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Teilprojekt: Körperliche und psychische Folgen politischer Haft des Forschungsverbundes "Landschaften der Verfolgung"
Übersicht über den Forschungsverbund "Landschaften der Verfolgung"
Stefan Donth, Dagmar Hovestädt, Maximilian Schönherr, Stefan Röpke und Tolou Maslahati (von links nach rechts, oben nach unten), Quelle: Bundesarchiv
Im Forschungsverbund "Landschaften der Verfolgung" beschäftigt sich ein Teilprojekt mit den körperlichen und psychischen Folgen politischer Haft in der DDR. Welche Rolle dabei die Stasi-Akten spielen und wie die Verbundpartner Charité und Gedenkstätte Hohenschönhausen dieses Projekt umsetzen, erläutern Stefan Röpke und Tolou Maslahati von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charite sowie Stefan Donth von der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen.
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Sprecherin: "111 Kilometer Akten - [Ausschnitt einer Rede von Erich Mielke: ... ist für die Interessen der Arbeiterklasse!] - der offizielle Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs".
Maximilian Schönherr: Willkommen zu Folge Nummer 74! Ich bin Maximilian Schönherr, Freund von Archiven und vertraut mit den Originaltönen, auch hier im Stasi-Unterlagen-Archiv. Meine Co-Hostin ist Dagmar Hovestädt. Sie leitet die Abteilung Vermittlung und Forschung im Bundesarchiv/Stasi-Unterlagen-Archiv.
Dagmar Hovestädt: Heute beschäftigen wir uns mit den Folgen politischer Haft in der DDR, insbesondere die lang anhaltenden Folgen, die Menschen auch noch Jahrzehnte später belasten. Das Stasi-Unterlagen-Archiv kann dazu als Primärquelle eine wichtige Unterstützung liefern. Denn die Unterlagen dokumentieren ja die Systematik der Einschüchterung und die theoretischen Überlegungen beispielsweise zur Methode der "Zersetzung" sowie ihre Umsetzung, aber auch die Regeln einer Festnahme sowie des Verhaltens innerhalb der Untersuchungshaft. Selbst die in den Gefängnissen der DDR erzwungene Arbeit von politischen Häftlingen ist in den Stasi-Unterlagen in kleineren Ausschnitten dokumentiert, aber vor allem in den anderen Unterlagen zur DDR, die im Bundesarchiv insgesamt zu finden sind. Die Haftakten beispielsweise sind ja im Ministerium des Innern der DDR entstanden und liegen eben dann im Bereich des Bundesarchivs, der die DDR-Unterlagen insgesamt bewahrt.
Maximilian Schönherr: Es ist interessant, wie verschiedene Unterlagen in verschiedenen Archiven zu finden sind. Also, die typischen Stasi-Archivalien sind eben im Stasi-Unterlagen-Archiv, aber alles Staatliche ist im Bundesarchiv.
Dagmar Hovestädt: Genau. Deswegen gab es ja diese ganze Auseinandersetzung darüber: Kann man dieses [betont: eine] Ministerium, das Ministerium für Staatssicherheit, wirklich aus der Systematik nehmen und es in eine eigene Institution stecken oder ist es nicht eigentlich ein Ministerium der DDR wie alle anderen - für Schwerindustrie, Leichtindustrie oder das Auswärtige Amt? Andere staatliche Überlieferung der DDR liegt ja auch im Bundesarchiv, und dort eben gesammelt in dem Bereich, der die DDR verwaltet. Die parteilichen Unterlagen - die gibt es ja auch noch - liegen in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, die auch im Bundesarchiv verwaltet werden, aber die eben als Stiftung auch noch mal eine etwas andere Herangehensweise an den Zugang zu den Unterlagen haben. Und die Stasi, die ja auch zu DDR-Zeiten nicht Teil des staatlichen Archivwesens war, ist eben als einzelne Überlieferung lange Zeit auch in einer eigenen Behörde verwahrt gewesen, aber eben jetzt Teil des gesamten DDR-Komplexes im Bundesarchiv, trotzdem - auch wegen der anderen gesetzlichen Grundlage - im Stasi-Unterlagen-Archiv.
Maximilian Schönherr: Das heißt, man findet sehr viel über www.bundesarchiv.de, aber wenn man speziell die Stasi-Unterlagen - zum Beispiel, um einen Antrag zu stellen - sucht, dann geht man zu www.stasi-unterlagen-archiv.de. Das sind quasi zwei verschiedene Ansätze, wie man recherchiert.
Dagmar Hovestädt: Na ja, noch viel simpler: Es sind zwei unterschiedliche gesetzliche Grundlagen und die erfordern einen unterschiedlichen Umgang mit den Unterlagen. Deswegen ist es - in Anführungsstrichen - ein "getrennter" Prozess, auch unter dem gleichen Dach. Wir arbeiten ja auch daran, das möglichst miteinander zu harmonisieren, sodass man in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht auch [betont: einen] Antrag stellt, obwohl der auf unterschiedlicher gesetzlicher Grundlage ist, aber durch ein Tor quasi geht, um sich die Gesamtüberlieferung anschauen zu können für das eigene Thema. Ist aber natürlich doch eine ganze Menge Arbeit, das im Alltag wirklich umzusetzen. Digitalisierung hilft dabei, aber auch da muss man eben Schritt für Schritt vorwärtsgehen.
Maximilian Schönherr: Zurück zu unserem Thema. Wir haben in diesem Podcast immer wieder mit den Opfern von solchen Zersetzungsmaßnahmen gesprochen. Heute gehen wir auf die Metaebene: weg von allen Einzelschicksalen, hin zu wissenschaftlicher Forschung, die die Folgen auch mit einer relativ großen Statistik versucht zu vermessen. Ausgegangen ist das von einem 2018 eingerichteten Forschungsverbund namens "Landschaften der Verfolgung". Dessen stellvertretender Sprecher, Dr. Stefan Donth, ist einer unserer drei Gäste heute.
Dagmar Hovestädt: Stefan Donth wurde 1968 in Dresden geboren. Er hat 1999 über die Sowjetische Militäradministration und deren Vertriebenenpolitik promoviert. Heute leitet er den Bereich "Zeitzeugen und Strategie" in der Berliner Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hohenschönhausen ist nicht nur ein Stadtteil von Berlin, sondern eben auch der Ort im Osten der Stadt, an dem das Ministerium für Staatssicherheit seine zentrale Untersuchungshaftanstalt betrieb, neben 16 weiteren U-Haft-Anstalten in den 15 Bezirken der DDR.
Maximilian Schönherr: Und das NS-Archiv, wie ich auch in einem Podcast-Gespräch gelernt habe, das auf diesem Gelände war und damit Sicherheitstrakt war. Es konnte nicht jeder reingehen.
Dagmar Hovestädt: Es war tatsächlich ein Sperrbezirk. Wie das Ministerium für Staatssicherheit, die Stasi-Zentrale, war auch Hohenschönhausen ein Sperrbezirk, an dem man nicht einfach vorbeispazieren konnte.
Maximilian Schönherr: Um die gesundheitlichen Langzeitfolgen politischer Haft zu untersuchen, braucht es medizinische und psychologische Expertise. Hier kommt die große Berliner Klinik Charité ins Spiel, die Partner für diese Teilprojekt des Verbundes ist. Die Psychologen Stefan Röpke und Tolou Maslahati sind als Forscher für die Charité im Projekt und ebenfalls Gäste in unserem heutigen Podcast.
