"Strömungen in Bewegung" von Luise Schröder
Informationen zum Fotoprojekt "Strömungen in Bewegungen" von Luise Schröder auf der Webseite der Robert-Havemann-Gesellschaft (externer Link)
MehrVeranstaltung „DDR auf der Bühne“: Luise Schröder (in der Videokonferenz), Nancy Biniadaki, Alexandra Finder, Dagmar Hovestädt, Nicolai Tegeler und Nadja Klier (von links nach rechts), Quelle: Bundesarchiv
Das Stasi-Unterlagen-Archiv wird nicht nur von Historikerinnen und Historikern oder von Menschen genutzt, die ihr eigenes Schicksal in der DDR aufklären wollen, sondern auch von zum Beispiel Künstlerinnen und Künstlern. In dieser Folge tauschen sich eine Schauspielerin, eine Dramaturgin, eine Fotografin und Autorin, ein Filmemacher und eine bildende Künstlerin über die Umsetzung von Aktenrecherche in künstlerische Projekte aus.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Herzlich willkommen! Mein Name ist Maximilian Schönherr, ich bin Rundfunk-Journalist und zusammen mit Dagmar Hovestädt Gastgeber des Podcasts. Dagmar Hovestädt leitet die Abteilung Vermittlung und Forschung im Stasi-Unterlagen-Archiv im Bundesarchiv.
Dagmar Hovestädt: Heute geht es um eine Nutzergruppe, die für jedes Archiv eine besonders interessante Gruppe ist. Archive sind ja in der Regel vor allem für HistorikerInnen und andere Forschende interessant, also für andere Forschungsdisziplinen, aber auch für Familienforscher zum Beispiel. Aber Archive und natürlich hier das Stasi-Unterlagen-Archiv können auch Inspiration für künstlerische Beschäftigung liefern. Und darüber sprechen wir heute mit fünf Personen: drei RegisseurInnen, einer Schauspielerin und einer bildenden Künstlerin, die alle im Stasi-Unterlagen-Archiv - ich sag mal, im Mindesten - eine Reibefläche gefunden haben, oft aber auch mit Unterlagen selbst gearbeitet haben.
Maximilian Schönherr: Das Gespräch gehört zur Veranstaltungsreihe Campus-Forum in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Berlin Lichtenberg — heute "Campus für Demokratie" genannt. Damit ich das richtig verstehe, weil ich auch nicht da war: Ihr behandelt dort unter unterschiedlichen Schlagworten Themen rund ums Archiv, also bei dieser Veranstaltungsreihe?
Dagmar Hovestädt: Das kann man so sagen. Die machen wir auch in Kooperation mit einem lokalen Partner, mit der Robert-Havemann-Gesellschaft und dann mit wechselnden Partnern je nach Abend. Aber wir haben die Themen des Campus-Forum, ich sag mal, auf drei Kategorien verteilt, die wir jeweils in einer Woche behandeln: Es geht um "Biografien in der Diktatur", um "Menschenrechte im Konflikt" und um "Archiv im Fokus". Und unter dem Punkt dann auch die Vielfältigkeit der Überlieferung, also der Dinge im Archiv, sowie die Vielfalt der Nutzenden und der Dinge, die diese mit den Archivalien - so nennt der Archivar das, was im Archiv steckt - anstellen.
Maximilian Schönherr: Da ihr im Gespräch direkt in medias res geht, also in die künstlerischen Prozesse, stellen wir hier am besten alle, die sprechen, einmal kurz vor. Die ersten beiden beschäftigen sich mit einem Thema, das wir im Podcast schon mal hatten: "DDR-Frauen für den Frieden". Da spricht die Schauspielerin Alexandra Finder über die Idee, aus dem, was die Frauen auf die Beine gestellt haben, ein Theaterstück zu machen. Dazu gehört die griechisch-deutsche Regisseurin Nancy Biniadaki, die das Stück mit entwickelt.
Dagmar Hovestädt: Ergänzen kann man dazu vielleicht auch noch, dass Alexandra Finder verschiedene Frauen aus der Gruppe anspricht - also in ihrer Antwort -, dazu gehören Irena Kukutz, Bärbel Bohley, Ulrike Poppe und Ruth Leiserowitz, die das Buch über die "Frauen für den Frieden" mitgeschrieben hat, das den Titel "Seid doch laut!" trägt. Das ist dann auch der Titel des Theaterstücks. Dann spreche ich mit Nadja Klier, einer Fotografin, Autorin und auch Regisseurin.
Maximilian Schönherr: Nadja Kliers Mutter ist Freya Klier, Theaterregisseurin und Autorin, die in der DDR von Partei und Stasi verfolgt und 1988 aus dem Land geworfen wurde, mit ihrem damaligen Partner Stefan Krawczyk und der 14-jährigen Tochter Nadja. Ihr redet über ihre Autobiografie und ein Bildungsprojekt namens DDR-Box.
Dagmar Hovestädt: Auch hier ergänze ich kurz, dass Nadja Klier die Keibelstraße erwähnt, also einen weiteren Gedenkort in Berlin. In der Keibelstraße war das Präsidium der Volkspolizei in Berlin-Mitte, in dem oft Festgenommene über Nacht eingesperrt wurden, weil es dort einen Knast gab, der eben heute eine Gedenkstätte ist: der Lernort Keibelstraße. Dann kommt Nicolai Tegeler zu Wort, Spielfilmregisseur, der über seinen Film "Zu den Sternen" spricht und dabei seine beiden Hauptprotagonisten, die Schauspieler Florian Martens und Günter Barton, erwähnt.
Maximilian Schönherr: Und schließlich gehört noch Luise Schröder in die Runde, die aber nicht vor Ort war, sondern per Video-Schalte aus Paris dazustieß. Sie berichtet unter anderem über ein Foto-Projekt, bei dem sie Fotografien aus dem Bestand der Robert-Havemann-Gesellschaft ausgesucht und sie künstlerisch verfremdet inszeniert hat. Da ging es dann nicht um die Verwendung von Stasi-Unterlagen, oder?
Dagmar Hovestädt: Das ist richtig. Der Bestand, den sie dazu benutzt hat - also Bestand ist ja auch so ein Archivwort, der beschreibt was in einem zusammengehörigen inhaltlichen Container so drinsteckt -, heißt "GrauZone" und dokumentiert die Arbeit der nichtstaatlichen Frauengruppen in der DDR seit Mitte der 1980er-Jahre. Dieser Bestand umfasst ungefähr 2.000 Fotos. Und richtig, Luise Schröder hat für dieses Projekt ein anderes Archiv ausgesucht, nämlich das der DDR-Opposition, also der Robert-Havemann-Gesellschaft, mit der wir aber diese Veranstaltungsreihe gemeinsam gemacht haben. Das Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft ist zudem ja auch auf dem Campus untergebracht und wir sind quasi füreinander das, was der Archivar die "Gegenüberlieferung" nennt, also eine andere Quelle zum gleichen Sachverhalt, die aber die Dinge eben aus einer anderen Perspektive darstellt. Das ist immer sehr hilfreich, auch die Gegenüberlieferung zu checken.
Maximilian Schönherr: Damit starten wir jetzt mit dem Gespräch über Archivalien in Film, Foto und auf der Bühne.
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Dagmar Hovestädt: Wie kommt man darauf, aus dem Buch über diese Frauenfriedensgruppen ein Theaterstück zu machen? Die Idee war von Alexandra Finder?
