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Erste Seite eines zweiseitigen Fernschreibens in Maschinenschrift mit Stempel „Geheime Reichssache“

Befehl Adolf Hitlers über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“, Quelle: BArch, R 3/1623a, Image 0093

Verbrannte Erde – Der „Nero-Befehl“

In einem seiner letzten „Führererlasse“ befahl Hitler die komplette Zerstörung von Industrie-, Versorgungs- und Verkehrsanlagen im Deutschen Reich. Dokumente aus der Überlieferung des Reichsministeriums für Rüstung und Kriegsproduktion zeigen, dass er dabei in Konflikt mit Albert Speer geriet.

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Verbrannte Erde

Im März 1945 standen die Alliierten im Westen am Rhein, die Rote Armee im Osten an der Oder – weniger als 100 Kilometer vor Berlin. In den Monaten zuvor hatte die Wehrmacht auf ihrem Rückzug aus den besetzten Gebieten zahlreiche Industrie-, Verkehrs- und Versorgungsanlagen zerstört. Um den Vormarsch der feindlichen Streitkräfte zu behindern und ihnen keine Ressourcen zu überlassen, sprengten die Deutschen Brücken, zerstörten Gleise und brannten Felder, Dörfer und Städte nieder.

Diese Zerstörungsmaßnahmen waren Teil einer „Verbrannte-Erde“-Taktik, ab 1943 „ARLZ-Maßnahmen“ (Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung) genannt. Die Wehrmacht wendete sie vor allem in Osteuropa, in geringerem Ausmaß aber auch in anderen Ländern, wie Frankreich oder Italien, an.

Der „Nero-Befehl“

Am 19. März 1945 gipfelten die „ARLZ-Maßnahmen“ in einem Erlass Hitlers, der die Zerstörungen auf das Reichsgebiet ausdehnte: dem Befehl über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“ (auch „Verbrannte-Erde-Befehl“ oder „Nero-Befehl“).

Der Begriff „Nero-Befehl“ geht auf den bereits in der Antike geäußerten Vorwurf zurück, der römische Kaiser habe 64 n. Chr. Rom anzünden lassen, um ein gewaltiges Palastbauprojekt umsetzen zu können. Moderne Historikerinnen und Historiker zweifeln diese Theorie aber an.

„Alle Möglichkeiten, der Schlagkraft des Feindes unmittelbar oder mittelbar den nachhaltigsten Schaden zuzuführen, müssen ausgenutzt werden.“

Adolf Hitler im „Nero-Befehl“
BArch, R 3/1623a, Image 0093

Der „Führererlass“ sah die vollständige Zerstörung aller „militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes“ vor. Für die Ausführung waren die militärischen Befehlshaber und die Gauleiter in ihrer Rolle als Reichsverteidigungskommissare zuständig.

Was auf den ersten Blick wie eine militärische Strategie zur Lähmung der alliierten Vorstöße erscheint, hatte für Hitler noch einen ganz anderen Zweck: die „Bestrafung“ des deutschen Volks, das sich im Krieg als „zu schwach“ erwiesen und den Untergang verdient habe. Der „Nero-Befehl“ sollte den Deutschen ihre Lebensgrundlage nehmen und eine Zukunft nach dem Nationalsozialismus unmöglich machen.

  • Befehl Adolf Hitlers über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“ (Seite 1)

  • Befehl Adolf Hitlers über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“ (Seite 2), 20.03.1945

Gegenwind aus dem Rüstungsministerium

Hitlers Zerstörungspläne stießen nicht nur auf Zustimmung. Kritik kam unter anderem von einem der engsten Vertrauten des Diktators: Albert Speer. Bereits am 15. März 1945 hatte der Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion eine Denkschrift verfasst, die Hitler drei Tage später erreichte.

Darin zeichnete Speer ein ungeschminktes Bild der Realität: Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch Deutschlands mit daraus folgender militärischer Handlungsunfähigkeit sei in vier bis acht Wochen zu erwarten. Der Reichsrüstungsminister forderte – wohl auch mit Blick auf seine eigene Karriere nach dem Krieg – Industrieanlagen, Versorgungsbetriebe und Verkehrsanlagen im Reichsgebiet zu verschonen. Denn unnötige Zerstörungen würden laut Speer einen Wiederaufbau nach dem Krieg erschweren.

Selbst willkürliche Brückensprengungen im Deutschen Reich über die militärische Notwendigkeit hinaus seien laut Speer nur im begrenzten Umfang durchzuführen, da sie die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung, z. B. in Berlin, massiv gefährden würden.