Dagmar Hovestädt: Frau Maslahati promoviert derzeit an der Charité und Dr. Stefan Röpke hat eine Professur an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité.
Maximilian Schönherr: Müssen wir vorab Begriffe klären, die in dem Gespräch fallen?
Dagmar Hovestädt: Mir fällt die Abkürzung SBZ ein, die kurz mal fällt: Sowjetische Besatzungszone oder sowjetisch besetzte Zone, also der Teil Deutschlands, der von 1945 bis 1949 von der Sowjetunion besetzt war und dann im Oktober 1949 zur DDR wurde. Und dann - vielleicht so ein kleines Ding - wird die Stiftung Aufarbeitung erwähnt, die seit 1998 die Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt und auch viele Projekte finanziert und deren Hauptsitz aber in Berlin ist, nicht in Bonn, wie erwähnt in dem Gespräch.
Maximilian Schönherr: Ich möchte noch was zur Akustik des Gesprächs sagen, das wir gleich hören werden. Wir fünf - Frau Maslahati, Herr Röpke, Herr Donth, du und ich - befinden uns an fünf verschiedenen Orten. Mal sind die Räume mit mehr oder weniger Hall versehen, mal sind die Stimmen näher, mal weiter von den Mikrofonen entfernt. Alles ist gut verständlich. Ich wollte nur erklären, warum die Gesprächsteilnehmer:innen so sehr verschieden klingen.
Dagmar Hovestädt: Dann starten wir mit Folge 74 des Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs: Wie die Charité in einer großen Studie die Langzeitfolgen politischer Haft in der DDR untersucht.
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Maximilian Schönherr: "Landschaften der Verfolgung" - was ist das?
Dr. Stefan Donth: "Landschaften der Verfolgung" ist einer von 14 Forschungsverbünden zur Erforschung des SED-Unrechts, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Unser Schwerpunkt ist die Untersuchung des Unrechts, was in den DDR-Haftanstalten mit politischen Häftlingen geschehen ist. In unserem Forschungsverbund haben sich neben Universitäten, Gedenkstätten auch Aufarbeitungsinitiativen zusammengeschlossen. Ich würde die gern aufzählen. Das ist zum einen die Humboldt-Universität, die Universität Passau, die Viadrina in Frankfurt/Oder und die Universitätsmedizin der Charité. Neben diesen universitären Forschungseinrichtungen beteiligen sich auch die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die Gedenkstätte Lindenstraße und das Menschenrechtszentrum in Cottbus an diesem Verbund sowie die Robert-Havemann-Gesellschaft, die sich mit der Erforschung der Geschichte der DDR-Opposition beschäftigt. Dieser Forschungsverbund ist in eine Reihe von Teilprojekten gegliedert. Wir stellen heute in diesem Podcast die Arbeit des Teilprojekts der Charité vor. Dieses Projekt befasst sich mit den medizinischen Langzeitfolgen, die die politische Haft in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR nach sich gezogen hat.
Dagmar Hovestädt: So kommt also die Charité in das ganze Projekt hinein. Ist das für die Charité was Gewöhnliches, sich in historische Forschungsprojekte mit einzubinden, Herr Röpke?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Also, gewohnt ist es nicht. Ich sage mal so: In der Regel haben wir so empirische Fragen, die wir stellen, wo wir Krankheitsprozesse verstehen wollen, wo wir neue Therapien untersuchen. Gibt es bestimmte Faktoren, die mehr oder weniger zu psychischen Erkrankungen führen. Das ist sozusagen auch ein Schwerpunkt von dem Forschungsgebiet, das wir an der Charité haben: zu gucken, was die Folgen von Traumatisierungen sind. Wobei die Art der Traumatisierung der Punkt ist, wo wir zusammenkommen mit dem Forschungsverbund. Da profitieren wir sehr von der Zusammenarbeit von den Historikern und anderen Fachdisziplinen.
Maximilian Schönherr: Wann kamen Sie, Frau Maslahati, überhaupt auf die Idee, an den Projekten mitzuarbeiten? Dieses DDR-Thema und diese körperlichen und psychischen Folgen politischer Haft: Kannten Sie das schon vorher oder wie kamen Sie da rein?
Tolou Maslahati: Ich habe zuvor schon in der Arbeitsgruppe von Herrn Röpke mitgearbeitet zu Traumafolgestörungen und war dann eigentlich von Anfang an - ich denke, 2019 - mit dabei in dem DDR-Projekt. Das DDR-Thema, die Erforschung der Folgen der politischen Haft der DDR war so erst mal neu für mich.
Maximilian Schönherr: Ist das ein Thema, das jetzt erst aufkam, also quasi vor vier, fünf Jahren, oder schon vor zehn, zwanzig Jahren? Das würde ich jetzt Herrn Donth fragen.
Dr. Stefan Donth: Das Thema Medizinische Haftfolgeschäden begleitet uns im Grunde genommen schon, seit es die politische Haft in der DDR gegeben hat und ein Teil der ehemaligen politischen Häftlinge durch die Bundesregierung freigekauft wurden, die dann im Westen waren und dort gemerkt haben, dass sie die Haft nicht gut überstanden haben. Sie hatten körperliche Beschwerden, sie hatten psychische Beschwerden, die Krankheit der Seele, also Haftfolgeschäden, die sie im Gegensatz zu einem gebrochenen Arm beispielsweise nicht auf den ersten Blick sehen, sondern die sie untersuchen mussten. Und es geht seitdem - verstärkt dann natürlich nach der Wiedervereinigung - darum, dass diese medizinischen Haftfolgeschäden anerkannt werden, dass die Häftlinge eine Wiedergutmachung bekommen und dass diese medizinischen Schäden therapiert werden. Und uns geht es darum, mit unseren Forschungen Grundlagen dafür zu legen, dass es Beratungsangebote für diesen Personenkreis gibt, damit diesen Menschen geholfen werden kann, dass die Schäden endlich vollständig anerkannt werden und dass es eine richtig gute medizinische Versorgung dieser Menschen gibt.
Maximilian Schönherr: Und wann wurde es ein Forschungsthema? Also, die Charité ist dann eingestiegen. Aber gab es vorher schon Forschung? Gab es genug Statistikdaten dazu?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Die Charité hat sich schon mal - damals hieß sie noch gar nicht Charité, da hieß sie noch Freie Universität - direkt nach der Wiedervereinigung mit dem Thema beschäftigt. Das sind kleinere Arbeiten, aber wo man schon Patienten untersucht hat - aber wie gesagt, sehr kleine Fallzahlen - und geguckt hat: Gibt es Erkrankungen, die nach politischer Haft auftreten? In der Folge waren immer wieder auch Arbeitsgruppen an dem Thema dran - Professor Maercker ist da ein prominenter Kollege -, die genau diese Fragestellungen untersucht haben. Allerdings waren das immer Studien, die nur sehr wenige Betroffene erreicht haben. In der erwähnten Studie aus der Freien Universität damals waren nur Menschen, die Hilfe gesucht haben. Also, man hat gar nicht insgesamt auf die Opfer geguckt, sondern nur die, die Hilfe gesucht haben. Und man hat sich, wahrscheinlich aus Ressourcengründen, oft nicht so genau und detailliert sich die Folgen angeschaut. Was wir jetzt noch dazu gemacht haben, sind die körperlichen Folgen, die bisher gar nicht berücksichtigt wurden, anzugucken: Wie sieht die Gesundheit der ehemaligen Inhaftierten aus?