Alexandra Finder: Ich hatte mich beschäftigt mit den Geschlechterunterschieden in der politischen Partizipation und dann war es die berühmte Fußnote in einem wissenschaftlichen Buch, wo stand: Irena Kukutzs Interviews mit den "Frauen für den Frieden". Und ich bin selber in der DDR großgeworden, geboren und aufgewachsen und wusste überhaupt nicht, wer das ist, und interessanterweise auch meine Mutter nicht und auch einige andere, die ich aus meinem Bekanntenkreis gefragt habe. Dann habe ich ein bisschen gegoogelt - das geht ja heute so einfach - und auch noch witzigerweise kam kurz zuvor, Ende 2019, das Buch "Seid doch laut!" heraus. Das habe ich mir sofort gekauft und habe in diesem Zeitraum kurz davor Nancy Biniadaki kennengelernt. Ich habe ihr davon erzählt und sie war so begeistert, hat sich das Buch gekauft und war genauso begeistert wie ich von dieser Geschichte der Frauen, von ihren Erinnerungsberichten. Ich hatte mir auch auf YouTube die Buchvorstellung angeschaut. Als ich das tat, hatte ich aber nicht mitbekommen, dass die in diesem Raum stattfand. Aber ich habe sehr deutlich herausgehört, dass den Frauen so wichtig war, diese Geschichte zu erzählen aus ihrer Perspektive, und dass es nicht um eine IM Monika Haeger geht und auch nicht um die Staatssicherheit. Und da entstand der Gedanke, erst genau an diesem Ort, an die Frauen zu erinnern, sie sprechen zu lassen. Deshalb machen wir es an diesem Ort als site-specific und genau der Stasi, der Staatssicherheit, keinerlei Stimme zu geben. Sie wird hier nicht sprechen. Und das ist genauso, wenn wir uns jetzt mit den Archiven beschäftigen. Wir gehen nicht in die Unterlagen der Stasi, sondern wenn wir etwas über die Stasi erfahren, dann ist es aus der Perspektive der Frauen. Wir sind zum Beispiel hauptsächlich im Robert-Havemann-Archiv und wir besuchen die Frauen, die zum Glück fast alle noch am Leben sind. Und dann ist noch sehr wichtig zu sagen: Wir sind fünf Performerinnen und alle fünf Performerinnen, das war uns auch sehr wichtig, sind in der DDR geboren und auch hier aufgewachsen, haben selber diese Erfahrung. Nancy wird dazu gleich noch mehr sagen.
Dagmar Hovestädt: Aus der abstrakten Idee ist etwas ganz Konkretes geworden und das sich dann sozusagen bis hin auf einen ganz konkreten historischen Ort runterbrechen lässt, an dem jetzt ein Theaterstück entstehen soll. Wie geht man da ran an das Theaterstück?
Nancy Biniadaki: Dann kam natürlich die große Frage: Was macht man, wie geht man von einem Archiv, von diesem Zeitzeugnis hin zu einer Dramaturgie? Wie machen wir das Historische ins Dramatische? Welche Geschichte erzählen wir? Man könnte Tausende Geschichten erzählen: Die Geschichte einer Frau, die Geschichte der Gruppe, die Geschichte von der historischen Perspektive, vom großen G. Ich will nicht viel dazu sagen, denn wir sind noch bei den Proben. Aber wichtig ist, dass wir von diesem großen Material eine ganz ganz strenge Auswahl gemacht haben. Und wir haben versucht, wirklich zu finden, wo wir uns in diesem Material finden. Was bedeutet für uns heute diese Geschichte? Was können wir über uns erzählen? Und deswegen ist es wichtig, dass die Schauspielerinnen alle solche Erfahrungen haben. Ich habe sie nicht. Aber trotzdem gibt es Themen, die mir sehr sehr wichtig sind. Und dann kam die Aktualität und hat leider den Texten dieser Frauen so eine andere Bedeutung gegeben und eine andere Verantwortung an uns auch, wie wir mit dieser Geschichte umgehen. Denn es ist nicht mehr so weit weg.
Dagmar Hovestädt: Es gibt einen aktiven Krieg mit viel Brutalität. "Frauen für den Frieden" hat dann einen ganz neuen Kontext erhalten. Trotzdem habe ich noch eine Frage zu dem Projekt noch: Diese dezidierte Entscheidung, ein Archiv gar nicht sprechen zu lassen, auch das Schweigen des Stasi-Archivs, des Stasi-Unterlagen-Archivs oder der Unterlagen der Stasi, ist eine Entscheidung und die Erzählung der Frauen, diese Perspektive stark zu machen, ist das andere.
Alexandra Finder: Man muss sagen, die Staatssicherheit hat uns auch einen riesen Bärendienst getan. Ich möchte ein ganz kurzes Zwei-Sätze-Zitat von Barbe Maria Linke, die auch eine der Frauen ist, erzählen. Sie schrieb: "Die Seele ist verletzbar, das habe ich erfahren. Stellen Sie sich vor: Sie haben keine einzige Schublade, in die Sie Ihre Notizen legen können, jeder Raum ist vom Geheimdienst vermessen, jedes Wort kann mitgeschnitten werden, jede intime Handlung wird belauscht." Das heißt, es gibt die Erinnerungen, aber es gibt keine Notizen oder Aufzeichnungen, die die Frauen damals '82, in den 80er-Jahren, vor Ort gemacht haben, aber es hat die Staatssicherheit gemacht bis zu einem Telefongespräch, wo Ruth Leiserowitz jubelnd zu Irena sagt beziehungsweise die Stasi beschimpft: Wir haben es geschafft! Diese Deppen! Wir haben es geschafft, dass der Jüdische Friedhof bleibt. Oder auch die ganzen Nachtgebete, die damals in den Kirchen stattfanden, in der Auferstehungskirche, die die Frauen initiiert haben, wo andere Frauen nach vorne traten und geklagt haben. Die gibt es eins zu eins noch, weil die Staatssicherheit natürlich vor Ort war und dezidiert mitgeschrieben hat, also Dankeschön [lacht] in dem Augenblick an die Staatssicherheit.
Nancy Biniadaki: Ein letztes Ding möchte ich sagen, um das zu schließen über die Dramaturgie. Was schon bei der ersten Lesung des Buches wichtig war: Die Aktionen, die diese Frauen gemacht haben, die waren so kreativ. Die haben wirklich geschrien: Das ist eine Szene. Sie haben nicht nur demonstriert, sie haben nicht nur ihre Meinung gesagt, sie haben einen Weg gefunden, das in etwas anderes zu machen und sehr emotional. Und das war, zumindest für mich, was sofort einen Zugang vorbereitet hat.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, wir können noch nicht so richtig einen Werkstattbericht machen. Wir haben ein Foto, da hat sozusagen eure Szenenbildnerin sich ein bisschen mit diesem Ort beschäftigt, der Blick raus aus den Fenstern hier. Kann man schon verraten, welche fünf Frauen gespielt werden?
Alexandra Finder: Das werden wir so nicht machen. Es wird keine Schauspielerin eine spezielle Rolle als Frau übernehmen. Es wird nicht psychologisiert. Es waren ja auch viel mehr als fünf Frauen. Genau, das können wir schon mal sagen.
Nancy Biniadaki: Und wir wollen ein bisschen weiter vom Naturalismus gehen, dass wir nicht jede Figur mit jedem Detail beschreiben, sondern wir versuchen zu verstehen, was diese Frauen bewegt hat, und am Ende wollen wir sie nicht in einer Gruppe alle zusammen so verschmelzen lassen. Ihre Individualität kommt raus. Aber am Ende ist es nicht so wichtig, ob das Irena oder Ulrike oder Bärbel oder wer es gesagt hat. Den Mut, den sie gefunden haben, das ist das Wichtige.
Dagmar Hovestädt: Also die Zeitzeugen, die Archivalien, die von der Stasi bewahrten Aussagen und das, was im Havemann-Archiv zu finden ist, all das ist die Grundlage für euch, daraus ein Theaterstück zu machen. Dann gehen wir zu Nadja Klier und landen da im Laufe des Gesprächs bei DDR-Box, aber fangen, glaube ich, erst mal an mit dem schriftstellerischen Dasein und mit der Autobiografie "1988. Wilde Jugend", weil das gar nicht so unwichtig ist dafür, sich mit DDR überhaupt zu beschäftigen.
