser Todesschuss.
Und das erklärt ja auch, warum die Grenzposten für Mord oder Todschlag relativ mildes Strafen von manchmal nur zwei Jahren auf Bewährung bekommen haben.
Maximilian Schönherr: Das heißt man kann ja eigentlich von einer Siegerjustiz gar nicht sprechen.
Günter Bormann: Nein, nein.
Maximilian Schönherr: Siegerjustiz wäre gewesen – und das war ja der Vorwurf, der wurde immer wieder mal in den Raum gestellt – Siegerjustiz wäre ja: Wir behandeln die DDR im Nachhinein so wie Nationalsozialismus. Alles war Unrecht und deswegen können wir jeden vor Gericht ziehen. Sondern es war ein Abwägen.
Günter Bormann: Ein Abwägen. Man hat gesagt: Wie hätte man das DDR-Recht, die DDR-Vorschriften, die von der DDR eigegangenen internationalen Verpflichtungen bei richtiger Auslegung verwenden können? Und das führte eben dazu, dass für die einfachen Grenzposten relativ mild Strafen zum Vorschein kamen. Das berühmteste Urteil ist ja gegen Egon Krenz, weil der für das Grenzregime verantwortlich war, eine langjährige Freiheitsstrafe von vier Jahren. Also das war die Bandbreite, in der sich die Justiz bewegt hat. Weil es in gewissem Umfang berücksichtigt werden musste – und zu Recht berücksichtigt wurde – dass nach dem DDR-Rechtssystem da ein gewisser Anschein dafür bestand, dass das Verhalten des Grenzposten geboten war.
Der Grenzposten als Individuum befand sich ja auch in einer Zwangslage. Er war Mitglied eines militärischen Organs. Er war Soldat, unterstand der Befehlsgewalt und das erklärt, warum man dann zu den – finde ich – angemessenen Urteilen gekommen ist. Aber es war eine recht schwierige juristische Gradwanderung, die auch bis zum Schluss umstritten war.
Maximilian Schönherr: Und heute ist im Prinzip alles abgeschlossen?
Günter Bormann: Heute ist es abgeschlossen. Das war auch ein Bereich, in dem die Stasi-Unterlagen einen wichtigen Beitrag geboten haben. In vielen Fällen, also in manchen Fällen hat sich ja auch herausgestellt, der Grenzposten hat die Befehlslage überschritten. Also statt Warnschüssen mit Dauerfeuer auf den Flüchtigen gehalten. Es wurden Flüchtlinge getötet, die schon verhaftet waren. Das wurde dann alles berücksichtigt und hat dann zu sehr differenzierten und dem Einzelfall angemessenen Urteilen geführt.
Maximilian Schönherr: Verstehe ich Sie jetzt richtig, wenn jemand – Sie zum Beispiel, gehen jetzt in das Archiv runter und Sie finden etwas brisantes, was strafrechtlich relevant sein könnte. Ist das schon allein, dieses Papier was Sie finden und jetzt dem Staatsanwalt geben, wäre das schon Grund, eine Klage in Gang zu setzen oder wie ist dieser Prozess?
Günter Bormann: Der Prozess läuft folgender Maßen. Im Stasi-Unterlagen-Gesetz gibt es eine Vorschrift die sagt, bei Hinweis auf eine Straftat geben wir diese Unterlagen an die Staatsanwaltschaft.
Maximilian Schönherr: Bundesstaatsanwalt?
Günter Bormann: Ja! Ja.
Maximilian Schönherr: Mhmh.
Günter Bormann: Für die ist das erst mal ein Grund, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Und die suchen natürlich nach weiteren Beweismitteln. Zeugen, Vernehmungen. Da wird also der betroffene Soldat, die Vorgesetzten; die Stasi-Unterlagen auch inhaltlich, die medizinischen Spuren die fotografisch oder begutachtend dokumentiert sind, die werden berücksichtigt. Sie sind also sozusagen Grundlage für einen Anfangsverdacht und erst in der Zusammenschau mit anderen Beweismitteln kann das dann eine Grundlage für eine Verurteilung sein. Alleinig die Stasi-Unterlagen sind es in den seltensten Fällen. Die Staatsanwaltschaften und die Gerichte haben dann immer im vollen Umfang [betont: alle] verfügbaren Beweismittel ausgeschöpft. Aber natürlich, der Anfangsverdacht kam dann über die Stasi- Unterlagen.
Maximilian Schönherr: Passiert das auch bei Bundesarchiv? Jemand findet so einen Anfangsverdacht und muss den dann melden?