Porträt Albert Speers mit den Unterschriften des Fotografen Binder in der unteren linken Ecke und Albert Speers in der unteren rechten Ecke
Porträt Albert Speers, ca. 1933/36Quelle: BArch, Bild 146II-277 (Ausschnitt) / Binder

„Wir müssen alles tun, um dem Volk, wenn vielleicht auch in primitivsten Formen, bis zuletzt eine Lebensbasis zu erhalten.“

Albert Speer in seiner Denkschrift an Hitler vom 15. März 1945
BArch, R 3/1536, Image 0013

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 1), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 2), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 3), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 4), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 5), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 6), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 7), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 8), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 9), 15.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 10), 15.03.1945

Speer fügte seinem Schreiben vom 15. März 1945 einen Entwurf für einen „Führererlass“ bei, der die Zerstörung von Industrieanlagen verbot und dem Reichsrüstungsminister die Durchführung der Maßnahmen übertrug.

Hitler aber ignorierte Speers Schreiben: Als er am 19. März 1945 den „Nero-Befehl“ unterzeichnete, war darin nichts von Speers Vorschlägen zu finden.

  • Entwurf Speers für einen „Führererlass“ zur Lähmung der Industrieanlagen und zum Verbot von Zerstörungen, 15.03.1945

Opportunismus statt Opposition

Neben der Denkschrift vom 15. März 1945 ist im Bundesarchiv noch ein weiteres Schreiben Speers überliefert, das er Hitler einen Tag vor Unterzeichnung des „Nero-Befehls“ übergab. Darin schlägt er gänzlich andere Töne als in seinem ersten Schreiben an. Er fordert „drastische Massnahmen [sic!] zur Verteidigung des Reiches an der Oder und am Rhein“, den rücksichtslosen Einsatz von Soldaten (auch des „Volkssturms“) und ein „zähes Durchhalten“ an der Front.

In Speers Vorstellung sollten die Deutschen derart harten Widerstand leisten und das Ende des Krieges so lange hinauszögern, dass sich die Alliierten doch noch zu Verhandlungen bereiterklärten.

„Ein zähes Durchhalten an der jetzigen Front für einige Wochen kann dem Gegner Achtung abgewinnen und vielleicht doch noch das Ende des Krieges günstig bestimmen.“

Albert Speer in seiner Denkschrift an Hitler vom 18. März 1945
BArch, R 3/1537, Image 0013

Als treuer Anhänger Hitlers glaubte Speer, der ab 1942 als Minister wesentlich zur Verlängerung des Krieges beigetragen hatte, mindestens bis Mitte März 1945 an einen deutschen Sieg. Dass die von ihm geforderte rücksichtslose Fortsetzung des Kampfes zahlreiche Menschenleben kosten würde, nahm er billigend in Kauf.

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 1), 18.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 2), 18.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 3), 18.03.1945

  • Denkschrift Speers an Hitler (Seite 4), 18.03.1945

Ein Erfolg für Speer

Als Speer am 20. März 1945 den tags zuvor von Hitler unterzeichneten „Nero-Befehl“ erhielt, zeigte sich der Reichsrüstungsminister „zutiefst erschüttert“. In einem Schreiben vom 29. März 1945 sichert er Hitler seine Treue zu, übt gleichzeitig aber Kritik an dessen Plänen zur totalen Zerstörung Deutschlands.

„Ich bitte Sie daher, nicht selbst am Volk diesen Schritt der Zerstörung zu vollziehen.“

Albert Speer in seiner Denkschrift an Hitler vom 29. März 1945
BArch, R 3/1538, Image 0041

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 1), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 2), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 3), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 4), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 5), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 6), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 7), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 8), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 9), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 10), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 11), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 12), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 13), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 14), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 15), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 16), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 17), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 18), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 19), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 20), 29.03.1945

  • Speers Antwort auf Hitlers „Nero-Befehl“ (Seite 21), 29.03.1945

Speers Intervention hatte Erfolg: Am 30. März und 7. April 1945 wurde der „Nero-Befehl“ überarbeitet und abgeschwächt. So befahl Hitler unter anderem, Industrie- und Versorgungsanlagen nur zu lähmen, um sie nach einer möglichen Rückeroberung wieder nutzen zu können. Außerdem übertrug er Speer die Durchführung der Maßnahmen, die der Rüstungsminister an die Gauleiter weitergab.

  • Änderung zu Hitlers „Nero-Befehl“, 30.03.1945

  • Hitler zur Umsetzbarkeit der „Verbrannte-Erde“-Taktik in Deutschland (Aktennotiz Speers), 30.03.1945

  • Funkspruch Albert Speers an den Gauleiter der Steiermark, Sigfried Uiberreither, über Lähmung statt Zerstörung von Betrieben, 03.04.1945

  • Änderung zu Hitlers „Nero-Befehl“, 07.04.1945

Trotz deutlicher Kritik an den Zerstörungsplänen kam es nie zum Bruch zwischen Speer und Hitler. Dennoch schaffte es der ehemalige Rüstungsminister nach dem Krieg, seine Regimenähe und Mitverantwortung an NS-Verbrechen zu relativieren. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nutzte er seine Kritik am „Nero-Befehl“ sogar als „Beweis“ für seine vermeintliche Opposition gegen Hitler. Seine Mitwirkung am Ausbau des KZ-Systems und am massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in den Rüstungsbetrieben verschleierte er erfolgreich.

Literaturhinweise

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