Nadja Klier: Ich habe in der Tat ein Buch geschrieben über die Ausbürgerung, also eigentlich über meine Jugend in der DDR bis zur Ausbürgerung und eigentlich dem auch ziemlich schmerzhaften Verarbeiten dieser Erfahrungen, die ich als 15-Jährige machen musste, die ich mir auch nicht aussuchen konnte. Ich habe mir das nicht vorgenommen, sondern nach der Trennung von meinem Kindsvater bin ich in so ein Loch gefallen und kurz bevor das passiert ist, habe ich eine ganz tolle Therapeutin kennengelernt, die Traumatherapeutin ist. Die macht EMDR-Therapie, was meistens für Kriegsopfer, für Missbrauchsopfer Anwendung findet, aber auch einfach für viele Arten von Traumata, die sehr tief versteckt werden im Körper. Und das hat bei mir wie die Faust aufs Auge eingeschlagen, wie man so schön sagt. Ich habe dann wirklich gemerkt, dass ich mein inneres Kind in der DDR vergessen habe. Also, ich war abgeschnitten, war unvollständig und ich habe das aber alles nicht bewusst gedacht. Ich habe nicht gedacht: Ah, ich habe ein Trauma. Na gut, dann schreibe ich jetzt ein Buch. Ach, das ist ja eine prima Therapie und danach geht es mir super. Nein, gar nicht. Ich habe einfach geschrieben und es ist so aus mir herausgeströmt wie aus so einem Wasserhahn, der kaputt ist und läuft und läuft und läuft und läuft. Das Buch selber zu schreiben, ging relativ schnell. Ich habe dann, als ich die erste Runde fertig hatte, natürlich eher so Sachen recherchiert, die DDR-typisch sind, weil ich mich natürlich erinnere. Aber man kann sich, wie ihr wisst, manchmal falsch oder nicht richtig erinnern. Dann erzählt ein anderer was, dann denkt man: War das meine eigene Erinnerung oder seine? Also ich habe dann noch ein bisschen auch recherchiert, was so echte Fakten zur DDR angeht, seien es Preise, Orte, also die richtigen Plätze, die alten Namen. Und als das Buch fertig war und das Cover im Prinzip feststand, habe ich, weil ich ja sowieso die Akten meiner Mutter seit, ich glaub, 1996 schon kannte, auch operative Vorgänge zu meiner eigenen Person da drin finden musste, schon sehr viel Aktenmaterial gesehen und auch immer wieder darin recherchiert und auch natürlich für das Buch noch zwei, drei Sachen nachgeguckt. Und dann kam was, was normal ist, wenn man mal irgendwann eine Akteneinsicht beantragt und das läuft, und die suchen ja noch weiter, das ist ja nicht abgeschlossen. Die Keller und Archive sind ja voll. Dann kriegst du plötzlich einen Brief: Bitte kommen Sie mal - in dem Fall - in die Karl-Liebknecht-Straße - noch BStU -. Wir haben da was gefunden. Und dann habe ich einen Bildbericht bekommen von unserer Wohnung, der 1988 gemacht wurde bei einer Hausdurchsuchung, wo wir schon weg waren. Also, im Prinzip war das noch eine Hausdurchsuchung nach unserer Ausbürgerung. Und das, was ihr hier hinten drauf in halbblass unter der Schrift seht, ist eine Wand mit wahnsinnig viel Madonna-Postern und einem ungemachten Bett. Das war mein Kinderzimmer. Ich hoffe, ich fange jetzt nicht an zu heulen, weil das ist immer so viel. Ich wusste erst mal nicht, was ich dazu sagen sollte. Fand ich das jetzt gut oder scheiße, dass jetzt irgendwie unsere ganze Wohnung - es war ja nicht nur mein Zimmer - da drin war? Und dann habe ich mir das ganz lange angeguckt und am Ende habe ich beschlossen, mich zu freuen, dass es das überhaupt gibt, und habe beschlossen, das einfach hinten aufs Buch drauf zu machen. So, nur mal so, weil wir zu diesem Hauptthema wieder kommen: Wie kann man mit Akten und Kultur irgendwie umgehen und das machen? Ich habe auch niemanden gefragt, ob das okay ist oder sonst was. Ich habe das einfach für meinen Bauch beschlossen.
Dagmar Hovestädt: Es ist ja sicherlich auch eine besondere Situation. Das ist ja nicht ein übliches staatliches Verhalten, dass man Privatwohnungen rauf- und runterfotografiert von Menschen, die man aus dem Land gejagt hat, weil sie von ihrem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht haben. Das war ja im Fall von Freya Klier und auch Nadja Klier dann der Fall. Und das Interessante ist, dass es auch lange Zeit braucht manchmal, selbst für jemanden, der das jung erlebt hat und eigentlich gar nicht als so dramatisch erlebt hat, um festzustellen, dass es eben doch ein massiver Eingriff in das Leben war.
Nadja Klier: Ja, es sind sogar nicht nur 28 Jahre, sondern 31 Jahre später habe ich die Fotos dann bekommen. Also, meine Mutter hat sich sehr lange mit Aufarbeitung beschäftigt und viel an Schulen gelesen, Workshops gehalten, viele Bücher geschrieben. Ich wollte das nie machen. Ich war wirklich immer Fotografin für Porträts und Kinospielfilme und habe das auch geliebt, habe aber gemerkt mit dem Schreiben dieses Buches, dass es da eine Seite in meinem Leben gibt, die irgendwie da trotzdem drüber sprechen und es bearbeiten möchte, und habe dann gemeinsam mit meinem Mann Ingo Hasselbach, mit dem ich seit 2018 verheiratet bin, einen Kurzfilm gemacht, und zwar mitten in der Corona-Pandemie hatten wir Geld für eine ganz klitzekleine Veranstaltung. Die durfte aber nicht geschehen und wir hätten das Geld zurückgeben müssen. Dann habe ich gesagt: Nö, das will ich nicht, das machen wir irgendwie anders. Und dann haben wir wirklich in wenigen Tagen mit wenig Aufwand, also vier Tage, haben wir hier auf dem Gelände im Stasi-Museum gedreht, in Bautzen und in der Keibelstraße Interviews mit uns beiden gedreht zu unseren Biografien, aber geführt von Teenagern.
Dagmar Hovestädt: Und das können wir uns sogar mal kurz angucken, weil wir haben so einen kleinen Zusammenschnitt-Trailer von dem Projekt. Das heißt "Frag mich"?
Nadja Klier: Nee, der Film heißt "Wir wolln euch mal wat fragen!".
Dagmar Hovestädt: Genau. Den zeigen wir jetzt mal kurz.
[Ausschnitt Trailer]
[Hintergrundmusik: Feeling B - Artig]
Ingo Hasselbach: Wir wollten Spaß haben. Also das ist, was alle Jugendlichen wollen. Ich hatte einen PM 12, das war die Variante des DDR-Personalausweises, auf dem draufstand: "Für eingezogenen Ausweis". Fast alle meine Freunde hatten einen PM 12. Mit diesem Stück Papier konnte man Berlin nicht mehr verlassen, durfte nach 22 Uhr nicht mehr auf der Straße sein, damit war man vogelfrei.
Nadja Klier: Sie hatten mich immer auf dem Kieker, weil ich war ja sozusagen die Tochter einer Oppositionellen. Ja, also, was heißt normal? Meine Eltern hatten Arbeitsverbot. Meine Eltern hatten Berufsverbot.
Ingo Hasselbach: Ich bin aber das erste Mal richtig inhaftiert worden mit 18.
Interviewerin: Wofür?
Ingo Hasselbach: Auf einem Fest in Lichtenberg, das war das Druschba-Fest, heißt Freundschaft auf Russisch, gerufen: Die Mauer muss weg! Wir mussten uns nackend ausziehen, dann wurden wir abgeduscht, entlaust, weil die haben ja gesagt-
Interviewerin: Entlaust?