Günter Bormann: Ich könnte mir vorstellen, dass das Bundesarchiv ähnlich vorgeht. Die haben ja auch Unterlagen aus der NS-Zeit. Aber dazu weiß ich jetzt im Moment zu wenig. Ich hab jetzt auch keine konkreten Fälle vor Augen.
Maximilian Schönherr: Kommen wir nochmal zur NS-Zeit. Warum hat eigentlich Ihr Archiv NS-Akten und welche Rolle spielten die in der DDR?
Günter Bormann: Die Stasi hat sich sehr, sehr intensiv mit NS-Unterlagen beschäftigt. Das ging so weit, dass die Stasi aktiv Unterlagen in Ostdeutschland und in Ost-Europa gesammelt hat und ein eigenes Archiv unter der Bezeichnung „NS-Archiv“ geführt hat.
Und jetzt darf man natürlich nicht so naiv sein anzunehmen, dass man sagt: Die Stasi hat NS-Akten gesammelt um NS-Täter zu verfolgen. Die Stasi hat erst mal diese NS-Akten als interessantes Geheimdienstmaterial verwendet. Es gibt einen Kollegen von uns aus der wissenschaftlichen Abteilung, Herr Leide, der hat dazu ein oder zwei Bücher geschrieben und hat diesen Gegenstand intensiv untersucht. Die Stasi hat diese NS-Unterlagen als Arbeitsmaterial betrachtet. Es wurden also NS-Unterlagen benutzt, um Personen zu erpressen, um sie zur inoffiziellen Mitarbeit zu verpflichten.
Maximilian Schönherr: Es geht hin bis zum „Roten Koffer“.
Günter Bormann: [lacht] Ja, das ist auch wieder eine spannende Geschichte!
Maximilian Schönherr: Müssen wir jetzt nicht erklären, ist eine andere Geschichte.
Günter Bormann: Ja. Also, NS-Unterlagen nicht allein um NS-Täter zu verfolgen. Auch das ist in Einzelfällen passiert. Die DDR wollte damit demonstrieren: Hier im Osten werden NS-Täter strikt verfolgt und abgeurteilt, anders als im Westen, da war die Strafverfolgung ja lange Zeit sehr problematisch. Aber, wie wir dann später nach Öffnung der Akten gesehen haben, haben die in vielen Fällen auch gar nicht die Strafverfolgung beabsichtigt. Sondern das Material als geheimdienstliches Arbeitsmaterial verwandt um Personen zur Mitarbeit zu bringen oder um in den politischen Auseinandersetzung in Desinformationskampagnen echtes, verfälschtes oder punktuell ausgewähltes NS-Material zu verwenden.
Maximilian Schönherr: Also ich hab aus meiner eignen Erfahrung mit dem Archiv – ich hab viel im Audio-Bereich gearbeitet bei BStU – die Strafprozesse in den 1950er und frühen 1960er Jahren hatten immer als ein Angelpunkt das Argument: Der Angeklagte war Parteimitglied in der NSDAP. Oder er hat einen sowjetischen Soldaten erschossen, solche Dinge. Das fand man wahrscheinlich dann genau in diesem Archiv, von dem Sie gerade geredet haben. Also es war quasi ein Mittel, damit war eine Verurteilung quasi schon geschehen. Das heißt man hat diese NS-Zeit als sehr wichtig genommen für die Urteilsfindung letzten Endes.
In den Prozessen ging es nie um NS-Verbrechen. Sondern es ging darum, dass zum Beispiel ein Herr Prädel, ein Dachdecker, eine Scheune angezündet hat und man wollte ihn deswegen verurteilen. Man hat ihn dann auch hingerichtet. Also Todesurteil und Hinrichtung. Aber die ganze Argumentation, die dazu hinführte, begann eigentlich damit, dass er einen sowjetischen Soldaten erschossen hat, im Krieg halt. Im Zweiten Weltkrieg. Also das meine ich eher, nicht die Verfolgung.
Die DDR hat ja tendenziell gesagt: Wir haben gar keine Nationalsozialisten, die sind ja alle in der BRD.
Günter Bormann: Ja, also speziell dazu kann ich jetzt nichts sagen.
Maximilian Schönherr: Ja, aber ich hab es ja gesagt. Und ich weiß es ja zufällig mit den Prozessen und das war ganz häufig der Fall. Jetzt will ich noch auf eine Sache kommen, die fand ich sehr interessant.
