Foto einer Gedenkveranstaltung an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora aus dem Fotobestand des MfS-Wachregiments,
Quelle:
BArch, MfS, Wachregiment, Nr. 14398, Bl. 81 (Ausschnitt)
Die Stasi und der Essener Prozess zum KZ Mittelbau-Dora
Zwischen Vergangenheitsbewältigung, Propaganda und Ost-West-Konflikt
Mitte der 1960er Jahre begann die Stasi, sich eingehend mit den nationalsozialistischen Verbrechen um den KZ-Lager-Komplex Mittelbau-Dora auseinanderzusetzen und umfassende Archivauswertungen und Ermittlungen vorzunehmen. Hintergrund war das sich hierzu anbahnende zweite große Strafverfahren auf westdeutschem Boden, der Essener Dora-Prozess, welcher im November 1967 vor dem Essener Landgericht begann. Seit Anfang der 1960er Jahre liefen entsprechende Vorermittlungen in der Bundesrepublik, die vielfach Rechtshilfeersuchen an verschiedene Stellen in der DDR einschlossen und so die Stasi auf den Plan riefen.
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Das KZ Mittelbau-Dora
Das KZ Mittelbau-Dora war im Sommer 1943 durch die SS in der Nähe von Nordhausen zunächst als Außenlager des KZ Buchenwald errichtet worden. Im Oktober 1944 wurde es zum eigenständigen Konzentrationslager mit einem v. a. über den Harz weit verzweigten Netz an ca. 40 Nebenlagern und Außenkommandos. Die in Peenemünde entwickelten „V-Waffen“ (V1 und V2) sollten hier in einem Stollen zeitnah in die Serienproduktion gehen, da die deutsche Rüstungsindustrie aufgrund des Luftkrieges zunehmend unter Tage verlagert wurde.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges war Mittelbau-Dora zur größten unterirdischen Rüstungsfabrik angewachsen. Bereits vor der Produktionsaufnahme im Frühjahr 1944 forderte die durch die Nazis bewusst herbeigeführte „Vernichtung durch Arbeit“ tausende Opfer unter den Häftlingen.
Bis zur Befreiung durch die Alliierten fanden mindestens 20 000 von ihnen den Tod. Sie starben durch unmenschliche Arbeitsbedingungen beim Auf- und Ausbau der Anlagen und des Stollensystems oder später in der Produktion. Hinzu kamen sogenannte Invalidentransporte in die KZ Lublin-Majdanek und Bergen-Belsen, Folter, willkürliche Hinrichtungen durch die SS sowie katastrophale Lebensbedingungen.
Ende März 1945 wurde die Produktion eingestellt und das Hauptlager bei Nordhausen am 11. April 1945 durch die US-Armee befreit. Jedoch zuvor durch die SS veranlasste Räumungstransporte und Todesmärsche aus dem Haupt- und seinen Außenlagern forderten bis Kriegsende weiterhin viele Menschenleben. Die Ermordung von über tausend Häftlingen am 13. April 1945 in der Isenschnibber Feldscheune bei Gardelegen stellte dabei das grausamste Endphaseverbrechen mit Bezug zum KZ Mittelbau-Dora dar.
Getarnter Eingang zur unterirdischen V2-Anlage des Konzentrationslagers Mittelbau-DoraQuelle: John R. Driza (National Archives, Washington)
Zwei befreite Häftlinge des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora vor einer halbfertigmontierten V2 am 12. April 1945Quelle: John R. Driza (National Archives, Washington)
Amerikanische Kongressabgeordnete besichtigen das befreite Konzentrationslager Mittelbau-Dora am 1. Mai 1945Quelle: Merge (National Archives, Washington)
Produktionshalle der V1 im KZ Mittelbau-DoraQuelle: unbekannt (D-Day Museum, Portsmouth)
Zwei Offiziere der britischen Armee neben einem Güterzug vor dem getarnten Eingang des Fahrstollens A im KZ Mittelbau-DoraQuelle: unbekannt (D-Day Museum, Portsmouth)
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Fotoarchiv der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora
In diesem Online-Portal der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora finden Sie die fotografische Überlieferung der Geschichte Mittelbau-Doras.