Dagmar Hovestädt: Um das zu ergänzen: Es ist ja vielleicht auch so, dass es gar nicht so einfach ist, Trauma nachzuweisen im Sinne einer behördlichen Behandlung, dass man eben Entschädigungen dafür bekommt und dass man Ursache und Wirkung zweifelsfrei miteinander verknüpft. Insofern kann das sogar auch unterstützend sein für die vielen, die das Trauma erleben, aber es gar nicht in dem Sinne behördentauglich verarbeiten oder präsentieren können. Frau Maslahati, Sie nicken gerade.
Tolou Maslahati: Ja, genau. Das ist tatsächlich ein Problem. Die beantragen ja ganz viel und das wird dann immer wieder nicht bewilligt, weil es dann zur Aussage kommt, dass es nicht die Folgen der politischen Haft sind, sondern alles Mögliche als Grund aufgeführt werden könnte.
Maximilian Schönherr: Aber es gibt ja im Prinzip zwei Teilprojekte. Das eine befasst sich mit dem Recht, also da geht es eigentlich genau darum: Haben die einen Anspruch darauf? Ihr Projekt betrifft aber körperliche und psychische Folgen politischer Haft, also da geht es nicht primär um die Entschädigungen, sondern es geht um Heilung und um eine große Statistik. Und über die große Statistik würde ich jetzt gerne mal mit Ihnen sprechen. Woher kriegen Sie die vielen Leute, um eine solide Statistik zu betreiben? Und die angehängte Frage: Kann man nicht andere Forschungen, auf psychische Haftbedingungen anderer Länder oder geschichtlich zurückgehend, darauf übertragen? Oder ist die DDR-Geschichte völlig eigenständig in dieser Hinsicht? Aber zunächst mal: Woher kriegt man die Statistik?
Tolou Maslahati: Da sind wir natürlich in der sehr guten Position, dass wir in diesem Verbund sind, von dem wir sehr profitieren, angefangen mit Hohenschönhausen und Herrn Donth zum Beispiel, die Verteiler angeschrieben haben, die auch die Betroffenen persönlich kennen und auch Empfehlungen für unsere Studie ausgesprochen haben, sodass wir von Anfang an eigentlich Interessierte hatten, die bereit waren teilzunehmen. Das heißt, wir haben auch über Cottbus oder Lindenstraße zum Beispiel [unverständlich wegen überlagerter Stimmen].
Dagmar Hovestädt: Die Gedenkstätten, in denen früher Stasi-Haftanstalten waren. Genau, mh.
Tolou Maslahati: Vor allem die Gedenkstätten, genau, aber auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Bonn zum Beispiel. Die haben uns auch sehr unterstützt. Da haben sich jetzt auch sehr viele Nachkommen gemeldet. Auch Frau Zupke selbst, die Bundesbeauftragte zur Aufarbeitung, unterstützt uns dabei, macht Werbung, empfiehlt unsere Studie. Das heißt, wir sind da gut angebunden und profitieren davon sehr.
Dagmar Hovestädt: Das heißt, wie viele haben sich mittlerweile gemeldet, um sozusagen diesen Prozess der Erforschung zu befördern?
Tolou Maslahati: Eingeschlossen in die Studie haben wir bisher 352 Personen. Es sind noch fast so 200 offen, die schon Interesse bekundet haben, aber die wir bisher noch nicht erreicht haben.
Dagmar Hovestädt: Was machen die denn eigentlich, wenn die sich melden? Was machen Sie mit diesen Menschen, die sich an Sie wenden und an der Studie teilnehmen wollen?
Tolou Maslahati: Wir machen ein ziemlich langes Interview, wo wir anamnestisch die körperliche Gesundheit erfragen, also einfach erfassen, welche Erkrankungen vorliegen oder vorgelegen haben in der Vergangenheit, wir machen ein psychologisch-psychiatrisches Interview, um psychiatrische Diagnosen festzustellen, wir machen neurokognitive Testungen zum Beispiel, eine Blutentnahme findet statt. Meistens sind das zwei Termine, in die sich das aufteilt: ein Telefon-/Videointerview und ein Termin entweder bei uns oder bei den Betroffenen zu Hause, wo wir die Testungen durchführen.
Dagmar Hovestädt: Das ist sehr persönlich eigentlich, nicht? Man dringt ja quasi schon sehr in so ein Leben und so eine Lebenserfahrung ein.
Tolou Maslahati: Ja, sehr. Sehr.
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Unser Ziel ist auch, dass wir Menschen erreichen, die vielleicht noch nicht in diesem Medizinsystem oder auch in dem System der Gedenkstätten angebunden sind. Wir freuen uns natürlich, dass die mitmachen, aber wir würden noch gerne die Leute erreichen, die bisher noch gar nicht auf sich aufmerksam gemacht haben.
Dagmar Hovestädt: Kann das auch sein, dass die, die sich bereits auf eine Gedenkstelle zubewegen und daher auch schon einen Schritt auf das Symptom Traumatisierung und die Effekte hinzugegangen sind, und manche, die das vielleicht verdrängen, eine unterschiedliche Haltung mitbringen in so einen Analyseprozess darüber, was die lang anhaltenden Folgen sind? Jemand, der sich dem stellt, weil er sich damit beschäftigt, ist sicherlich vielleicht auch anders - das muss man herausfinden durch verschiedene Probanden - als jemand, der eigentlich 30 Jahre lang da lieber gar nicht hingeguckt hat.
Tolou Maslahati: Genau.
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Das wäre eine der wichtigen Fragen, die wir dann beantworten können: Ist das eher ein Schutz oder ist es vielleicht gerade jemand, der betroffen ist, körperlich oder psychisch, dass der sich gerade dann an die Gedenkstätten wendet? Oder eben umgedreht. Das sind Fragen, die wir mit beantworten wollen.
Tolou Maslahati: Deswegen haben wir auch Zeitungsannoncen zum Beispiel geschaltet, in der Hoffnung, so auch die anderen Personen zu erreichen, die nicht bereits an diese Stellen angebunden sind.
Dagmar Hovestädt: Ja. Es gibt ja diesen Begriff der Retraumatisierung, indem man immer wieder zurückkehrt an diesen Ort oder die Orte und sich damit immer wieder beschäftigt: Ist es positiv oder negativ? Das kann man wahrscheinlich, so in Bezug auf diese Traumatisierung, gar nicht beantworten, nicht?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Der Begriff Retraumatisierung - in der Medizin zumindest -, meint, dass man wirklich noch mal ein Trauma erlebt, sprich, dass man noch mal in einen Unfall verwickelt ist oder so, also ein zweites Trauma. Ein wichtiger Punkt, den Sie vielleicht ansprechen, ist die Art und Weise, wie wir versuchen, mit den Probanden zu sprechen: dass wir gucken - das sind ja alles geschulte Psychologen oder Ärzte oder angehende Ärzte die diese Interviews durchführen -, dass wir das jeweils immer angemessen machen für die Person, dass wir gucken, wie groß die Belastung ist, dass wir das auch auf mehrere Termine verteilen können, dass wir auch gucken, wo sind Belastungsgrenzen, dass wir auch Entlastung anbieten, falls sich jemand beim Gespräch sehr belastet fühlt.
Maximilian Schönherr: Ja. Ich muss jetzt noch mal zu meiner Frage zurückkommen.
