"Von Moskau bis New York, von der Antarktis bis zu den Inseln des Nördlichen Eismeeres wird die fortschrittliche Menschheit im April dieses Jahres den 100. Geburtstag W. I. Lenins begehen. In allen vier Himmelsrichtungen werden Vorbereitungen für dieses Jubiläum getroffen", hieß es zu Beginn des "Lenin-Jahres" im Leitartikel des Neuen Deutschland. Ohne Zweifel: Der sowjetische "Über-Vater" war das zentrale Leitmotiv in der SED-Propaganda des Jahres 1970.
Hinter einer derart überwältigenden Themensetzung durfte die Betriebsparteiorganisation der SED im VEB Fernsehgerätewerk Staßfurt natürlich nicht zurückstehen, als sie sich am 17. Februar 1970 zu einer Parteiaktivtagung im großen Saal des Kulturzentrums ihres Betriebs versammelte. "Lenin ehren heißt – Pionier- und Spitzenleistungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens zu vollbringen", lautete das Motto, unter dem die Delegierten einen Tag lang berieten.
Zufall oder Verdachtsfall?
Doch in der Pause gegen 16:05 Uhr kam es zum großen Knall: Das aus Holzleisten und Dekopappe gezimmerte Transparent, auf dem das Tagungsmotto über den Versammelten schwebte, stürzte direkt hinter den Präsidiumsmitgliedern zu Boden. Zu Schaden kam niemand, selbst das Transparent blieb unversehrt, doch bereits zehn Minuten später wurde das Volkspolizeiamt Staßfurt über das Geschehen informiert. Vermutlich hatte ein Volkspolizist die Tagung besucht. Knapp drei Stunden später waren zwei VP-Angehörige und ein MfS-Mitarbeiter an den "Ereignisort" geeilt und begannen mit den Ermittlungen.
Grund für den Einsatz war der Verdacht, beim Absturz des Transparents habe es sich um einen Akt der "Staatsverleumdung" gehandelt. Unbekannte Täter hätten möglicherweise, so der zuständige VP-Leutnant, das Transparent absichtlich heruntergerissen und auf diese Weise ihre oppositionelle Haltung zum Ausdruck gebracht. Ein scheinbar unbedeutender Vorfall wie das Herabfallen eines Transparents ließ sich, wie das Beispiel zeigt, auf der Grundlage des Weltbildes der SED als ein Akt interpretieren, der an die Grundfesten des Herrschaftssystems zu rühren schien. Hinter jedem Problem, das an noch so abgelegener Stelle auftauchte, konnte sich eine Gefahr verbergen, die es aufzuspüren und zu beseitigen galt.
Deshalb ließen die drei Ermittler nichts unversucht, um den Vorfall im Fernsehgerätewerk aufzuklären. Noch am selben Abend wurde der Dekorateur des Betriebs, der 57-jährige Walter R. befragt. Der Mann, der "seit 6 oder 7 Jahren" für derartige Aufgaben zuständig war, erklärte, dass er das Transparent etwa drei Wochen zuvor mit zwei Malern aufgehängt hatte. Die Ermittler hielten fest:
Zum Verhängnis wurden dem Transparent aber offenbar die Faschingsfeier der Betriebsberufsschule und das "FDJ-Vergnügen" – zwei Feiern, die einige Tage vor der Parteiaktivtagung in dem Saal veranstaltet wurden. Dabei hatten die Jugendlichen – wohl gegen den Rat des erfahrenen Dekorateurs – das Transparent "mit Papiergirlanden und anderen Aufängeartikeln wie Monden und dergleichen ausgestattet", wie der Leutnant der Abteilung Kriminalpolizei penibel notierte. Diese Girlanden wurden erst kurz vor der SED-Tagung wieder entfernt – sie sollten wohl die Delegierten nicht von ihren Beratungen ablenken.
Bei dem Auf- und Abhängen der Girlanden sei es wohl zu einer stärkeren Belastung des Transparents gekommen. Doch auch die Musikkapelle, die die beiden Feiern begleitet hatte, wurde von den Ermittlern als Verursacher nicht ausgeschlossen: "Der Nachweis hierfür konnte jedoch nicht erbracht werden."
Offizielle Begründung eines Unfalls
Schließlich mussten die drei Kriminalisten nur noch eine fundierte Theorie für den Zeitpunkt des Vorfalls entwickeln: "Zur Klärung der Ursache, dass ausgerechnet zu Beginn der Pause der Aktivtagung das Transparent herunterfällt, gibt es nur die Vorstellung, daß die zu Beginn der Pause entstandenen Bewegungen durch Aufstehen von den Plätzen, Verschieben der Stühle und Laufen auf dem Podest ausreichend waren, um einen vermutlich in der Festigkeit verminderten Bindfaden zu zerreißen. Durch die dann entstandene Schräglage des Transparentes und die einwirkende Belastung auf die restlichen beiden Bindfäden sind auch diese durchgerissen. Begünstigend für das Zerreißen wirkte sich auf jeden Fall auch die Verknotung aus, die an der scharfen Holzkante der oberen Querleiste lag."
Selbstverständlich dokumentierten die Ermittler den Vorfall – einschließlich der abgerissenen Bindfäden – auch fotografisch. Um das Ereignis realistisch zu rekonstruieren, ließen sie sogar das Transparent wieder an Ort und Stelle heben – nur auf die korrekte Reihung der Buchstaben verzichteten sie dabei. Die Höhe der Aufhängung wurde durch eine im Vordergrund platzierte Person demonstriert.
Knapp drei Wochen nach dem Absturz des Transparents konnte die Kriminalpolizei festhalten, dass "der Verdacht, daß es sich um eine vorsätzliche Straftat" gehandelt habe, "um die Parteiaktivtagung zu stören oder die Genossen des Präsidiums zu schädigen, [...] nicht begründet werden" konnte. Der "Sachverhalt" werde "eingestellt", teilte der ermittelnde Leutnant der Betriebsparteiorganisation mit.
Dekorateur R. versprach den Ermittlern, "dass er die Stabilität der Anbringung von Transparenten ab sofort erhöhen [...] und in Zukunft eine bessere Kontrolle ausüben" werde. Weiteren "Pionier- und Spitzenleistungen auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens" zu Lenins Ehren stand dank MfS und VP nun nichts mehr im Wege.