Das erste große Verfahren zu den im KZ Mittelbau-Dora begangenen Kriegsverbrechen fand 1947 statt. Ein amerikanisches Militärgericht zog im Dachauer Nordhausen-Hauptprozess 19 Angeklagte zur Verantwortung und sprach 15 von ihnen letztlich schuldig. Am nun anstehenden zweiten großen Prozess zu diesem Verbrechenskomplex gegen die SS-Leute Helmut Bischoff (als „Abwehrbeauftragter“ des SD im KZ Mittelbau Dora tätig), Erwin Busta (leitender Aufseher im Stollen des KZ) und Ernst Sander (im Auftrag der Gestapo Niedersachswerfen zuständig für Sabotage-Aufklärung im KZ) nahm die DDR als Nebenklagevertreterin teil. Den Angeklagten wurden insbesondere Einzel- und Massenexekutionen und schwerste Misshandlungen von Häftlingen in ihren jeweiligen Funktionen vorgeworfen.
Lichtbild von Helmut BischoffQuelle: BArch, DP 3/1682
Lichtbild von Erwin BustaQuelle: BArch, DP 3/1682
Lichtbild von Ernst SanderQuelle: BArch, DP 3/1682
Friedrich Karl Kaul
Mit Rechtsanwalt Friedrich Karl Kaul entsandte die DDR für die Vertretung der Nebenkläger einen Anwalt, den die Nazis selbst aufgrund seiner jüdischen Abstammung verfolgt und inhaftiert hatten. Aus dem KZ Dachau wurde er 1937 unter der Auflage seiner Ausreise aus Deutschland entlassen. Unmittelbar nach Kriegsende kehrte Kaul aus den USA in die SBZ/ DDR zurück und noch vor der Trennung der Berliner Justizsysteme ließ ihn das dortige Kammergericht 1948 als Anwalt zu. Durch diesen Umstand gehörte er zu den wenigen ostdeutschen Anwälten, die auch an Westberliner und westdeutschen Gerichten anwaltlich tätig werden konnten. In der Folge war Kaul u. a. Hauptprozessbevollmächtigter im KPD-Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sowie Nebenklagevertreter im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-1965) und zweiten Frankfurter Euthanasie-Prozess (1967-1968).
Friedrich Karl Kaul im Februar 1961Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-80463-0001 / Leske, Peter
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Portraitfilm über Friedrich Karl Kaul aus dem Jahr 1971
In einem Film im Digitalen Lesesaal des Bundesarchivs berichtet Friedrich Karl Kaul über seine Arbeit und geht auch auf den Essener Prozess zum KZ Mittelbau-Dora ein.
Die Wahrnehmung dieser Mandate war durch eine enge Kooperation mit dem MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... sowie eine propagandistische Nutzung der jeweiligen Verfahren geprägt: Die DDR sollte dabei als Vertreter der Opfer und das „bessere“ Deutschland erscheinen, die Bundesrepublik als das Land, in dem NS-Täter wieder in Amt und Würden gelangt waren.
In seiner Rolle vor dem Essener Gericht wurde Kaul durch eine eigens hierfür ins Leben gerufene „AG Dora“ unterstützt, die sich aus Vertretern der DDR-Generalstaatsanwaltschaft, des MfS und MdI, einer studentischen Forschungsgruppe der Humboldt-Universität um den Historiker Prof. Dr. Walter Bartel sowie Mitarbeitern Kauls zusammensetzte. Eine direkte Anbindung an das Sekretariat des ZK der SED war ebenso gewährleistet. Stasi-Minister Mielke stimmte der Einrichtung der Arbeitsgruppe zu, verfügte für das MfS die Zuständigkeit der HA IXHauptabteilung IXFür strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die... und wies an, alle Linien sowie die Bruderorgane anzusprechen.
Die Abteilung 11 der HA IXHauptabteilung IXFür strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die... wurde umgehend tätig und wandte sich an alle relevanten Diensteinheiten mit der Aufforderung, dringend Ermittlungsergebnisse und Hinweise auf Zeugen zum KZ Mittelbau-Dora zu übersenden. Ein entsprechendes Fernschreiben vom 20. Februar 1967 erreichte so z. B. auch den Leiter der BVBezirksverwaltungIm Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf... Magdeburg, der wiederum alle in seinem Verantwortungsbereich liegenden Kreisdienststellen und operativen Abteilungen der BV anwies, in der Angelegenheit aktiv zu werden.
Bei diesen Ermittlungen und Recherchen zum Dora-Prozess konnte die Stasi auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie aus ihrerseits bereits zuvor durchgeführten "Aktionen" mit gleicher Zielrichtung - der Diskreditierung der Bonner Republik - gesammelt hatte.
So lief u. a. im März 1965 eine durch Erich MielkeMielke, Erich28.12.1907 - 21.05.2000
veranlasste Aktion zu NS-Verbrechen an. Mit Schreiben vom 02.03.1965 hatte der Stasi-Minister alle Leiter der BVBezirksverwaltungIm Zusammenhang mit der Verwaltungsreform der DDR vom Sommer 1952 wurden die fünf... sowie die Leiter aller operativen Hauptabteilungen dazu aufgefordert, Unterlagen, die Informationen zu „Nazi- und Kriegsverbrechen“ enthielten, bis zum 30.03.1965 an sein Sekretariat zu übersenden. Als Aktionsdecknamen wählte Mielke das unvermeidlich zynisch wirkende Kennwort „Konzentration“.