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Genau. Es gibt ja einen großen Fundus an Daten und an Beschäftigung. Das ist die Folge vom Holocaust. Da hat man sich sehr damit auseinandergesetzt, sich auch angeschaut, wie es in der zweiten Generation aussieht, also bei den Betroffenen selber, aber auch bei deren Kindern. Da gibt es sehr sehr viele Daten, an die wir anknüpfen können. Ansonsten gibt es so vereinzelte Daten aus einzelnen Kulturkreisen sozusagen, aber eine richtig gute, große Datensammlung gibt es nicht, vielleicht deshalb, weil es ja eine Veränderung des Systems braucht. Es muss ja ein Folgesystem geben, das erlaubt, dass man sich damit beschäftigt. Und wir sind ja da in der Lage, dass wir uns in der heutigen Bundesrepublik damit beschäftigen können, mit den Opfern. In anderen Ländern ist das ja nicht möglich und wird dann auch nicht durchgeführt.
Maximilian Schönherr: Wie ist es in Chile zum Beispiel mit der Diktatur, Geschichte, Aufarbeitung und Haftfolgen?
Dagmar Hovestädt: Argentinien?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Gute Frage. Ich kenne keine großen Studien aus diesen-- Es wären natürlich wichtige Bereiche. Ich kenne da keine großen, guten Studien, wo sowas aufgearbeitet wäre.
Maximilian Schönherr: Gut. Es geht auch um die Nachfolgegeneration. Um die Kinder geht es natürlich immer, vielleicht sogar um die Enkel. Wir hatten in unserer zweiten Podcast-Folge ein Kind. Die wurde ungefähr in der Zeit der Friedlichen Revolution geboren und die sprach über die Traumata in ihrer Familie. Berücksichtigen Sie diese Generation auch?
Tolou Maslahati: Ja. Tatsächlich untersuchen wir auch Nachkommen von Betroffenen. Bis in die Enkel gehen wir nicht, aber auf jeden Fall die Kinder, die Nachkommen, werden bei uns auch untersucht.
Maximilian Schönherr: Wie finden Sie die?
Tolou Maslahati: Das gleiche Prozedere, wie ich gerade schon sagte. Bonn hat uns da sehr viel weitergeholfen. Da haben wir viele Nachkommen von Menschen, die vor allem in der SBZ inhaftiert waren, interviewt in den letzten Wochen. Manchmal bringen Betroffene auch die Kontaktdaten ihrer Kinder direkt mit. Die kontaktieren wir dann auch. Wir versuchen zum Beispiel auch, wenn die zusammen kommen wollen, sie zwar nicht in einem Raum, aber am selben Tag zu interviewen, wenn uns das möglich ist.
Dagmar Hovestädt: Kann man denn schon sagen oder darf man das ein Stück weit einfach mal formulieren, was sie mitbringen an Geschichten und was man so an Phänomenen feststellen kann, oder ist das noch zu früh oder ist das Teil der großen Präsentation, wenn die Studie abgeschlossen ist?
Tolou Maslahati: Es wäre wahrscheinlich noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Vielleicht ist das so der Grund. Das haben wir noch nicht ausgewertet, da sind wir noch dabei.
Dagmar Hovestädt: Und so Einzelbeobachtungen? Sagt man da als Forscher lieber nichts, weil das sonst plötzlich für das Ganze gesehen wird? Oder kann man was erzählen, was nächste Generationen von der vorhergehenden, die das direkt erlebt hat, unterscheidet? Kann man sowas generell beobachten?
Tolou Maslahati: Ich glaube, so etwas generalisieren könnte ich jetzt nicht. Was wir aber auf jeden Fall beobachten, ist, dass das viele beschäftigt, auch viele, wo die Eltern selber zum Beispiel nicht mehr darüber sprechen möchten, wo das für die trotzdem ein Thema ist, die auch sehr dankbar sind, dass sie in dieser Studie berücksichtigt werden, denen das auch fehlt, dass ihre Sicht der Dinge und ihr Thema nicht aufgearbeitet wurde. Das merkt man deutlich.
Dagmar Hovestädt: Das hatten wir tatsächlich vor Kurzem mal: die Tochter einer gerade verstorbenen Mutter, die so eine Art persönliches Trauma aus der DDR mitbringt, 1953 geflüchtet ist und ein ganzes Leben lang Angst davor hatte, dass die Stasi sie wieder einfängt, sie wieder zurückholt in die DDR. Das hat die Familienbesuche in den 80ern massiv überschattet und die Tochter sagt selber in der Folge auch von sich, dass sie mit Depression diagnostiziert ist und die Geschichte der Mutter jetzt aufarbeiten will, um einfach ein bisschen mehr zu verstehen, was sie eigentlich in ihrer Kindheit so belastet hat, weil sie ihre Mutter als immer gehetzt und gehastet erlebt hat und da irgendwas war, das sie nie greifen konnte. Das wird ihr jetzt ein bisschen klarer und das hilft ihr tatsächlich, die Geschichte - durch das Archiv, in dem Sinne - zu erfahren. Apropos Archiv: Wir haben noch gar nicht darüber geredet, Herr Donth. Das Stasi-Unterlagen-Archiv spielt ja trotz alledem auch eine Rolle neben der Beschäftigung und dem Gespräch mit den Menschen, die das erleiden.
Dr. Stefan Donth: Ohne die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv könnten unsere Forschungen überhaupt nicht stattfinden. Grundlage der Untersuchungen sind ja die Traumata, die durch die Haftbedingungen in den Gefängnissen des Staatssicherheitsdienstes hervorgerufen wurden. Und diese Haftbedingungen erforschen wir in den Gedenkstätten oder in der universitären Forschung mit den Aktenbeständen des Stasi-Unterlagen-Archivs. Und wir sind [dankbar] für die sehr enge, sehr vertrauensvolle und sehr intensive Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen, die uns dort betreuen, angefangen von der Hausspitze - vom Präsidenten, Herrn Hollmann, und von der Vizepräsidentin des Bundesarchivs, Frau Titze - bis hin zu Forscherinnen und Forschern bis hin zu den Kolleginnen und Kollegen, die sich auf die Suche nach den Aktenbeständen im Archiv machen. Aus den Akten der Betroffenen erfahren wir Details über Haftumstände, über Verhörstrategien, die auch einen massiven Einfluss auf die Gesundheit der Betroffenen haben konnten. Wir erfahren die genauen Haftzeiten, Haftumstände, Verlegungen in bestimmte Gefängnisse und Ähnliches. In bestimmten Fällen schauen Frau Maslahati und ich uns diese Akten auch gemeinsam an, mit dem Einverständnis der Betroffenen. Das geschieht niemals hinter dem Rücken der ehemaligen Häftlinge, um auf dieser Grundlage für bestimmte Fragen, die in den Untersuchungen aufscheinen, einen Erklärungsansatz liefern zu können. Das ist ein sehr sehr positives Ergebnis dieser interdisziplinären Zusammenarbeit, die man ja sonst - oder in vielen Fällen - nicht hat, dass das Stasi-Unterlagen-Archiv diese Möglichkeiten schafft für moderne, interdisziplinäre Forschung. Diese Zusammenarbeit war ja auch die Grundlage für die große Datenbank, die wir im ersten Schritt des Forschungsvorhabens über die politischen Häftlinge des MfS von 1963 bis 1989 zusammengetragen haben. Und die haben Ergebnisse für die Wissenschaft oder für Vermittlungsprojekte jetzt auf der Internetseite www.haft-ddr.de für Nutzerinnen und Nutzer zur Verfügung stehen, auf einer anonymisierten Basis. All diese Punkte zusammengenommen ermöglichen es uns, in dem Forschungsverbund "Landschaften der Verfolg" zu Ergebnissen zu kommen, die wir jeweils allein niemals erreichen würden.