Sie haben in einem Aufsatz geschrieben, dass die Kriminalität im Bild des Sozialismus gar keinen Platz hat. Und deswegen wurden in der DDR schwere Straftaten schon aus ideologischen Gründen der Geheimpolizei, also dem Ministerium für Staatssicherheit denk ich mal, übergeben. Was heißt das eigentlich? Das waren ja nicht alles Geheimverfahren, die Mielke dann veranstaltet hat. Das waren ja oft Schauprozesse. Wie ist dieses Scharnier?
Günter Bormann: Für diese Fälle gibt es ein richtiges Drehbuch. Der Geheimdienst hat natürlich ohne jede rechtliche Restriktion ermittelt, Zeugen befragt, Durchsuchungen durchgeführt. Und zum Drehbuch gehörte dann, dass später diese gefundenen Beweismittel in deine justiziable Form gebracht werden. Also wenn man sich zum Beispiel jetzt diese NS-Verfahren anguckt. Die Vernehmungen sind außerordentlich detailliert und korrekt geführt und korrekt niedergeschrieben. Das Endprodukt, also die Akte die dann für die Strafverfolgung übergeben wird, die sieht vorbildlich aus. Aber das, was hinter den Kulissen passiert, das ist das interessante an diesen Stasi-Akten. Das ist dann ein weiteres Bild.
Maximilian Schönherr: Also die DDR-Presse hat quasi nie gesagt: Hier war ein Schwerkrimineller vor Gericht! Weil das durfte ja im Sozialismus nicht vorkommen – oder Wie und Wo kam das in der Gesellschaft an?
Günter Bormann: Wir haben mal in den 90er Jahren ein Forschungsprojekt zu Rechtsextremen in der DDR durchgeführt. Das ist natürlich ein Paradebeispiel dafür. Nach Ansicht der Staatssicherheit und der herrschenden Partei fehlt natürlich für den Nationalsozialismus in der DDR jede Grundlage. Die Eigentumsverhältnisse waren ja reformiert. Der Schoß, der ja noch fruchtbar war, bestand ja nicht mehr in der DDR. Also das hieß aus Sicht der Stasi konnte Rechtsextremismus nur erklärt werden: Das muss ein ausländischer, westdeutscher Einfluss sein. Die Stasi hat also durchaus auch rechtsextreme Umtriebe wahrgenommen und dokumentiert. Also über Rechtsextremismus in der DDR wissen wir eigentlich nur über die Stasi-Akten sehr gut Bescheid. Aber die Stasi hat sich dabei selbst einen ideologischen Fuß gestellt [lacht]. Aus deren Sicht musste das ja irgendwie erklärt werden. Und es konnte eigentlich ideologisch korrekt nur erklärt werden: Es müssen westliche Einflüsse sein, die zu rechtsextremen Erscheinungen in der DDR geführt haben. Also Ausländerfeindlichkeit, Anhänger der NS-Ideologie, gelegentliche rechtsextreme Äußerungen bei Fußball-Fans – das konnten alles nur Randerscheinungen sein, die irgendwie erklärt werden oder begründet waren durch den verderblichen Einfluss aus dem Westen. Entweder durch Personen oder durch die Medien.
Maximilian Schönherr: Letzte Frage. Was sehen Sie eigentlich- - Das ist nicht die letzte Frage. Was sehen Sie, wenn Sie aus dem Fester gucken?
Günter Bormann: Na ich blicke ja auf den Alexanderplatz. Der Hauptteil der Behörde sitzt ja auf einem neutralen Platz in einem DDR-Zweckgebäude am Alexanderplatz. Hier finden auch die Akteneinsichten statt, während die Akten immer noch im alten Stasi-Archiv in Lichtenberg in der Magdalenenstraße liegen. Wer uns also hier besucht, besucht uns in einer neutralen Umgebung. Am alten Platz der Stasi in der Magdalenenstraße, da ist das Archiv. Da sind die Gebäude der Stasi, da sind auch Ausstellungen und dort entsteht ja auch der "Campus für Demokratie", der soll an die Stasi erinnern. Aber unseren Besuchern in der Akteneinsicht wollten wir das eigentlich nicht zumuten, auf Dauer in die alten Stasi-Gebäude zu kommen um ihre Akten einzusehen. Von daher haben wir recht früh einen neutralen Platz gesucht und sind seit langer Zeit hier am Alexanderplatz.