Ingo Hasselbach: Ja, die haben uns halt als Dreckschweine bezeichnet.
Interviewerin: Wie hast du versucht zu flüchten?
Ingo Hasselbach: Über das damalige Länder-Dreieck DDR, Tschechien, BRD. Und die Stasi wusste, dass wir kommen, hat in Dresden auf dem Hauptbahnhof auf uns gewartet und da gab es dann die 3-jährige Haftstrafe.
[Musik]
Nadja Klier: In der vierten Woche des Jahres wird meine Mutter Freya verhaftet und nach Hohenschönhausen gebracht. Zwei Tage nach meinem 15. Geburtstag will ich das erste Mal seit einer Woche allein in unserer mehrfach von der Stasi durchsuchten Wohnung schlafen. Fremde Menschen haben alles durchwühlt, Tagebücher, Briefe, Manuskripte mitgenommen. Wie ein ängstliches Tier schleiche ich mich rein in das, was bisher unser Zuhause war. Wir sind ausgebürgert worden am Morgen des 2. Februar 1988.
[Musik]
Ingo Hasselbach: Also, ich war dann in Brandenburg eine ganze Weile und habe da im Gefängnis zwei Alt-Nazis getroffen. Die haben im Prinzip meinen Hass, den ich entwickelt hatte auf dieses System, in eine andere Richtung gelenkt. Als ich aus dem Gefängnis kam, war ich im Prinzip eine tickende Zeitbombe.
[Musik: Fehlfarben - Hier und jetzt]
[Ende Ausschnitt Trailer]
Dagmar Hovestädt: "Wir wolln euch mal wat fragen". Kurzer erster Einblick in das Projekt. Da sind Zeitzeugenschaft und Archivalien gut miteinander verbandelt und zwei sehr unterschiedliche Biografien in der DDR.
Nadja Klier: Wir haben also unsere beiden Biografien zum Anlass genommen, um damit mal zu starten. Es gibt ja noch wahnsinnig viele andere wirklich spannende, tolle, traurige oder auch mal lustige Biografien. Manchmal sind sie auch lustig, selten. Aber was ich sagen wollte: Wir haben ja anders als ihr, also bei eurem Projekt, sehr sehr viel Stasi-Archivmaterial dabei. Und umso länger ich drüber nachdenke, um das nur mal kurz dazwischen zu werfen, bevor wir zur DDR-Box springen, bin ich dankbar. Also, das Wort dankbar ist total fehl am Platz, aber es ist eigentlich wirklich gut, dass die alles so perfide aufgeschrieben und dokumentiert haben. Ich glaube, hätten wir das nicht, würde noch viel weniger da sein. Es geht gar nicht darum, dass man die DDR wiederhaben will, sondern dass man aber akzeptieren muss, dass dieses Land 40 Jahre existiert hat, dass sehr viele Identitäten von sehr vielen jungen Menschen oder auch älteren Menschen dort aufbauen, die erst mal flöten gegangen sind. Und deshalb ist es meines Erachtens ganz gut und wichtig, mit diesen Dokumenten zu arbeiten. Und umso schöner ist es, wenn man sich dem auf ganz unterschiedliche Art und Weise annähert, eben zum Beispiel aber auch zu sagen: Nee, wir benutzen die jetzt mal nicht, wir wissen ja, dass es die gibt, und wir machen das eben auf der emotionalen Zeitzeuginnen-Seite. Und bei uns ist es so: Wir wollen es auch gerne kombinieren, weil das ist natürlich schon abgefahren, wenn die Jugendlichen auch in Schulen, wenn Ingo und ich da Workshops halten, das lesen, dass die das wirklich- Auch wenn wir denen die Daten zeigen, wie viel Tausend Blätter - 2.048 von 4.000 - das sind. Also ich meine, da kriegst du eine Vorstellung, was das macht. Und zur DDR-Box-
Dagmar Hovestädt: Ja, aber letztendlich ist es ja die Idee, sich auch ein spezifisches Publikum auszusuchen für die Erzählung. Das Buch ist für die Allgemeinheit, aber die DDR-Box oder das Weitererzählen an die nächste Generation ist noch was Neues, was dazugekommen ist, was für euch wichtig war?
Nadja Klier: Ja, also wie gesagt: Mit diesem Buch ging natürlich dann die Lesereise und die Einladung los an Schulen im ganzen Bundesgebiet, vermehrt im Westen, jetzt der Ostteil - den erobern wir ganz langsam, es ist immer nicht so leicht, dort Fuß zu fassen. Aber wir haben festgestellt, die wissen überhaupt nichts von der DDR. Da wird ganz wenig unterrichtet, also vielleicht in neuen Bundesländern mehr, aber wie gesagt, da haben wir noch nicht so viel gelesen. Und dann haben wir gesagt: Okay, das kann nicht sein, dass das so ein krasses Defizit ist, wenn ein Fünftel der bundesdeutschen Bevölkerung aus der DDR kommt beziehungsweise ihre Wurzeln in der DDR hat, das muss man einfach ändern. Und dann haben wir gedacht: Okay, nicht falsch verstehen, die Bundeszentrale für politische Bildung macht eine super Arbeit, aber die übernimmt halt ganz Europa. Das heißt also, was unser Fokus ist, ist DDR, spezifisch für Jugendliche. Und das heißt? Was machen wir? Wir werden kurze Erklärvideos machen à la MrWissen2go, von Jugendlichen selbst erzählt, die wir extra dafür gecastet haben. Meistens sind es in der Tat Jungschauspieler, die Lust haben am Ausprobieren, toll sprechen können und performen, aber auch einfach ein super netter Schüler aus Stuttgart, der uns bei einer Lesung so begeistert hat. Das ist das eine Format. Also, wir suchen uns tolle Themen raus, wir fragen auch die Jugendlichen, wir binden die ein. Wir fragen: Wollt ihr was über Rassismus oder über die Mauer? Also, es gibt ja auch schon sehr viel. Wir nehmen in diese kurzen Videoclips sehr viel Archivmaterial, so ähnlich wie der Trailer. Das ist das eine Format, das ist so ein bisschen das Faktenwissen. Und das ergänzen wir mit kurzen Zeitzeugen-Clips. Dafür haben wir extra eine DDR-Box gebaut. Leider habe ich jetzt nicht an die Regie ein Foto abgegeben, aber es wird bald zu sehen sein. Wir sind sehr dankbar, dass wir hier auf diesem Gelände, ich sage mal so, einmal im Vierteljahr eine Box aufbauen, die ist richtig, also wie ein Studiobau in so einem großen Multifunktionsraum mit Originalblick auf Lichtenberg und die Frankfurter Allee und wie ein kleines DDR-Wohnzimmer eingerichtet, fast klischeehaft. Und dort sitzt ein Jugendlicher und fragt einen Zeitzeugen. Wir hatten jetzt Florian Lukas, den Schauspieler, wir hatten "Flake" Lorenz von Rammstein, wir hatten Ahne, das ist ein ganz toller Schriftsteller - "Zwiegespräche mit Gott" macht er -, wir hatten Katharina Palm, das ist eine Schauspielerin, die auch eine sehr berühmte Mutter in der DDR hatte, Fernsehregisseurin war und Republikflucht begangen hat, und meinen Mann. Also, da kommen noch ganz ganz viele zu verschiedenen Thematiken. Die schneiden wir in kurze Clips, weil wir wissen, dass die Aufnahmespanne von Jugendlichen gewöhnlicherweise kurz ist. Das heißt, wir passen uns natürlich an, das können wir. Genau, und das Ganze wird dann auf einer Plattform zu sehen sein ab Januar 2023: www.ddrbox.de. Und wir sind dankbar, wenn ihr euch gerne bei uns meldet, wenn ihr tolle ZeitzeugInnen habt zu diversen Themen. Also schreibt uns einfach eine E-Mail. Wir freuen uns wahnsinnig. Oder auch, wenn ihr junge Leute habt, die sich dafür interessieren und mitmachen wollen, also Teenager zwischen 18 und 21, die laden wir alle ein. Schickt es rum, fragt.