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Sprecher: Sie hören:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten -
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."
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Maximilian Schönherr: Herr Röpke, Sie interviewen die Betroffenen, die Nachfolgegeneration, also die Kinder, schreiben das in eine Datenbank rein und Sie haben zusätzlich noch die Unterlagen des Stasi-Unterlagen-Archivs vor sich. Sind das die beiden Hauptquellen, die Sie haben, oder gibt es noch weitere Dinge?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Die Interviews mit den Betroffenen selbst, die Unterlagen mit Einverständnis halt und teilweise die Geschichten der Eltern.
Maximilian Schönherr: Wie bringen Sie das zusammen? Wie bringen Sie diese harten Daten aus der Datenbank - also beispielsweise aus einer Akte "Wir verlegen den Gefangenen so und so jetzt von da nach da.", meinetwegen 1980 - in Zusammenhang mit dem, was er Ihnen heute erzählt? Wie wird das forschungsmäßig zusammengebracht?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Unsere Forschung ist ja vor allem quantitativ, also wir gucken Gruppeneffekte an. Wir gehen in der Fragestellung nicht auf die Einzeleffekte. Wir gucken nicht in die Biografie des Einzelnen. Das ist auch ein wichtiger Teil, aber das ist jetzt nicht unser Auftrag in dem Projekt. Zum einen verstehen wir durch diese Akten: Was macht eigentlich das Trauma aus? Wir können Aussagen in der Gruppe treffen darüber, wie lange die Haft war, wie lange davon vielleicht Einzelhaft war, wie lange die Haft in der Stasi-Haftstelle und wie lange die Haft in einem peripheren Gefängnis war. Wir können sozusagen auf der einen Seite das Trauma sehr gut charakterisieren und auf der anderen Seite können wir halt charakterisieren, wie es den Menschen heute geht. Und diese Daten vergleichen wir mit Bevölkerungsdaten. Wir haben Stichproben aus der Bevölkerung in anderen großen Studien - nicht Studien, die wir gemacht haben, sondern die schon vorliegen - und können dann vergleichen: Gibt es Unterschiede in körperlicher oder psychischer Erkrankung? Und dann können wir Rückschlüsse ziehen, dass bestimmte Dauer oder Arten von Haft oder Bedingungen innerhalb der Haft besonders zu dieser oder jener Erkrankung geführt haben oder es vielleicht auch ein Schutzfaktor war, wenn man zum Beispiel nicht in Einzelhaft gewesen ist.
Maximilian Schönherr: Kurze Nachfrage dazu: Wie quantifiziert man das? Wie quantifiziert man eine Haftbedingungen?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Also die einfachste Art wären so was wie Mittelwerte, dass sie gucken die Dauer der Haft und was ist der Mittelwert der Haft. Und das andere ist der Aufenthalt zum Beispiel in Hohenschönhausen in Monaten und dann der Aufenthalt nachfolgend in Cottbus in Monaten. Und das sind dann zum Beispiel einfach Mittelwerte. Das wäre der ganz einfache Aspekt und so kann man sozusagen am Ende sich vielleicht Gruppen anschauen, wie die Haft beschrieben ist, wo bestimmte Parameter untersucht werden und dann guckt man: Hat das einen Einfluss darauf auf zum Beispiel das Auftreten von Depressionen später.
Dr. Stefan Donth: Wir wissen, dass nach der Untersuchungshaft, in der Strafhaft viele Häftlinge Zwangsarbeit in unter sehr gefährlichen Bedingungen leisten mussten, beispielsweise in der chemischen Industrie, in Bitterfeld, in Anlagen, die mehr oder weniger einsturzgefährdet waren, die dort unter sehr mangelhaften Arbeitsschutzbedingungen arbeiten und tätig sein mussten. Das kann zu einer körperlichen Schädigung beigetragen haben. Und wenn jetzt derartige Probanden bei der Studie der Charité sich melden und untersucht werden und meinetwegen bestimmte Blutschädigungen auftreten, können wir einen Erklärungsansatz liefern, woher diese Blutschädigungen kommen. Das wissen wir durch sehr viele Zeitzeugeninterviews, die wir hier auch an der Gedenkstätte Hohenschönhausen geführt haben mit ehemaligen Inhaftierten. Das wissen wir über die Forschungen, die wir durchgeführt haben, die beispielsweise in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde durchgeführt wurden, zu Haftbedingungen in einzelnen Gefängnissen, zu diesem ganzen Komplex der Zwangsarbeit. Und dazu leisten wir einen wichtigen Beitrag.
Dagmar Hovestädt: Frau Maslahati, Sie wollten noch mal ergänzen, eben.
Tolou Maslahati: Nur zu dem Punkt von Herrn Schönherr vorhin noch, wie man Haftbedingungen rechnen kann, quasi. Wir würden die dann kodieren, dichotomisieren, zum Beispiel Einzelhaft ja/ nein. Und das können wir dann auch in die Statistik mit reinnehmen und gucken, ob es einen Einfluss hat. Genau das war nur eine kleine Ergänzung. Und sonst die Haftbedingungen, die wir mithilfe des Archivs natürlich auch herausfinden können, helfen uns auch, gewisse Haftperioden vielleicht zu identifizieren und dann zu rechnen, ob es einen Unterschied macht, in welcher Haftperiode man inhaftiert war, beispielsweise auf die Gesundheit.
Dagmar Hovestädt: Oder in welcher U-Haftanstalt, ob in Rostock oder Gera oder Suhl die Bedingungen anders waren oder die Haftleiter anderes Regime geführt haben, was wiederum andere Effekte hatte, zum Beispiel. Genau. Was mich noch interessiert: Ich weiß, dass es sich ja nur um die Haft handelt, aber die Stasi zeichnet sich ja besonders dadurch aus, dass sie psychologische Methoden anwendet. Zersetzung ist das große Wort, das passiert im Vorfeld. Bevor man in die Haft kommt, kommt ja nicht jeder in die Haft. Zersetzung funktioniert ja manchmal auch so, dass man da eben nicht mehr weiter kriminalisiert wird. Und natürlich das andere große Schlagwort im Kontext operative Psychologie. Können Sie das berücksichtigen in der Anamnese oder müssen Sie sagen, das geht leider nicht. Wir können uns nur auf die Haft konzentrieren und wissen aber, dass im Vorfeld auch schon andere Faktoren auf die Psyche und die Seele eingewirkt haben, die zu einer anderen Art von Traumatisierung führen konnten.
Tolou Maslahati: Es ist vielleicht eine Mischung. Also wir können das nicht nachweisen, wir können es auch nicht in die Tiefe erforschen. Wir erfragen es, ob sie von Zersetzungsmaßnahmen betroffen waren und versuchen das so zumindest als Punkt zu berücksichtigen.
Dr. Stefan Donth: Was wir beisteuern können von der historischen Forschung, sind natürlich die von Frau Maslahati angesprochenen Haftperioden. Haft und Vernehmungen in den 1950er Jahren haben sich gravierend von den Methoden des Staatssicherheitsdienstes unterschieden, die die Stasi-Leute in den 1980er Jahren angewandt haben. Das war dann in der Psychologie verfeinerter als noch in den Anfangsjahren. Da hat natürlich das ganze System drumherum, der Staat, auch anders funktioniert mit weniger offen zutage getretener Repressionen. Das war versteckter, das war viel feiner ziseliert in den 80ern als in den in den 50ern. All das kann in diese Untersuchungen mit einfließen.