Maximilian Schönherr: Ja, letzte Frage. Wenn Sie in Ihrer juristischen Tätigkeit beim BStU zurückblicken, hatten Sie eine schlaflose Nacht deswegen? Irgendwann? Also dass Sie jetzt einen Anruf bekommen, da brennt etwas und Sie als der leitende Jurist müssen sich jetzt einen Weg überlegen, wie Sie da wieder rauskommen aus dieser Klemme. Solche Dinge. Sind die passiert?
Günter Bormann: Also, ich bin… schon vom Stasi-Unterlagen-Gesetz – das ist wirklich ein ganz, ganz großer Wurf, das muss man einfach sagen, um dieses Gesetz muss man uns wirklich beneiden. Und das war auch international das Vorbild für viele Staaten in Ost-Europa, selbst Aktenöffnungsgesetze zu schaffen. Also auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz und was wir im Rahmen des Stasi-Unterlagen-Gesetzes geschaffen haben, da kann man wirklich stolz sein.
Maximilian Schönherr: Haben Sie an dem mitgearbeitet?
Günter Bormann: Wir haben an den Reformen mitgearbeitet. Zum Beispiel nach dem ersten Kohl-Urteil, als uns das Gericht sagte: Euer Gesetz ist nicht sorgfältig genug, nicht differenziert genug. Da haben wir dann diese Klausel zu Personen der Zeitgeschichte reformiert, da habe ich mitgearbeitet.
Wir haben dann auch die Vorschriften zu inoffiziellen Mitarbeitern in Einzelpunkten modifiziert. Wehrpflichtige, die also nicht zu Personen berichtet haben, die sind dann nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz später von der Beauskunftung ausgenommen worden. Das waren kleine, aber finde ich sehr wichtige Schritte.
Das waren juristische Probleme. Aber der Akteninhalt, muss ich wirklich zugeben, der hat mich dann manchmal doch bedrückt. Also ich habe ja auch Akteneinsichten vorbereitet und wenn ich dann wusste, morgen kommt jemand zur Akteneinsicht und ich muss ihm sagen: Dein Vater hat Berichte über dich an die Stasi geliefert. Da habe ich mich doch sehr, sehr, sehr unwohl gefühlt. Und ich war auch immer wieder überrascht, mit welcher emotionalen Stärke viele Leser ihrer Akten das ertragen haben. Wir sind ja die ersten Ansprechpartner. Derjenige kommt zu uns, sieht seine Stasi-Akte und der erste Ansprechpartner, ob man will oder nicht, ist ja derjenige, der die Akten vorbereitet hat. Der hört dann: Ja hier, das hätte ich nicht gedacht – mein eigener Vater hat zu mir berichtet. Oder mein Onkel. Oder meine Verwandten. Oder ein guter Freund. Also da hatte man doch im Vorfeld manchmal doch ein sehr bedrückendes Gefühl. Weil wenn man dann das Vorgespräch zur Akteneinsicht führt – man muss ja auch den Leser dann in gewisser Weise einstimmen, was er dann erlebt.
Maximilian Schönherr: Darauf vorbereiten. Ja, ja.
Günter Bormann: Das ist ja das Vorgespräch. Stasi-Akten sind ja in einer eigenen Sprache und Sichtweise geschrieben. Wir erläutern dann kurz, wie man Stasi-Akten lesen muss und erstaunlicher Weise, jeder der seine Stasi-Akte liest bekommt ja auch ein Wörterbuch der Stasi. Damit er diese Begriffe "zersetzende Maßnahme", "operative Kombination", "feindliche Tätigkeit" – damit er das überhaupt verstehen kann. Und das ist ja auch ein starkes Stück, eine eigene Fachsprache der Stasi, die auch erst mal in die Alltagssprache übersetzt werden muss. Aber ich muss sagen, viele Leser haben das sehr gut geschafft, die Akten zu verstehen.
Maximilian Schönherr: Wir schließen jetzt ab. In den 1980ern – übrigens, ich hab auch in einer New Wave-Band gespielt, ich hab komponiert und war der Sänger und der Keyboarder. Was haben Sie gemacht?
Günter Bormann: Ich war der Gitarrist. Aus der Sicht der Band war ich ein schnöder Instrumentalist. Die guten, systemkritischen Texte hat unser charismatischer Sänger gemacht und ich wurde als Gitarrist immer nur ermahnt: Spiel bitte nicht so laut! [lacht]
Maximilian Schönherr: Was hatten Sie für eine Gitarre?
Günter Bormann: Fender Stratocaster.
Maximilian Schönherr: Und mit einem Fender-Verstärker?
Günter Bormann: Vox AC30 – der Klassiker.