[Jingle]
Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Sehr schön. Jetzt wissen wir, was die DDR-Box ist. Vielen Dank, Nadja Klier. Dann gehen wir zu einem sehr viel längeren Projekt - von Nicolai Tegeler -, nämlich einem Spielfilm. Der braucht ein bisschen mehr Aufmerksamkeit, 90 Minuten waren das: "Zu den Sternen". Vielleicht einfach zum Einstieg eine kurze Hinführung zu dem Trailer. Wir haben so 'nen einminütigen Trailer zum Film. Muss man vorher was wissen?
Nicolai Tegeler: Ach, ich glaube, der steht für sich. Ich lasse jetzt erst mal schauen, dann sagen wir gerne was dazu.
Dagmar Hovestädt: Dann lassen wir kurz den Film-Trailer abfahren. Dann wissen wir alle ein bisschen mehr.
[Beginn des Trailers]
[Klaviermusik]
[Szene 1:]
[Rollenname Johanna Dudek:] Das ist fantastisch!
[Korkenknallen]
[Rollenname Marco Hoffmann:] [lacht] Sehr gut!
[Szene 2:]
[Rollenname Volker Hinze:] Aha, Jesus ist zurück.
[Rollenname Marco Hoffmann:] Ist er das? Dein altes Tape?
[Szene 3:]
[Rollenname Volker Hinze:] Daran kannst du dich erinnern?
[Rollenname Marco Hoffmann:] Auf die Kosmonauten!
[Soundeffekt]
[Szene 4:]
[Rollenname Marco Hoffmann:] Dich interessiert doch nicht die Wahrheit.
[Klaviermusik]
[Szene 5:]
[männlicher Sprecher:] Marco Hoffmann?
[Rollenname Marco Hoffmann:] Ja.
[Schussgeräusch]
[Ende des Trailers]
Dagmar Hovestädt: Kurz und dramatisch.
Nicolai Tegeler: Oh ja. Schön, ne? Die Musik ist auch ganz toll, finde ich. "Zu den Sternen" ist ein Film, der quasi nicht primär um die DDR-Aufarbeitung geht, sondern eigentlich - und das war meine Motivation, den überhaupt zu machen: Da treffen sich zwei Menschen, die waren wie Blutsbrüder in der Zeit der DDR und der eine vermutet aber, dass der andere ihn verraten hat an die Stasi. Und dann kommt es, wie es kommen muss: Die DDR brach zusammen und dreißig Jahre später treffen die sich quasi wieder, in der heutigen Zeit. Der eine hat eine riesige Karriere gemacht, der andere ist leider so ein bisschen auf der Strecke geblieben und es kommt zu einer Gegenüberstellung. Und das fand ich so spannend, auch gerade, was ich hier von euch noch mal mitbekomme und auch in meiner Recherche vorher. Ich bin gar nicht in die Archive gegangen. Ich habe mit Zeitzeugen ganz viel gesprochen. Ich wusste, dass es euch gibt, aber ich wollte nicht mit- Also, es gab ganz viele Drehbuchversionen und ich glaube, Nancy kann mir da auch recht geben: Es ist ja immer eine Sache, wenn man dann unterwegs ist und Förderungen anfragt. Und - na ja - dann wird man irgendwann achtzig und ob man den Film dann überhaupt noch macht, weiß ich nicht. Also dachte ich: Ich mache es jetzt erst mal selber. Und bin dann mit der ersten Drehbuchversion baden gegangen. Dann haben wir noch mal rumgeschrieben und ich dachte mir: Nee, ich will es aber unbedingt machen. Und die Version, die da entstanden ist, ist fast ein Kammerspiel, die dann aber durch ganz viele Interviews, die ich geführt habe mit Zeitzeugen, auch mit meinem Stiefvater, der aus Sömmerda kommt, der auch Republikflucht begangen hat- Das, was mich da antrieb, war die Tatsache, dass da Menschen, denen ich in den Interviews begegnet bin, teilweise von ihren - ja - Onkels, Brüdern abgehört wurden und dreißig Jahre später sie dann doch wieder am Tisch sitzen und sich gegenseitig teilweise verziehen haben. Und jeder hatte eine eigene Motivation, das zu machen. Wir sind ja heute immer ganz schnell in der Tatsache, dass wir sagen: Na ja, wir sind ja hier in einer politischen Veranstaltung mehr oder weniger, wir haben ja aktuell den Ukraine-Krieg und da gibt es verschiedene Meinungen. Das darf man auch alles anhören, aber ich finde es wahnsinnig schwierig, sich auf eine Seite zu stellen, weil jede Seite ist richtig und falsch zugleich. Und ich finde, man muss es aufarbeiten. Mir war wichtig, dass man die Demokratie, also die Meinungsfreiheit, das eigene Sagen, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit, dass man das wieder hat und dass man-, was mit Menschen passiert, die aus so einer Vergangenheit kommen, was sie antreibt, was sie erlebt haben und wie sie mit ihrem näheren Umfeld umgehen.
Dagmar Hovestädt: Und wie lange da auch die Nachwirkungen sind aus dem Leben in der Diktatur. Eine Idee der Öffnung der Stasi-Akten vor dreißig Jahren ist ja, dass man sich darüber austauschen kann, was gewesen ist, und dass man eine Voraussetzung schafft, das auf den Tisch zu packen, sich über die Tatsachen, Fakten, die Wahrheiten auszutauschen, um Versöhnung vielleicht zu ermöglichen. Und das ist ja ein zentrales Thema bei dem Film, ne?
Nicolai Tegeler: Ja, ganz genau. Also, ganz spannend in dem Gespräch: Ich war dann tatsächlich nicht hier, diesen Platz hier habe ich erst durch die wunderschöne Vorstellungsreihe letztes Jahr erfahren können. Ich kannte ihn natürlich, aber ich war nicht hier, sondern ich war in Hohenschönhausen und hatte da auch in ganz vielen Gesprächen-
Dagmar Hovestädt: In der Gedenkstätte des zentralen Stasi-Gefängnisses.
Nicolai Tegeler: Genau, das hat mich so beeindruckt und auch so beklemmt. Ich hatte tatsächlich auch vor, dass wir da ein bisschen was drehen. Das hat dann aufgrund der Drehbuchvarianten nicht mehr geklappt, aber aus diesen Erfahrungen ist das entstanden, auch in Zusammenarbeit mit Florian Martens, der ja auch aus der DDR stammt, was mir ganz wichtig war, dass er da auch so ein authentischer Mensch ist. Der Günter Barton ist tatsächlich nicht aus der DDR, aber in dem Zusammenspiel fand ich es ganz gut, was da passiert ist, auch, wie sie aneinander getreten sind. Ja, bitte?
Nadja Klier: [unverständlich] Spielfilm. Also, du hast ja Handlungsfreiheit, du kannst ja besetzen, wie du möchtest. Ich find das auch ganz wichtig, dass man sich dieser Freiheiten immer bedient und jetzt nicht sagt, das muss jetzt nur irgendwie aus dem Osten sein oder so.
Nicolai Tegeler: Geb ich total recht. Ich fand nur, gerade mit Florian hatten wir jemanden, der das auch alles erlebt hat. Und auch dieses Gebrochene, also der hat das. Das war mir auch wichtig. Ja, genau.
Dagmar Hovestädt: Wobei wir ja bei euch gehört haben, dass die biografische Erfahrung DDR durchaus wichtig ist für das Spielen des Theaterstücks.