Dagmar Hovestädt: Wenn man denn interdisziplinär forscht, interessiert mich schon, was Sie, Herr Röpke und Frau Maslahati, wenn Sie denn Stasi-Unterlagen gelesen haben, natürlich eigentlich für Ihre quantitativen Zwecke, trotzdem ist das ja eine Begegnung mit einem Material, ob man dann auch anfängt darüber nachzudenken, wie diese Seite, die diese Akten aufgeschrieben hat, tickt, ob einen das auch irgendwie beschäftigt, die Hauptamtlichen, die das zu verantworten haben, wie mit Menschen umgegangen wurde.
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Ich ich kann ja mal beginnen, sozusagen. Vielleicht auch noch mal der Start, warum wir überhaupt angefragt wurden für das Projekt, war ja, weil wir ein Behandlungsangebot an der Charité haben und dann dort Opfer behandelt haben. Und auch einige Patienten hatten, die genau Opfer dieser Stasi-Haft wurden. Also wir hatten schon klinische Erfahrung und aus den Berichten, die wir im Vorfeld schon kannten, haben wir immer auch gesehen, dass es hier auch eine Täterseite gab. Und das kennen wir auch aus den vielen anderen Berichten von Patienten, die andere Arten von Traumatisierungen erfahren. Insofern rein klinisch würde ich sagen, ist das schon immer was, was immer mitgespielt hat, einfach ein Interesse und ein Versuch eines Verständnisses der anderen Seite. Mit der Beschäftigung mit dem Thema muss ich sagen, dass ich glaube, es gibt da kein einheitliches Motiv. Ich kann kein einheitliches Motiv auf der Täterseite sehen, das ist sicher aber ein ganz eigenes Forschungsprojekt und eine ganz eigene Fragestellung. Das Motiv der Täter, also der wirklich in der Haftanstalt gegenüber saß, der dann verschiedene Maßnahmen durchgeführt hat, der abends nach Hause ging zu seiner Familie und morgens wieder hinkam und wusste, dass der andere da die Nacht in der Einzelzelle verbringt. Aber da ist sicher der Stefan Donth dann der deutlich bessere Experte für das Thema. Also nach meiner Erfahrung gibt es da kein "Profil" des typischen Täters. Warum macht ein Mensch so was? Wenn das Ihre Frage war.
Dagmar Hovestädt: Meine Frage ist mehr so: Sie beschäftigen sich eigentlich mit anderen Dingen. Jetzt kommen Sie mit Stasi-Unterlagen in Kontakt, mit diesem ganzen Stasi Komplex, und lesen quasi aus einer ganz anderen Perspektive historische Dokumente. Was passiert da? Nimmt man die anders wahr oder wie ordnet man die ein?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Das ist ja die Perspektive, die wir vorher schon kannten. Wir hatten ja bisher immer die Perspektive von Opfern gehört und die haben ja berichtet. Die kannten oft ja ihre Unterlagen und haben berichtet, was da drin stand. Also diese Perspektive kannten wir im Vorfeld schon.
Maximilian Schönherr: Frau Maslahati, haben Sie in dieser Zusammenarbeit das, was Herr Donth gerade erwähnt hat, mitgekriegt, dass die Haftbedingungen sich geändert haben in den 1950er Jahren im Verhältnis zu 1980er Jahren? Oder haben Sie so jemand, der 1950 in Haft war, lebt wahrscheinlich heute nicht mehr oder ist schon sehr alt, aber haben Sie solche Menschen auch in Ihrer Befragung schon drin?
Tolou Maslahati: Ja, ganz deutlich. Also da merken wir dolle Unterschiede. Wir haben, wie ich eben sagte, Nachkommen von Personen, die in den 50er Jahren inhaftiert waren und das fängt schon an mit: Wann haben Sie überhaupt davon erfahren, dass Ihr Elternteil in Haft war? Zum Teil erst im Jahr 2000. Also so das Ganze drum herum, dann die Bedingungen, die Sie dann eventuell im Nachhinein noch herausbekommen haben. Aber auch von Betroffenen selbst merken wir Unterschiede von dem, was die berichten, wie die Bedingungen damals vielleicht zu frühen Zeiten noch waren im Vergleich zu Bedingungen zu späteren Zeiten. Aber klar, die allermeisten, die wir untersuchen, waren jetzt nicht in den frühen Haftperioden inhaftiert.
Maximilian Schönherr: Es gab in der DDR auch politisch auf hoher Ebene der SED Diskussionen, wie man jetzt mit Untersuchungshäftlingen umgehen soll. Das war die Diskussion in den 1950er Jahren, als eine Untersuchungshaft noch nicht so definiert war wie in den 1980er Jahren. Also das fand ich jetzt persönlich interessant, weil ich habe viele Gerichtsprozesse gehört im Audiobestand des Stasi-Unterlagen-Archivs, wo das genau eine Rolle spielte. Wo auch hohe Richter, die sehr scharf waren in ihrem Urteil, auch Todesstrafen-Urteile verhängt haben, sagten die Haftbedingungen in der U-Haft in den 1950er Jahren: So geht das nicht. Wir müssen schon anständig dem Häftling ermöglichen, dass er Zugang zu einem Anwalt hat, zum Beispiel. Auch wenn das kein seriöser Anwalt war, der auf der Häftlingsseite war. Hat jetzt mit Ihrer Forschung nichts zu tun. Es fiel mir nur gerade ein.
Tolou Maslahati: Ja.
Dagmar Hovestädt: Wenn Sie sagen, dass Sie klinische Erfahrung haben im Umgang mit der Traumatisierung durch Stasi-Haft und Behandlung durch Stasi-Zersetzung, kann man denn die langfristigen Phänomene, die da bei Menschen entstehen, beschreiben? Kann man die so spezifisch beschreiben, dass sie sich von anderen Formen von Traumatisierung unterscheiden? Gibt es da was Spezifisches in der Art, wie Stasi-Behandlung traumatisiert hat?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Also auf der Symptomebene der Menschen sind das sehr ähnliche Symptome, weil die kamen ja zu uns mit einer Erkrankungen, mit der posttraumatischen Belastungsstörung. Das heißt die hatten ungewolltes Wiedererleben, die hatten Trigger, die sie daran erinnert haben, Vermeidungen, die konnten nicht in Kellerräume gehen, die hatten auch die schon bekannten körperlichen Begleiterkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, was wir metabolisches Syndrom nennen - also Problem mit dem Blutfetten, mit dem Blutdruck, also viele körperliche Erkrankungen. Da war schon eine Ähnlichkeit. Das andere waren also sozusagen so Einzelheiten, die dann in der Gruppe wieder was Besonderes ausmachen, zum Beispiel: Der Fakt, dass ja viele der Täter danach ungestraft geblieben sind und teilweise berichtet wurde, dass sie noch heute wissen, wo die wohnen und was die machen und dass sie die teilweise aufgesucht haben und die einfach ohne jegliche Strafe davongekommen sind. Also das sind schon so ein paar Besonderheiten, glaube ich von der Gruppe, die sich aufgrund der Geschichte sozusagen so darstellt.