Die Leiter der BV gaben die Weisung an die KDKreisdienststelleDie KD waren neben den Objektdienststellen die territorial zuständigen Diensteinheiten. Sie waren... und Abteilungen ihres Zuständigkeitsbereiches weiter. Zwei wesentliche Punkte sollten in der Bearbeitung beachtet werden: Mit Blick auf die Verjährungsdebatte in Bezug auf NS-Verbrechen in der Bundesrepublik sollte Belastendes über dort lebende Personen, vor allem solcher, die öffentliche Ämter bekleideten, an Mielke übermittelt werden. Im Fokus stand dabei insbesondere Bundespräsident Heinrich Lübke und dessen Tätigkeit für die „Baugruppe Schlempp“ in der NS-Zeit. Gleichzeitig wurde eine Weitergabe von Informationen über DDR-Bürger angewiesen, zu denen Hinweise auf eine Mitwirkung an Nazi-Verbrechen vorlagen.
Mit der Aktion „Nazikamarilla“ hatte es schon Anfang der 1960er Jahre einen ähnlich konzertierten Versuch gegeben, bundesrepublikanische Verantwortungsträger bloßzustellen. Hier standen Bundeskanzleramtschef Hans Globke und die Sicherheitsbehörden der BRD im Mittelpunkt. Deutlich zeigte sich im Rahmen dieser Aktion aber, dass das Vorgehen des MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... und anderer DDR-Organe im Kontext von NS-Verbrechen mitunter von einem Kompetenzgerangel und Koordinationsdefizit geprägt war, die dem eigenen Anliegen eher im Wege standen: Die HV AHauptverwaltung ASpionageabteilung des MfS, deren Bezeichnung sich an die der Spionageabteilung des KGB, 1.... beschwerte sich – ausweislich eines in den Stasi-Unterlagen erhaltenen Vermerkes zur Aktion – über die aus ihrer Sicht „recht spontan zu Werke“ gehende Agitationskommission des ZK, forderte Rücksprachen vor Veröffentlichungen, abgestimmte Archivrecherchen und eine zentrale Auswertungsgruppe ein.
Insofern erscheint die Einrichtung der „AG Dora“ durch das Sekretariat des ZK der SED nur folgerichtig – ähnlichen Entwicklungen rund um den Essener Dora-Prozess konnte auf diese Weise vorgebeugt werden. Mielke hatte der damit verbundenen Zusammenarbeit mit externen Akteuren für sein Ministerium zugestimmt, sorgte zudem aber auch für interne Strukturveränderungen. So entstand innerhalb des Stasi-Untersuchungsorgans HA IXHauptabteilung IXFür strafrechtliche Ermittlungen zuständige Diensteinheit (Strafverfolgung). Sie hatte wie die... die Abteilung 11. Diese agierte dann wie beschrieben bereits während des Jahres 1967 im Rahmen des Dora-Prozesses, bevor mit Befehl 39/1967 des Ministers vom 23.12.1967 offiziell ihr Aufgabenbereich festgelegt wurde. Sie zeichnete fortan verantwortlich für die „einheitliche, systematische Erfassung, Archivierung und politisch-operative Auswertung und Nutzbarmachung“ von NS-Materialien, welche sie auch zu beschaffen hatte.
Im Spannungsfeld von Systemkonkurrenz und Vergangenheitsbewältigung
Beide genannten MfS-Aktionen verband, dass sie vor dem Hintergrund außerhalb der DDR stattfindender NS-Kriegsverbrecherprozesse bei jeweils aktuellem Aufbrechen einer Verjährungsdebatte in der Bundesrepublik ins Rollen kamen. Die dabei entstehende Öffentlichkeit sollte für die Darstellung der DDR als antifaschistischer Staat und zugleich für die Diffamierung der Bundesrepublik genutzt werden. Die damit Hand in Hand gehende Externalisierung von Schuld bei gleichzeitiger Exkulpation der eigenen Bevölkerung blieben im weiteren Verlauf zwangsläufiges und gewolltes Produkt einer vorwiegend äußeren Anlässen folgenden Form von Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der DDR, die einen Blick auf die eigene Verstrickung und Täterschaft vermied.
Unbenommen davon bot mindestens die Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre aufgrund unübersehbarer vergangenheitspolitischer Defizite jedoch hinreichend Angriffspunkte für diese Strategie.