Alexandra Finder: Es war - ähm - weil ich selber aus der DDR bin. Es war eigentlich erst mal fast nur so 'ne Idee. Und die, die jetzt auch alle dabei sind, kenne ich fast alle auch privat, tatsächlich auch jemanden, mit der ich in der DDR zusammen im Pionierpalast getanzt habe, oder auch jemanden mit der zusammen ich auf der Schauspielschule war. Aber als wir dann so eine Art Vorsprechen oder so Kennenlern-Vorsprechen gemacht haben, das war so krass, was für eine Verbindung da entstanden ist, dass man- und auch diesem - das hört sich jetzt vielleicht blöd an - Heimat. Also, man spricht plötzlich die gleiche Sprache. Ist ein riesengroßer Unterschied, als wenn ich jetzt 'ne Kollegin, sage ich jetzt mal, die diese Geschichte nicht erlebt hat- Und das wird auch bei uns in der Performance wichtig sein, dass unsere Geschichte auch dort einen Platz findet. Und die Kinder, wir könnten die Töchter sein von diesen tollen Frauen in der Opposition.
Nancy Biniadaki: Und dann kommt natürlich noch ein Element dazu: Wie man das Originalmaterial, was wir im Archiv, was wir im Buch gefunden haben, nicht nur mit den neuen Interviews der Frauen kombiniert, sondern auch mit den Erinnerungen der Schauspielerinnen. Und dann am Ende ist nicht nur verschmolzen, was gesagt worden ist - nicht nur von den Frauen, sondern auch von den Schauspielerinnen, weil es gibt eine ganze Reihe von Frauen, die etwas zu sagen haben.
Nadja Klier: Weil du hast ja gerade gesagt, ihr seid jünger.
Nancy Biniadaki: Die sind die Töchter. Die könnten die Töchter sein.
Dagmar Hovestädt: Es sind verschiedene Generationen, verschiedene Ebenen der Erinnerung, verschiedene Geschichten, die zusammenkommen und sich daraus entwickeln. Das ist eigentlich ein gutes Stichwort für Luise Schröder, die schon die ganze Zeit geduldig zuhört in Paris. Ja, wie wird Geschichte gebaut, wie wird erinnert? Das ist sozusagen auf verschiedene Art und Weisen künstlerisch hier vorgetragen worden. Wir können uns das überlegen. Luise Schröder, wollen Sie kurz reagieren, auf das, was Ihnen durch den Kopf ging, als Sie zugehört haben, oder sollen wir zunächst auf Ihr Projekt eingehen?
Luise Schröder: Vielleicht erst mal Hallo an alle, die zuschauen und vor Ort sind! Vielleicht ist tatsächlich "Frauen für den Frieden" ein ganz interessantes Stichwort, weil dieses Konvolut an Bildern ist mir natürlich in meiner Recherche auch begegnet. Die habe ich mir auch angeschaut. Und ich habe für mein Projekt "Strömungen in Bewegung" mit der Robert-Havemann-Gesellschaft zusammengearbeitet, und zwar mit einem ganz ganz kleinen Bildbestand aus dem "GrauZone"-Bestand. Der "GrauZone"-Bestand an sich besteht nicht aus wahnsinnig vielen Dokumenten, er dokumentiert vor allem Frauen- und Lesben-Aktivitäten zwischen 1980 und 1991 und ist ein Archiv, das von Samirah Kenawi auch größtenteils initiiert und zusammengetragen wurde und dann an die Robert-Havemann-Gesellschaft gegangen ist. Es ist sozusagen heute Bestandteil von dem Archiv der DDR-Opposition. Ich konnte ziemlich viele Sachen jetzt auch nachvollziehen nach dem, was ihr erzählt habt, weil ich mir diese Bilder auch angeguckt habe. Die sind aber noch mal ein bisschen anders. Ich als Fotografin beziehungsweise bildende Künstlerin arbeite eben ganz viel mit Archiven zusammen und habe dieses Projekt "Strömungen in Bewegung" im letzten Jahr in Kooperation mit dem Archiv zusammen realisiert. Es ist so, dass ich dort Bildmaterial von fünf Frauen benutzt habe, nämlich Bettina Dziggel, Kerstin Baarmann, Leo Tesch, Mechthild Ziegenhagen und Christine Starke, die eben selbst auch in diesen Gruppen aktiv waren und auch diese Aktivitäten glücklicherweise dokumentiert haben. Um mal diesen Arbeitsprozess vielleicht ein bisschen zu beschreiben und das Archiv wirklich noch mal in den Blick zu nehmen: Ein Archiv, egal aus welcher Perspektive es konstruiert wird oder wer dieses Archiv konstruiert und baut, es ist immer ein Ausschnitt und es ist immer ein bestimmtes, sag ich mal, Machtgefüge, was in dieses Archiv eingeschrieben ist, und je nachdem, wer dieses Archiv benutzt, wie es ausgestattet ist, wo es herkommt, lässt sich das interessanterweise auch an den Sachen, die man dort drin findet, irgendwie auch ein Stück weit ablesen. Und das was ich gemacht habe, gerade wenn man jetzt vielleicht auch das Bild sieht: Es ist eine 20-teilige Arbeit, die aus diesen Fotografien von den eben beschriebenen Frauen besteht. Es sind aber auch Herausvergrößerungen aus deren Bildern, das heißt, es ist für mich als Künstlerin auch noch mal wie so eine Art Übersetzungsprozess. Ich zoome in deren Bilder rein und versuche sozusagen, fast bis in die fotografische Struktur vorzudringen, das heißt, auch wirklich diese Körnung zum Thema zu machen, und habe sie dann auf Glasplatten, das sind einen Zentimeter dicke Glasplatten, die von hinten bedruckt sind mit den Bildern und von vorne graviert sind, zum Teil eben mit einzelnen Wörtern. Und dieser Satz, der da zu lesen ist, wo man sich auch bemühen muss, den zu lesen, der ist von Corinna Focke und ich hab den gefunden in einem Dokument oder einer Art Fanzine: "Frau anders", was man sich eigentlich so ein bisschen vorstellen muss wie ein Punk-Fanzine. Es war aber eben von diesen Frauengruppen herausgegeben und hat vor allem Briefe enthalten, Gedichte enthalten, Buchempfehlungen enthalten, aber eben auch Veranstaltungsrezensierungen, sage ich mal, wo eben auch dieses Gedicht auftauchte von Corinna Focke und dieser Satz, der da steht: "Wir waren allein und trugen die volle Verantwortung für alles, was nicht passierte." Und das war für mich so ein starker Satz, weil der mich als Betrachterin anspricht, aber gleichzeitig auch für diese Zeit spricht und auch für eine Frage von so einem lesbischen Selbstverständnis in der DDR natürlich auch steht, weil auch lesbisch zu sein in der DDR entsprach nicht einer offiziellen Möglichkeit, als Frau oder sozusagen generell mit dieser Identität offen in der Öffentlichkeit umzugehen. Und das war für mich so ein wichtiger Moment, das auch noch mal in dieses Glas einzugravieren und diese Oberfläche von diesem Glas auch dadurch so porös zu machen. Genau. Und diese Arbeit ist sozusagen für mich auch noch mal so eine Möglichkeit. Diese Geschichte von diesen Gruppen ist so gut wie unbekannt und von dieser Art von vielleicht auch Selbstvergewisserung, Identitätsfindung, die so ganz ganz porös, ganz spröde, ganz zart eigentlich ist und wenn man sich dann diese zweitausend Fotografien anguckt, dann fängt man an, diesen Kosmos- Gerade als Fotografin. Man erkennt die Leute dann einfach wieder. Es sind nicht viele, es waren maximal sechzig, siebzig Leute in der ganzen DDR, die sich immer wieder auch in Zusammenhang mit der Kirche, auch in Zusammenhang mit den "Frauen für den Frieden"- Das waren immer wieder ähnliche Orte. Das war in Erfurt, Leipzig, Jena. Die haben sich immer wieder getroffen, haben sich ausgetauscht. Und wenn man das dann so betrachtet, auch dieses Archiv sozusagen so unter die Lupe nimmt, dann ist das Wahnsinn, weil das so eine Gänsehaut auch macht, weil es eigentlich natürlich aus vielleicht der Perspektive von einem demokratischen Grundverständnis eines Staates, die wir heute vielleicht haben, aber damals einfach gar nicht selbstverständlich war.