Dagmar Hovestädt: Das kann ich mir gut vorstellen. Wir sind ja im Stasi-Unterlagen-Archiv immer wieder auch in Veranstaltungen und aber auch durch Begegnungen hier im Hause mit Menschen eben im Gespräch, die sich mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen, so wie sie in Akten dargestellt ist. Und das ist extrem wichtig, dass das Verhältnis sich umdreht, weil sie sind ja durch die Stasi kriminalisiert worden. Und eigentlich sagen wir: Sie waren diejenigen, die im Recht waren und die Stasi hat Unrecht begangen, indem sie sie kriminalisiert. Aber nach den Grundsätzen der Bundesrepublik ist das eigentlich nicht umgedreht, wenn man das strafrechtlich betrachtet. Und das kann für den Einzelnen mehr als nur Frust sein. Das lässt ihn auch verharren in diesem Gefühl, eigentlich immer noch der Täter gewesen zu sein, obwohl das eigentlich der andere ist, wenn es eben nicht offiziell festgestellt worden ist durch eine staatliche Sanktion wie eine Haft von einigen Jahren oder eine Geldstrafe oder irgendeine Art von Verurteilung durch ein Gericht.
Tolou Maslahati: Das merken wir ganz viel, dass auch viele berichten, das Gefühl zu haben, dass das gesellschaftlich auch nicht gut aufgearbeitet ist und sie deswegen sich immer noch nicht anerkannt fühlen als die Personen, die zu Unrecht inhaftiert waren und denen eben Unrecht widerfahren ist. Dass das auch viel dazu führt, dass diese Menschen sich sehr, sehr, sehr viel mit dem Thema auch bis heute beschäftigen.
Maximilian Schönherr: Also die Menschen, die in Ihrer Studie sich für diese Interviews zur Verfügung stellen, die wissen natürlich, was passiert war. Also jedenfalls sagen die: Ich war in Haft in der DDR. Während die, die in die Charité kamen - jetzt schon vor ein paar Jahren - wussten die, woher ihr Trauma kam?
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Ja, also die Fälle, es sind jetzt nicht sehr viele Fälle, es sind sozusagen Einzelfälle, die ich jetzt auch vor Augen habe. Denen war ganz klar, dass ihnen Unrecht widerfahren ist. Die hatten ein ganz klares Rechtsbewusstsein. Die hatten schon ein Gefühl von, dass ihnen da wirklich Unrecht widerfahren ist, dass sie unschuldig sozusagen im Sinne von, ich sage mal, Fluchtversuch oder Fluchthilfe und was da so bestimmte Urteilsgründe dann waren. Die haben und das ist wiederum typisch versucht mit Bewältigungsstrategien über die Jahre zu kommen, entweder wahnsinnig viel zu arbeiten oder Alkohol zu konsumieren oder immer wieder in Konflikte zu geraten. Also die bekannten Strategien, die wir schon kennen, dass Menschen, denen so was widerfahren ist, also überhaupt Traumatisierungen, die haben wir bei den Menschen auch gesehen. Und dann zum Beispiel, wenn das Rentenalter kam oder ein anderes Lebensereignis mit Trennung oder andere Erkrankungen, dass man sich dann noch mehr damit auseinandergesetzt hat. Und das waren dann Momente, wo die Menschen sich Hilfe geholt haben.
Maximilian Schönherr: Und das heißt, es gab aber niemanden in ihrer Therapiegeschichte, der oder die kam und nicht wusste, warum sie so schlecht geht psychisch? Und sie fanden dann durch die Therapie heraus oder durch die Analyse heraus - Analyse machen sie wahrscheinlich sowieso nicht - aber da hätte man das rausfinden können. Da stimmt, da war ja 1965 was, was er vergessen hatte.
Prof. Dr. med. Stefan Röpke: Nee, für die Menschen, die wir da hatten, wie gesagt, das ist eine eine Handvoll, aber die haben ganz klar massiv darunter gelitten. Die wussten, dass es das große einschneidende Ereignis in meinem Leben, das ist gewesen, wo ich aus allem rausgerissen wurde, wo ich - oft ist ja dann dieser Freikauf danach gewesen in die Bundesrepublik - vor dem Nichts stand, von meiner Familie getrennt war, nicht wusste, wie es meiner Frau, meinen Kindern geht. Also da war niemand, dem das nicht klar war, sondern im Gegenteil, dem war das sehr, sehr klar, dass genau dieses "Ereignis" so ihr Leben zerstört hat.
Dagmar Hovestädt: Wie lange wird es noch dauern? Und gibt es irgendwann sozusagen ein Datum oder eine Zahl, wo sie sagen, das ist gut, da können wir jetzt einen Strich machen und können das komplett auswerten oder wo steht das Projekt jetzt sozusagen? Ich weiß, es war ja auf vier Jahre angelegt. Wir nähern uns, glaube ich, so einer Grenze, also am Ende jetzt. Wo stehen wir? Wie geht es weiter?
Dr. Stefan Donth: Die Förderung geht vier Jahre. Diese vier Jahre enden jetzt am 31. Dezember 2022. Wir haben vom Bundesforschungsministerium eine viermonatige Verlängerung bekommen, um die Corona bedingten Ausfälle, die wir hatten wie geschlossene Archive oder die Charité durfte keine Testungen durchführen mit der Hochrisikogruppe jetzt während der Corona Zeit. In diesen vier Monaten wollen wir versuchen, das, was in der ersten Förderphase nicht abgeschlossen werden konnte, zu einem Ende zu bekommen. Wir hoffen auf eine Verlängerung dieser wichtigen Forschungen. Dafür hat, so wie wir gehört haben, der Deutsche Bundestag jetzt die Weichen gestellt. Wir werden das Gespräch mit dem Bundesforschungsministerium suchen, um hier zu Regelungen zu kommen, die es ermöglichen, die Forschungen auch inhaltlich um weitere Zielgruppen, beispielsweise Menschen, die in mit sehr jungen Jahren inhaftiert wurden, in die vielfältigen Haftanstalten, die es in der DDR auch für Jugendliche gegeben hat, die da von diesen sehr harten Haftbedingungen betroffen waren, um die zu untersuchen. Ein weiterer großer Schwerpunkt dieser zweiten Förderphase sollte dann auch die Vermittlung der vielen Forschungsergebnisse sein, die wir in der ersten Phase uns erarbeitet haben. Das soll ja kein Wissen sein, das in einen sehr engen Personenkreis beschränkt ist oder nur auf das universitäre Umfeld, sondern wir wollen mit unseren Ergebnissen auch breite Bevölkerungsschichten erreichen. Wir wollen junge Menschen erreichen und sie mit dem mit dem Unrecht in der DDR vertraut machen. Wir wollen Beratungsangebote entwickeln, damit wir den Betroffenen von politischer Haft helfen können. Das sind nur zwei Beispiele, die wir hier untersuchen wollen. Bei der Vermittlung helfen uns natürlich auch die ehemaligen Häftlinge, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die beispielsweise über das koordinierende Zeitzeugenbüro bundesweit an Schulen vermittelt werden und dort mit etwa 1.000 Gesprächen pro Jahr etwa 25.000 Schülerinnen und Schüler erreichen. Um hier nur ein Beispiel zu nennen.
Maximilian Schönherr: Ich hätte noch eine letzte Frage, zum Beispiel an Frau Maslahati: Haben Sie bei diesen vielen Befragungen und Interviews, die Sie geführt haben, irgendwas völlig Außergewöhnliches, wo sie dachten das gibt es doch gar nicht, gelernt oder passte alles ungefähr in einen Rahmen. Sie müssen jetzt keine Namen nennen, aber mich interessiert es bei der Forschung immer, wenn so etwas völlig rausfällt, wo man dann zweimal nachfragen muss oder nachdenken muss, ob das reinpasst. Ist Ihnen so was vorgekommen?