Die Nebenklagevertretung im Dora-Prozess
Für das konkrete Agieren der Nebenklagevertretung im Essener Dora-Prozess stellte diese moralische Selbstüberhöhung der DDR allerdings insbesondere beim Umgang mit Zeugen aus der DDR eine schwere Hypothek dar. Die durch die „Zentrale Stelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von NS-Verbrechen“ (Köln) geführten Ermittlungen hatten zwar zur Folge, dass seitens der DDR im Vorfeld des Prozesses schon vorhandene Zeugenaussagen zum KZ Mittelbau-Dora übersandt wurden. Doch nur ein geringer Teil dieser Aussagen war für die konkreten Tatvorwürfe gegen die Beschuldigten verwertbar. Die wenigen relevanten Zeugen aus der DDR, die im Rahmen der Anklage benannt und daher zur Vernehmung vor Gericht vorgesehen waren, wurden allesamt mit einer Ausreisesperre belegt.
Den Hintergrund dieser von Mielke persönlich abgesegneten Ausreisesperre stellten Personenüberprüfungen der Stasi dar. Anstelle inhaltlicher Validität und der Frage nach Aussagen, die der Aufklärung dienlich hätten sein können, entschieden über das (Nicht-)Erscheinen der Zeugen vor Gericht „politisch-operative Gründe“: Unter den Betreffenden waren sogenannte Erstzuzüge (ehemalige Bürger der Bundesrepublik), Ausreisewillige, als „politisch unzuverlässig“ eingestufte Bürger sowie Personen, die entweder wegen Delikten „allgemeiner Kriminalität“ durch die Nazis ins KZ verbracht wurden oder derlei Delikte in der DDR begangen hatten. Teilweise trafen mehrere dieser Punkte gleichzeitig zu.
Sowohl die DDR-Generalstaatsanwaltschaft als auch die Stasi befürchteten wegen dieser Gemengelage in den Überprüfungsergebnissen eine „Diffamierung“ der DDR durch die westliche Presse und Politik, sollten die Zeugen im Prozess persönlich auftreten. Zudem war – aus DDR-Sicht – mit diesen Zeugen das propagierte Bild des heldenhaft-antifaschistischen Widerstandes nicht zu erzeugen. Stattdessen sollten kommissarische Vernehmungen durch DDR-Gerichte erfolgen, die im Prozess in Essen allerdings den Verteidigern die Möglichkeit eröffneten, deren Beweiskraft dem Zweifel staatlicher Einflussnahme auszusetzen. Zumal die DDR andere Verfahrensbeteiligte von diesen Vernehmungen ausschloss. Kaul war sich dieser Problematik bewusst und wandte sich noch im September 1967 vergeblich per direktem Schreiben an Mielke, um vor allem am Ausschluss weiterer Verfahrensbeteiligter bei den kommissarischen Vernehmungen etwas zu ändern.
Schreiben von Friedrich Karl Kaul an Erich Mielke zu den Zeugen aus der DDR im Essener „Dora-Prozess“
Zwar war damit die gewünschte positive Selbstdarstellung der DDR vor Gericht über eigene Zeugen nicht realisierbar, gleichwohl gelang es Kaul zumindest – auf dem Umweg einer fortlaufenden Kompromittierung des Prozessverlaufes, des gerichtlichen Umgangs mit den Angeklagten und der Strafverfolgungspraxis von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik –, das westdeutsche Verhältnis zur Vergangenheitsbewältigung an den Pranger zu stellen.
Beredtes Zeugnis dieser Strategie ist der von Kaul am 4. November 1969 gehaltene Schlussvortrag im Prozess, der sich ebenfalls in den Unterlagen der Stasi befindet. In diesem wird zudem das Vorgehen seiner Nebenklagevertretung pointiert sichtbar, welches sich im Wesentlichen durch die Benennung namhafter westlicher Zeugen und die Vorbringung eigener (Gegen-)Gutachter und Sachverständiger auszeichnete. Dabei blieb Kaul bei seinerseits zu diesem Zweck im Prozessverlauf gestellten und vom Gericht bisweilen abgelehnten Anträgen hartnäckig, brachte Anträge im Zweifel mehrfach ein.
Aufsehenerregenden Erfolg verzeichnete die Taktik der Nebenklage mit den wiederholt gestellten Anträgen, mittels derer sie die zeugenschaftliche Vernehmung sowohl Wernher von Brauns als auch Albert Speers durchsetzte. Die ebenfalls beantragte Zeugenvernehmung Heinrich Lübkes verwehrte das Gericht hingegen bis zuletzt. Im Falle von Brauns, in seiner Rolle als technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde in der NS-Zeit befragt, erfolgte die Vernehmung kommissarisch in den USA, wo er inzwischen für die NASA tätig war. Albert Speer, dessen NS-Rüstungsministerium die Fertigstellung der V-Waffen oblag, wurde am 30. Oktober 1968 vor Gericht vernommen.