Maximilian Schönherr: Haben Sie den noch?
Günter Bormann: Natürlich! Baujahr '66 der AC30. Er läuft so gut wie am ersten Tag!
Maximilian Schönherr: Und der Stratocaster hat welche Farbe?
Günter Bormann: Ist eine schwarze Stratocaster aus den '80ern mit dem breiten Hals und dem breiten Kopfstück.
Maximilian Schönherr: Und wann haben Sie die Saiten das letzte Mal ausgewechselt?
Günter Bormann: Joa, alle drei Monate.
Maximilian Schönherr: Chic! Vielen Dank für das Gespräch, Günter Bormann von BStU. Jetzt gehen wir weiter zu einem O-Ton aus dem Audio-Bereich des BStU und der wird vorgestellt von Elke Steinbach.
[schnelles Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach. Ich kümmere mich als Dokumentarin um die Audio-Überlieferung des MfS. Wir hören heute einen Ausschnitt aus einer Sitzung der Zentralen Parteileitung der Bezirksverwaltung Dresden. Die fand im Juni 1983 statt und man hört den langjährigen Leiter der Bezirksverwaltung Dresden, Horst Böhm. Und der sprecht über Vorbereitungen und Verhaltensmaßnahmen zum Kirchentag, der in dem Jahr stattfindet, anlässlich des 500. Geburtstages von Martin Luther und man merkt deutlich, dass er Bauchschmerzen dabei hat.
[Horst Böhm:] Alle Diensteinheiten – ich sag bewusst alle Diensteinheiten – machen zurzeit 'ne sehr fleißige Arbeit in Vorbereitung der Sicherungsmaßnahm'n Kirchentag, Genossen. Wir ha'm [haben] also gestern die Strategie festgelegt, wir wer'n [werden] auch mit'er [mit der] Volkspolizei nochma' reden. Die Hauptfrage ist, dass es hier keinen politischen Banditen oder Querulanten oder Dummköpfen gelingt, den Kirchentag auszunutz'n und dort ihrem Pazifismus oder andere Feindtätigkeit vom Stapel zu lassen. Es geht also nich' so sehr um die Veranstaltungen des Kirchentages schlechthin. Die finden am Großen Garten und am Hygiene-Museum und in den Kirchen statt. Das is' die eene [eine] Seite. Da wird's ooch e' paar [auch ein paar] Dinge geb'n, die uns nich' schmecken! Aber die Hauptaufgabe für uns, für die Verwaltung und für d'e Kreisdienststelle ist: zu verhindern, dass eben solche Pazifisten oder, oder, oder andere den Kirchtag zum Anlass nehm'n um unterm Deckmantel des Kirchentages zu provozieren oder zu hetzen oder andre Dinge zu machen. Das ist der Kern.
Und wir wer'n ooch [werden auch], nich' wahr, wenn wir abends nach Hause geh'n, hier unten in der Nähe der Drachenschenke is' ja dis [das] Diakonissen-Heim und nu' wird e' Zeltlager sein und, und, und die Jugentlichen und ba-ba-ba-ba-bap und ooch die Wochgen- - unsere Genossen der Wache müssen richtig eingestellt sein. Is' klar, kann ihn'n dis Messer uffgeh'n [aufgehen]! Hängt nun 'ne weiße Fahne [vermutlich: außen]. Und 'n großes Zeltlager haben die – is' ihr Gelände, Genossen. Die könn'n ebend diesmal uff ihr'm Gelände ooch ihre, ihre Schäfchen in Zelten schlafen lassen. Und wir wird'n ooch sicher über manche Dinge – na ja, ich sag's mit mein'n Worten wieder – drüber wegsehen müssen. Das is' Territorium des Staates, aber die Kirche hat das sozusagen jetzt zugesprochen gekriegt und dort könn'n sie ihr'n Kirchentag unter freiem Himmel machen. Es is' quasi ebend nun Kirchenterritorium, diese paar Stunden.
Is' alles schwer zu begreifen. Ich begreif ooch manches nich'. Aber wir war'n ja alle dafür, für die Entspannung, für – ich sag das immer wieder – nu' ha'm wa ooch d'e Entspannung in diesem- - auch auf diesem Gebiet und nu' müssen w'a ooch damit fertig werden.
[Ourtro]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten",
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs.
Wikipedia
Als "Fall Kohl" bezeichnet man den Rechtsstreit zwischen Helmut Kohl und der Bundesrepublik Deutschland um die Herausgabe von Stasi-Unterlagen über Kohl.
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