Dagmar Hovestädt: Das hört sich fast an, als sei das durchaus was Intimes und dass in diesem Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft genau das Schweigen über diese Szene eben nicht ist, sondern man - Gott sei Dank - die Fotos hat, um diese Geschichte der Frauen- und Lesbenbewegung der DDR zu erzählen. Das ist sozusagen was, das man ausgegraben hat und künstlerisch übersetzt hat. Das Archivieren - das haben Sie eben schon mal gesagt -, das Schweigen, das auch drin ist, die Fotos sähen sicherlich ganz anders aus, wären einige dieser Frauen ins Visier der Stasi geraten. Das ist dann eine vollkommen andere Bewahrung und ein anderer Blickwinkel darauf. Was hat Sie an der Idee des Archivierens so fasziniert, dass Sie das ein Stück weit auch als Workshop anbieten in Ihrer Tätigkeit?
Luise Schröder: Na, ich beschäftige mich ja in meiner künstlerischen Arbeit ganz ganz viel mit Geschichte und Erinnerungen und auch der Frage: Wie wird die eigentlich konstruiert und welche Institutionen spielen da eigentlich eine Rolle? Und da ist das Archiv relativ zentral. Ich habe ja auch in Leipzig an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Fotografie studiert, wo auch die Auseinandersetzung eben nicht nur mit dem Bild selbst, sondern auch mit den Institutionen, die Bilder produzieren oder Bilder beherbergen, stark stattgefunden hat. Also, das sind ja auch Konstruktionen, die in diesen Archiven gebaut werden beziehungsweise die auch dadurch entstehen, je nachdem, wer welches Material dorthin trägt. Und sowas halt auch offenzulegen, um jungen Menschen oder auch Erwachsenen die Möglichkeit zu geben zu verstehen: Was macht man dann mit so einem Konvolut von Dingen, wenn man jetzt zum Beispiel so drei Kisten von der Großmutter, vom Großvater oder so findet? Und sagen wir mal, das sind Bilder aus dem Nationalsozialismus: Wie geht man denn da um? Wie schafft man eine Distanz, und gleichzeitig, wie legt man Hand an an dieses Material?
Dagmar Hovestädt: Das ist ja auf Ihrer Webseite zu sehen, wie Sie sozusagen Leuten helfen, das ein bisschen zu verstehen, dass man das Familienfotoalbum mal durchschaut. Und was macht man dann damit?
Luise Schröder: Ja, was macht man dann damit? Als Erstes geht es natürlich erst mal darum zu gucken: Was ist denn da? Dann ist die Frage: Was ist denn da drauf? Dann stellt sich auch noch mal die Frage, wenn man das Bild auf die Rückseite dreht: Was steht da drauf, gibt es eine Kontextualisierung? Das ist ja bei Archiven manchmal ein bisschen problematisch, gerade bei persönlichen Archiven. Letztendlich ist mir das auch aufgefallen in Bezug auf den "GrauZone"-Bestand: Wenn es keine genaue Bezeichnung gibt, was man dort sieht, dann kann ich als Fotografin nur damit umgehen, was ich gelernt habe, wie ich das Indexikalische von Fotografien auch lesen kann. Das heißt, ich versuche dann, vielleicht auch so ein Stück weit wegzugehen von dem, was da möglicherweise auch als Bildunterschrift oder als Bezeichnung dessen steht, sondern wirklich zu gucken: Was sieht man denn, was ruft es denn auf, wenn ich eine Vergrößerung mache, auf was lege ich denn da einen Schwerpunkt und wie kann man auch so ein Narrativ- Das ist ja letztendlich auch meine künstlerische Arbeit: eine bestimmte Konstruktion eines anderen Narrativs und wie man das sozusagen auch in einem Workshop vermitteln kann.
Dagmar Hovestädt: Haben Sie in staatlichen Archiven auch recherchiert und sind da auf eine andere Art und Weise verbunden mit dem Gegenstand?
Luise Schröder: Also, ich habe eine Arbeit gemacht mit dem Zeitungsarchiv der "Sächsischen Zeitung" zum Beispiel und habe da mit Pressematerialien gearbeitet. Und zwar ging es da um den 13./14. Februar 1945 in Dresden und ich habe versucht herauszufinden, welchen spezifischen Blick man in der Pressefotografie auf die Ereignisse und auf das Gedenken des 13./14. Februars in der DDR hat. Also, das ist jetzt kein klassisches staatliches Archiv, sage ich mal, aber grundsätzlich arbeite ich mit unterschiedlichen Institutionen zusammen. Ich hatte auch mal eine Arbeit gemacht, die sich mit Kibbuz-Archiven beschäftigt hat, wo ich sozusagen ausgehend von Kibbuz-Archiven, wo es ja auch eine ganz bestimmte Form der Geschichtsschreibung gibt, wie da eigentlich Frauen dargestellt werden. So kommt es immer ein bisschen darauf an, was gerade das Thema ist, mit dem ich mich da beschäftige, und welcher Ort oder welche Ortsspezifik da auch eine Rolle spielt.
Dagmar Hovestädt: Was Nadja Klier ja schon auch ein bisschen angedeutet hat, ist dass die Limitation von Archiven, der Blickwinkel, der drinsteckt, sei es, dass es von Aktivisten aufgebaut worden ist, die ihre eigene Geschichte erzählen wollen, oder von einer Geheimpolizei, die genau das unterdrücken möchte, durchaus durchbrochen werden kann. Sie haben das ja auch beschrieben, dass es so eine Art zwiespältiges Gefühl gibt, dass das Persönliche in diesem Archiv zu finden ist und dass man das eigentlich gut findet, aber gleichzeitig natürlich auch ein bisschen erschrocken ist darüber.
Nadja Klier: Ich kann ja jetzt nur von mir reden, dass ich mich in dem Augenblick doch dann am Ende gefreut habe zu sagen: Gut, es wurde zumindest dokumentiert, ich kann das benutzen und ich benutze es auch, also ich stecke es nicht in eine Schublade und will nicht darüber reden. Ich glaube, dass es sicherlich viele Menschen gibt, die das irgendwie umhaut und vielleicht noch stärker traumatisiert als die Sachen, die sie sowieso schon erlebt haben. Also, vielleicht würde ich auch sagen, da bin ich eine Ausnahmeperson, die damit relativ locker umgeht. Ich mag das auch sehr, Medien zu mischen. Durch meine Arbeit als Fotografin, wenn wir früher so Layouts gemacht haben oder so, versuche ich ja schon aufgrund von verschiedenen Bildkompositionen auch was zu erzählen und zu bringen. Und das ist natürlich toll, eine Stasi-Akte zu mischen, wo der Bericht drinsteht, dass eine 15-Jährige jetzt einen Freund gesucht bekommen soll, damit der dann die Familie aushorcht, so wie mir das passieren sollte, und dann hast du das Bild einer lebenslustigen 15-Jährigen oder vielleicht einer 15-Jähriger mit drei Jungs auf dem Bild, wo du dann anfängst nachzudenken: Ja, welcher war es denn nun, war es überhaupt einer von denen? Also, im besten Falle, anhand dieses Beispiels, kann ein Gedankenprozess losgehen, der eben auch beginnt, eine Diskussion aufzumachen, sage ich jetzt mal, in welcher Form auch immer. Wichtig ist nur, glaube ich - Entschuldigung, letzter Satz -, dass es gekennzeichnet ist, dass man es nicht so vermischt, dass es einfach eine Sauce ist, sondern dass man zum Beispiel sagt: Das ist das Material von der Staatssicherheit, das ist Privatmaterial sowieso und das ist die Akte oder das ist ein Bericht, den jemand Privates geschrieben hat.
