Verbrannte Erde
Im März 1945 standen die Alliierten im Westen am Rhein, die Rote Armee im Osten an der Oder – weniger als 100 Kilometer vor Berlin. In den Monaten zuvor hatte die Wehrmacht auf ihrem Rückzug aus den besetzten Gebieten zahlreiche Industrie-, Verkehrs- und Versorgungsanlagen zerstört. Um den Vormarsch der feindlichen Streitkräfte zu behindern und ihnen keine Ressourcen zu überlassen, sprengten die Deutschen Brücken, zerstörten Gleise und brannten Felder, Dörfer und Städte nieder.
Diese Zerstörungsmaßnahmen waren Teil einer „Verbrannte-Erde“-Taktik, ab 1943 „ARLZ-Maßnahmen“ (Auflockerung, Räumung, Lähmung, Zerstörung) genannt. Die Wehrmacht wendete sie vor allem in Osteuropa, in geringerem Ausmaß aber auch in anderen Ländern, wie Frankreich oder Italien, an.
Der „Nero-Befehl“
Am 19. März 1945 gipfelten die „ARLZ-Maßnahmen“ in einem Erlass Hitlers, der die Zerstörungen auf das Reichsgebiet ausdehnte: dem Befehl über „Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet“ (auch „Verbrannte-Erde-Befehl“ oder „Nero-Befehl“).
Der Begriff „Nero-Befehl“ geht auf den bereits in der Antike geäußerten Vorwurf zurück, der römische Kaiser habe 64 n. Chr. Rom anzünden lassen, um ein gewaltiges Palastbauprojekt umsetzen zu können. Moderne Historikerinnen und Historiker zweifeln diese Theorie aber an.
Der „Führererlass“ sah die vollständige Zerstörung aller „militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes“ vor. Für die Ausführung waren die militärischen Befehlshaber und die Gauleiter in ihrer Rolle als Reichsverteidigungskommissare zuständig.
Was auf den ersten Blick wie eine militärische Strategie zur Lähmung der alliierten Vorstöße erscheint, hatte für Hitler noch einen ganz anderen Zweck: die „Bestrafung“ des deutschen Volks, das sich im Krieg als „zu schwach“ erwiesen und den Untergang verdient habe. Der „Nero-Befehl“ sollte den Deutschen ihre Lebensgrundlage nehmen und eine Zukunft nach dem Nationalsozialismus unmöglich machen.
Speer fügte seinem Schreiben vom 15. März 1945 einen Entwurf für einen „Führererlass“ bei, der die Zerstörung von Industrieanlagen verbot und dem Reichsrüstungsminister die Durchführung der Maßnahmen übertrug.
Hitler aber ignorierte Speers Schreiben: Als er am 19. März 1945 den „Nero-Befehl“ unterzeichnete, war darin nichts von Speers Vorschlägen zu finden.
Opportunismus statt Opposition
Neben der Denkschrift vom 15. März 1945 ist im Bundesarchiv noch ein weiteres Schreiben Speers überliefert, das er Hitler einen Tag vor Unterzeichnung des „Nero-Befehls“ übergab. Darin schlägt er gänzlich andere Töne als in seinem ersten Schreiben an. Er fordert „drastische Massnahmen [sic!] zur Verteidigung des Reiches an der Oder und am Rhein“, den rücksichtslosen Einsatz von Soldaten (auch des „Volkssturms“) und ein „zähes Durchhalten“ an der Front.
In Speers Vorstellung sollten die Deutschen derart harten Widerstand leisten und das Ende des Krieges so lange hinauszögern, dass sich die Alliierten doch noch zu Verhandlungen bereiterklärten.
Als treuer Anhänger Hitlers glaubte Speer, der ab 1942 als Minister wesentlich zur Verlängerung des Krieges beigetragen hatte, mindestens bis Mitte März 1945 an einen deutschen Sieg. Dass die von ihm geforderte rücksichtslose Fortsetzung des Kampfes zahlreiche Menschenleben kosten würde, nahm er billigend in Kauf.
Ein Erfolg für Speer
Als Speer am 20. März 1945 den tags zuvor von Hitler unterzeichneten „Nero-Befehl“ erhielt, zeigte sich der Reichsrüstungsminister „zutiefst erschüttert“. In einem Schreiben vom 29. März 1945 sichert er Hitler seine Treue zu, übt gleichzeitig aber Kritik an dessen Plänen zur totalen Zerstörung Deutschlands.
Speers Intervention hatte Erfolg: Am 30. März und 7. April 1945 wurde der „Nero-Befehl“ überarbeitet und abgeschwächt. So befahl Hitler unter anderem, Industrie- und Versorgungsanlagen nur zu lähmen, um sie nach einer möglichen Rückeroberung wieder nutzen zu können. Außerdem übertrug er Speer die Durchführung der Maßnahmen, die der Rüstungsminister an die Gauleiter weitergab.
Trotz deutlicher Kritik an den Zerstörungsplänen kam es nie zum Bruch zwischen Speer und Hitler. Dennoch schaffte es der ehemalige Rüstungsminister nach dem Krieg, seine Regimenähe und Mitverantwortung an NS-Verbrechen zu relativieren. In den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen nutzte er seine Kritik am „Nero-Befehl“ sogar als „Beweis“ für seine vermeintliche Opposition gegen Hitler. Seine Mitwirkung am Ausbau des KZ-Systems und am massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern in den Rüstungsbetrieben verschleierte er erfolgreich.