Tolou Maslahati: Ich glaube, es passte alles in einen Rahmen, den ich aber im Ganzen für außergewöhnlich empfunden habe. Und ich glaube, wo mir vorher auch nicht bewusst war, was für Ausmaße das angenommen hat in der politischen Haft in der DDR.
Dagmar Hovestädt: Herr Röpke, wollen Sie noch ergänzen oder Herr Donth?
Dr. Stefan Donth: Ich möchte Ihre Frage, Herr Schönherr, beantworten. Im Rahmen unserer interdisziplinären Zusammenarbeit sind wir auf einen Zeitzeugen gestoßen, der auch hier in der Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen Führungen macht, der uns über seine Haft im Polizeigefängnis Keibelstraße in Berlin Mitte berichtet hat. Wir haben dann durch eine Akteneinsicht da viele interessante Dinge erfahren, über die Haftumstände und den Umgang mit ihm, der als junger Mensch gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag 1968 protestiert hat. Wir konnten diese genauen Haftumstände rekonstruieren und haben diese Geschichte in dem Themenheft Stasi in Berlin, dass die Stasi-Unterlagen-Behörde vor kurzem publiziert hat - dort hat dieses Schicksal Eingang gefunden -, auf das wir nur gestoßen sind, weil wir mit der Charité zusammen diese doch recht ungewöhnlichen Haftumstände aufklären wollten. Ansonsten wäre dieser Aspekt wahrscheinlich unentdeckt geblieben.
Dagmar Hovestädt: Dann wünsche ich, dass die knappe Zeit, die da ist, trotzdem weiter dazu beiträgt, das Projekt super abzuschließen. Und ich glaube, wir sind sehr gespannt, auch dass es dann viele Erkenntnisse gibt, über die wir uns hoffentlich auch lange austauschen und vielleicht gibt es sogar Nachfolgeprojekte, weil ja sicherlich ganz neue Erkenntnisse auch vermittelt werden, weil es zum Ersten Mal so ist, dass eine größere Gruppe an ehemaligen politischen Häftlingen systematisch quasi vermessen wird, wenn man das ein bisschen nüchtern so betrachtet, um zu sehen, was es eigentlich bedeutet, in politischer Haft zu sein und wie lange anhaltend Schäden sind, wie man sie beschreiben kann und was es dafür braucht, auch gesellschaftlich, um damit weiter umzugehen. Also jedenfalls danke für den spannenden Einblick in ein wirklich tolles interdisziplinäres Projekt.
Dr. Stefan Donth: Wir bedanken uns bei Ihnen für die Möglichkeit. Dankeschön!
[Jingle]
Dagmar Hovestädt: Das waren Tolou Maslahati und Prof. Dr. Stefan Röpke von der Charité und Dr. Stefan Donth von der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Alle drei sind im Teilprojekt "Körperliche und psychische Folgen politischer Haft" im Forschungsverbund Landschaften der Verfolgung aktiv.
Maximilian Schönherr: Unser Podcast endet wie immer mit einer akustischen Begegnung mit dem riesigen Audiopol des Stasi-Unterlagen-Archivs. Wie immer ohne inhaltlichen Zusammenhang zu dem, was wir vorher besprochen haben. Ich habe ihn noch nicht gehört, aber jetzt hören wir ihn.
[Tonspulen]
Elke Steinbach: Mein Name ist Elke Steinbach und ich kümmere mich mit meinen Kolleginnen und Kollegen um die Audioüberlieferung des MfS. Die Abstimmung in wirtschaftlichen Fragen im RGW, dem 1949 gegründeten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, stand für DDR Betriebe auf der Tagesordnung. Der RGW unter Führung der Sowjetunion war das sozialistische Gegenstück zum Marshallplan und zur Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit. 1991 wurde er aufgelöst. 1971 entwickelten die Firmen Philips und Grundig das erste analoge Farbvideokassetten Format für den Heimgebrauch, was unter dem Namen VCR, Video Cassette Recording, sehr erfolgreich war und auch im sozialistischen Wirtschaftsgebiet Begehrlichkeiten weckte, deren Befriedigung allerdings immer an Valutamittel gebunden war. Im Bezirk Halle stellte die Filmfabrik Wolfen schon vor dem Zweiten Weltkrieg den ersten Farbfilm her und 1970 wurde sie Stammbetrieb des VEB Fotochemisches Kombinat Wolfen. Vor diesem Hintergrund ist folgendes Diktat aus dem Jahr 1973 aus der Bezirksverwaltung Halle hoffentlich verständlich, wo es um die Frage geht, wer im RGW die Entwicklung der Videotechnik übernimmt. Erwähnter PWT 73 ist der Plan Wissenschaft und Technik von 1973. Videotechnik war für die Arbeit des MfS von großem Interesse. In der Videoüberlieferung finden sich neben VHS, Betamax, Video 2000 deshalb auch VCR-Kassetten.
[Archivton Beginn]
Sprecher 1: Nach den bisherigen Informationen tendieren sowohl die Volksrepublik Polen als auch die UdSSR zu dieser Philips Version. Nach Auskunft der sowjetischen Spezialisten im Januar 73 orientiert man sich zwar sowohl bei Philips als auch bei Sony, aber die Tendenz scheint ziemlich eindeutig zu VCR Kassette von Philips zu gehen. Nach- Ach so, außerdem ist auf die Erfüllung der Festlegung der V5 Verteidigung Videoband - ähm - ein Brief an den Genossen Lukaschinski in Moskau gerichtet worden, seitens des Generaldirektors, um hier Abstimmungsgespräche über die Kassettenentwicklung herbeizuführen. Bezüglich der Zusammenarbeit mit Polen gab es erste Absprachen zwischen dem Generaldirektor [unverständlich] und dem Generaldirektor von Unitra, der im Januar die DDR besucht hat. Vom FCK nahmen daran Dr. [unverständlich] teil. Absatz. Es ergibt sich zurzeit folgende Situation. Erstens: Im PWT 73 ist verankert, dass wir die Aufgabenstellung für die Entwicklung Kassettenband bis September 73 formulieren auf der Basis von orientierten Vorversuchen in der Grundlagenforschung bzw. der Anwendungsforschung, wobei als Voraussetzung die zur Verfügungstellung von einigen Kassettenmustern und eines Gerätemusters genannt sind. Während ein Kassettenmuster da ist und auch schon gewisse Vorstellungen bestehen, wie man so etwas machen könnte, ist ein Gerätemuster noch nicht in Sicht und auch nicht mit festen Terminen abgesichert. Zweitens: Es haben nach meiner Kenntnis bisher noch keinerlei Abstimmungsgespräche über die Entwicklung der Kassette mit der Volksrepublik Polen und der UdSSR stattgefunden, obwohl die im Laufe des ersten Quartals stattfinden soll. Das führt dazu, dass jetzt von uns keine Aktivitäten ausgelöst werden können hinsichtlich einer Eigenentwicklung in der DDR solange die Abstimmung mit der UdSSR und der Volksrepublik Polen nicht geklärt ist. Denn ein Ziel der Abstimmung sollte sein, dass nach Möglichkeit eines der beiden Länder die Entwicklung der Kassette für die DDR mit übernimmt. Und nur wenn das nicht erfolgt, kann eine Eigenentwicklung in der DDR aufgenommen werden.
[Archivton Ende]
[Tonspulen]
[Jingle]
Sprecher: Sie hörten:
Sprecherin: "111 Kilometer Akten
Sprecher: den offiziellen Podcast des Stasi-Unterlagen-Archivs."