Dagmar Hovestädt: Das ist sicherlich in der Betrachtung notwendig, in der künstlerischen Verarbeitung vielleicht aber auch nicht? Nikolai Tegeler hat ja sozusagen eigentlich darauf verzichtet, sich mit den Quellen so spezifisch zu beschäftigen, und hat das einfach übersetzt und angewendet.
Nicolai Tegeler: Ja. Also, ich will jetzt nicht sagen, dass ich mich nicht auch schon vorher-, aber spannend waren mir irgendwie die zwischenmenschlichen Beziehungen beziehungsweise Begegnungen und dieses Unmittelbare. Also, wenn ich in Augen gucke, hatte ich das Gefühl, konnte ich noch mehr lesen. Das heißt aber nicht, dass das andere jetzt- Es geht gar nicht um die Wertigkeit, sondern mir waren die Gespräche so wichtig. Und im Hinblick auch darauf bin ich in Hohenschönhausen einigen Gesprächen gefolgt, habe da auch eine Tour mitgemacht und das war ganz spannend, da teilweise auch mit den Menschen zu sprechen, die die DDR noch hautnah mitbekommen haben, die da auch teilweise sogar im Knast saßen. Das hat mich beeindruckt. Das ist, glaube ich, auch einen persönliche Sache. Also, ich weiß zum Beispiel von meinem Stiefvater, der wollte das gar nicht lesen. Der wollte seine Akte gar nicht, hat sie dann aber doch bekommen. Und so kann ich ganz viele spannende Geschichten darüber erzählen, wie man mit diesen Akten auch umging.
Dagmar Hovestädt: Ja. Die Akten als Ausgangspunkt, aber die Menschen als eigentliche Ressource sind für das Theaterstück tatsächlich das Wichtigere in der Umsetzung, in der Entwicklung des Stoffes, richtig?
Alexandra Finder: Bei uns sind die Grundlage die Erinnerungsberichte der Frauen. Und da war für mich dann wieder interessant: Ich war auch viel im Robert-Havemann-Archiv oder auch, wie wir das Buch, die Erinnerungsberichte in "Seid doch laut!" gelesen haben, und dann bin ich aber zu den Frauen gegangen, dass man dann doch noch mal eine andere Perspektive bekommt und was völlig anders verstanden hat. Oder auch, wenn ich natürlich im Archiv war, Bärbel Bohley lese, ist für mich das eine Ikone, ich stelle sie auf einen Sockel. Wenn man aber mit Frauen spricht, die sie direkt erlebt haben, die dann auch sagen, das war auch eine streitbare Frau und es gibt auch die und die Perspektive, das macht es noch mal wesentlich vielfältiger, dreidimensionaler sozusagen. Deshalb ist es so viel wert, diese Frauen auch zu treffen, nicht, um sie irgendwie nachzuempfinden oder zu spielen, aber dann doch, wie klug diese Frauen sind, nach wie vor. Also, das Papierene wird sinnlich erfahrbar.
[Jingle]
Maximilian Schönherr: Das war zum Schluss Alexandra Finder, Schauspielerin und Ideengeberin für das Theaterstück zu den "Frauen für den Frieden", das sie mit der Regisseurin Nancy Biniadaki im Haus 22 in der Stasi-Zentrale am Campus für Demokratie im Dezember 2022 auf die Bühne bringt. Wir hörten außerdem Nadja Klier und ihr Projekt "DDR-Box", Nicolai Tegeler über seinen Spielfilm "Zu den Sternen" und die bildende Künstlerin und Fotografin Luise Schröder über ihre Projekte, bei denen sie sich mit Archivalien beschäftigt.
Dagmar Hovestädt: Unser Podcast endet jedes Mal mit einem akustischen Beispiel aus dem riesigen Audio-Pool des Stasi-Unterlagen-Archivs, wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audio-Überlieferung des MfS. Wer erinnert sich noch an Artek? Im Tonbestand der Bezirksverwaltung Magdeburg fand sich ein Dia-Ton-Vortrag mit Namen "Pioniersommer" zum Pionierlager Artek. Es lag auf der Krim und zirka zwanzig handverlesene DDR-Pioniere jährlich durften im Sommer ihre Ferien im ehemaligen größten Kinderferienlager der Welt verbringen. Die Kinder kamen aus sechzig Ländern, sie trieben Sport, badeten im Schwarzen Meer und sie nahmen natürlich an Appellen, Aufmärschen und politischen Schulungen teil. Siebzehn Minuten lang wird euphorisch über Artek berichtet. Wir hören davon dreieinhalb.
[Archivton Beginn]
[Sprecher 1:] Am 16. Juni 1925 bestand Artek, die Republik der roten Halstücher, aus vier Großzelten mit einfachen Bettgestellen, grob gezimmerten Tischen und Bänken. Am Eröffnungstage besuchte Clara Zetkin das Lager und schrieb später:
[Sprecher 2:] "Wenn Sie freie und glückliche Kinder sehen wollen, dann besuchen Sie das Sommerlager Artek an der Südküste der Krim. Ich bin dreimal dort gewesen und hätte es gern öfter besucht. Diese freien und glücklichen jungen Pioniere sind der Reichtum der Sowjetunion und der ganzen Menschheit. Dieses Lager ist der beste Beweis dafür, dass die noch junge und doch schon von Armut befreite Sowjetunion die reichen alten bürgerlichen Staaten durch die Sorge, die sie ihrer Jugend angedeihen lässt, beschämen kann."
[Sprecher 1:] Der Tag beginnt um 7 Uhr früh mit dem Weckruf der hellen Pionierhörner. Die Kinder treten zur Morgengymnastik an. Eins, zwei, die Arme ausstrecken, den Oberkörper nach links beugen. Dann folgt der Morgenappell, das Tagesprogramm wird beraten. Heute steht ein besonderer Höhepunkt bevor: Kosmonauten-Besuch am Nachmittag.
[Sprecher 2:] Doch erst einmal wird gebadet. Die Wassertemperaturen sind hier überdurchschnittlich hoch und da macht es Spaß, sich in den Fluten des Schwarzen Meeres zu tummeln.
[Sprecher 1:] Wasser und Sonne gehören zusammen und da natürlich jeder braungebrannt nach Hause kommen will, lässt er sich's - und die Ärzte wachen streng darüber, dass sich niemand einen Sonnenbrand holt - in der besonders klaren Luft, einer Mischung aus Hochgebirgs- und Meeresklima, wohl sein.
[Sprecher 2:] Wer nicht baden will, unternimmt eine Spazierfahrt auf dem Meer. Das Lager verfügt über eine eigene kleine Flotte und man kann sich sogar in der Kunst der Navigation üben. Übrigens dürfen die besten Bootsführer nach alter Tradition eine Flaschenpost über Bord werfen.
[Sprecher 1:] Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die Angelwettbewerbe und hier gibt es keine Flunkerei, kein Anglerlatein. Hier wird nach Gramm und Kilogramm gewogen. Die Mädchen und Jungen eifern auch hier ihren Eltern nach, denn man kann ohne Übertreibung sagen, dass überall in der Sowjetunion mit Leidenschaft und Ausdauer geangelt wird.
[Sprecher 2:] [Pioniergesang] Wo sie auch immer leben mögen, welcher Nationalität sie angehören, gleich, welchen Beruf, welche Tätigkeit ihre Eltern ausüben - ihnen stehen alle Möglichkeiten offen, jedes Jahr auf's Neue unvergessliche Eindrücke bei Sport und Spiel zu sammeln.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
Informationen zum Fotoprojekt "Strömungen in Bewegungen" von Luise Schröder auf der Webseite der Robert-Havemann-Gesellschaft (externer Link)
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