Raketenversuchsgelände in Peenemünde, in Zivil: Wernher von Braun, Frühling 1941Quelle: BArch, Bild 146-1978-Anh.024-03 / o. Ang.
Hohe Offiziere und NS-Führer in Peenemünde, u.a. Joseph Goebbels und Albert Speer (rechts), August 1943Quelle: BArch, Bild 146-1992-093-13A / Hubmann, Hanns
Die beiden prominenten Zeugen gaben zur Herstellung der V-Waffen jeweils an, persönlich von Sabotage – das war der prozessrelevante Kern der Vernehmungen – nichts gewusst zu haben. Speer hob in seiner Vernehmung zudem hervor, dass speziell die V2 überstürzt und ohne die notwendige Entwicklungsreife in Fertigung ging. Dementsprechend sei bei Fehlleistungen der V-Waffen die Ursache schwer zu identifizieren gewesen und sowohl Sabotage als auch dem Entwicklungsstand geschuldete Mängel kamen dafür als Erklärung in Frage. Das war insofern erheblich, als dass die den Angeklagten zur Last gelegten und als „Sonderbehandlung“ chiffrierten Exekutionen selbst in der Todesmaschinerie von Mittelbau-Dora Sabotage als Grund voraussetzten.
Gleichwohl Kaul an anderer Stelle den kommunistischen Widerstand in Form gezielter Sabotage hervorhob, verneinte er insbesondere für die von den Angeklagten u. a. zu verantwortenden bzw. unter ihrer Teilnahme stattgefundenen Massenexekutionen – am 10.03.1945 (58 KZ-Häftlinge), 20./21.03.1945 (60 KZ-Häftlinge) und sieben Erschießungen Anfang April 1945 – das Vorliegen von Sabotageakten. Vielmehr sei es bei diesen Hinrichtungen in erster Linie um Abschreckung zur Aufrechterhaltung des menschenverachtenden KZ-Systems gegangen.
Prozessende
Am 8. Mai 1970, genau 25 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa, fielen im Essener Dora-Prozess die Urteile gegen Sander (7,5 Jahre Haft) und Busta (8,5 Jahre Haft). Gegen Bischoff war das Verfahren aus gesundheitlichen Gründen bereits kurz vor Urteilsverkündung ausgesetzt und schließlich am 26. Mai eingestellt worden. Doch auch die beiden verurteilten Täter mussten ihre Haft infolge von Haftaufschub und späterer Haftunfähigkeit nie antreten.
Friedrich Karl Kaul setzte seine anwaltlichen Tätigkeiten in bundesdeutschen Gerichtsverfahren zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen noch im gleichen Jahr fort und vertrat Nebenkläger im Düsseldorfer Treblinka-Prozess.
Allein die durch die HAHauptabteilungOrganisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter... IX/ Abteilung 11 nur zum Essener Dora-Prozess angelegten Akten umfassten am Ende 360 Bände.
Auf dem Gelände des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora entstand zu DDR-Zeiten die „Mahn- und Gedenkstätte Dora“, die sich vor allem dem kommunistischen Widerstandskampf widmete, jedoch im Vergleich zu anderen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten“ der DDR weniger Beachtung fand. Mit der deutschen Vereinigung veränderte und weitete sich der Blick der Gedenkstättenarbeit. Für die heutige „KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora“ wurden weitere Teile des historischen Ortes zugänglich gemacht und ein neues Museumsgebäude errichtet.
Kranzniederlegung in der Mahn- und Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora am 23. Januar 1975Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-P0210-405 / Ludwig, Jürgen
Giesecke, Jens: Antifaschistischer Staat und postfaschistische Gesellschaft: Die DDR, das MfS und die NS-Täter, in: Historical Social Research, Vol. 35/ No. 3, Köln 2010, S. 79-94.
Heß, Thorsten [Hrsg.]: Zwangsarbeit und die unterirdische Verlagerung von Rüstungsindustrie. Vorträge (Schriftenreihe der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora), Berlin [u. a.] 1994.
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KZ-Gedenkstätte Neuengamme [Hrsg.]: Schuldig. NS-Verbrechen vor deutschen Gerichten (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, 9), Bremen 2005.
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Wagner, Jens-Christian: Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora [Hrsg.], Göttingen 2001.
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