"Dienst am Volk" nannte der sächsische Karikaturist Erich Ohser – bis heute berühmt für seine Vater-und-Sohn-Bildergeschichten – eine Zeichnung, die er 1931 in der Zeitschrift Neue Revue veröffentlichte. Sie zeigt einen Mann, der ein Hakenkreuz in den Schnee pinkelt. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten erhielt e. o. plauen, wie sich Ohser nach seinem Heimatort nannte, Berufsverbot. 1944 nahm er sich in Gestapo-Haft das Leben, nachdem er von einem Nachbarn denunziert worden war.
55 Jahre und 150 Kilometer Luftlinie liegen zwischen Ohsers einprägsamen Protest gegen den Aufstieg der Nationalsozialisten und einem ganz anders motivierten Hakenkreuz im Schnee. In der Nacht des 25. Februar 1986 wurden Mitarbeiter der Kriminalpolizei und der KDKreisdienststelleDie KD waren neben den Objektdienststellen die territorial zuständigen Diensteinheiten. Sie waren... Kamenz zu einer "Hakenkreuzschmiererei" gerufen, die auf einer Wiese unterhalb eines Eisenbahnviadukts bei Königsbrück festgestellt worden war. Doch nicht mit Farbe hatten die Täter gearbeitet. Vielmehr ging es um ein riesiges, "in Schnee getretenes Hakenkreuz".
Unbekannte Täter
Ein Triebfahrzeugführer aus Königsbrück, der am Abend mit seinem Personenzug über das Viadukt gefahren war, hatte das Hakenkreuz bemerkt und die Polizei informiert. "Vom Viadukt aus ist der Kreis mit dem Hakenkreuz deutlich im Mondschein zu sehen", bestätigte die Kriminalpolizei später seine Beobachtungen. Zwei Personen mit den Schuhgrößen 42 und 38 hatten einen Kreis von 10 Metern Durchmesser und ein riesiges Hakenkreuz in den Schnee gestampft, ermittelten die Kriminalpolizisten.
Furcht vor Entdeckung mussten die beiden Täter nicht haben. Die einzige Bebauung in Sichtweite war die alte Stadtmühle am Fluss Pulsnitz, die seit einem Brand im Jahr 1982 nur noch als mächtige Ruine am Rand der Wiese stand. Auch die Dunkelheit dürfte ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass es wohl keine Zeugen gab. Ob das MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... oder die Kriminalpolizei den Fall aufklären konnten, geht aus den Unterlagen der KDKreisdienststelleDie KD waren neben den Objektdienststellen die territorial zuständigen Diensteinheiten. Sie waren... Kamenz nicht hervor.
Das Hakenkreuz im Schnee von Königsbrück war alles andere als eine Ausnahmeerscheinung in der DDR. In den Akten des MfS sind zahllose weitere Fälle rechtsextremer Propagandatätigkeit, rassistischer Gewalttaten und antisemitischer Hetze dokumentiert. Tausende derartiger Vorfälle umfasst die Aufstellung, die der Historiker Harry Waibel insbesondere auf Grundlage von Akten des MfS zusammengetragen hat.
Rassismus und Antisemitismus in der DDR
Von Häuserwänden und Toilettentüren mit Hakenkreuzen und "Heil-Hitler"-Parolen über umgestürzte Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen bis zu rassistisch motivierter Gewalt gegen Ausländer reichen die Taten, zu denen das MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... Ermittlungen durchführte. Die Motivation der Täter speiste sich dabei, soweit dies anhand der Akten feststellbar ist, aus sehr unterschiedlichen Quellen. Die überlieferten Fälle unterstreichen, dass es in der DDR ausländerfeindliche, rassistische und antisemitische Tendenzen gab, die dem von der SED propagierten Antifaschismus zuwiderliefen. Konnten die Herrschenden in den 1950er-Jahren noch das Fortwirken des nationalsozialistischen Gedankenguts bei einzelnen Personen über das Kriegsende hinweg für solche Taten verantwortlich machen, so stießen sie in den 1970er- und 1980er-Jahren bei Erklärungen für das Verhalten junger Menschen, die als Neonazis aktiv waren oder durch polen-, kubaner- oder vietnamesen-feindliche Handlungen aufgefallen waren, an ihre Grenzen – falls überhaupt eine Auseinandersetzung mit den Motiven erfolgte. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit rassistischen Tendenzen in der DDR-Gesellschaft blieb vor diesem Hintergrund oft nur Fassade, die Existenz nationalsozialistischen Gedankenguts wurde meist als Zeichen der Beeinflussung durch den Westen angesehen.
Männer unter Generalverdacht - Die OPK "Spray"
Nichtsdestotrotz blieb das MfSMinisterium für StaatssicherheitDas Ministerium für Staatssicherheit (umgangssprachlich oft kurz "Stasi") war politische... in Fällen wie dem "Hakenkreuz im Schnee" oder ähnlichen Schmierereien keineswegs untätig. Insbesondere dann, wenn solche Aktionen gehäuft auftraten, öffentlich besonders sichtbar waren oder in Verbindung mit gegen die Sowjetunion gerichteten Parolen standen, dürfte das MfS intensiver ermittelt haben.
Dies illustriert ein Beispiel aus der Kleinstadt Laage bei Güstrow. Dort schmierten im August 1981 Unbekannte zahlreiche Hakenkreuze, aber auch Losungen wie "Russen raus aus DDR" an verschiedene Haus- und Garagenwände, Mauern und Schilder. Die 80 bis 100 cm großen NS-Symbole waren weithin zu sehen. Als knapp ein Jahr später der Ort erneut mit derartigen Schmierereien überzogen wurde, leitete die KDKreisdienststelleDie KD waren neben den Objektdienststellen die territorial zuständigen Diensteinheiten. Sie waren... Güstrow zusammen mit der Kriminalpolizei im Rahmen der OPKOperative PersonenkontrolleDie Operative Personenkontrolle (OPK) wurde 1971 in Abgrenzung zum Operativen Vorgang eingeführt.... "Spray" umfassende Ermittlungen ein. Ausgehend von einer eigens angelegten Kartei über alle männlichen (!) Einwohner der Stadt Laage im Alter zwischen 14 und 32 Jahren wurde die Bevölkerung des Ortes großflächig kontrolliert. "Progressive Kräfte" der Stadt waren behilflich, als sie die betreffenden 736 Bürger nach ihrer Körpergröße sortierten. – Den Täter hielt man aufgrund von Tatortuntersuchungen für größer als 175 cm. 2 200 Personen seien schließlich insgesamt "alibimäßig" überprüft und 36 Personen im Zuge der Untersuchungen "für die inoffizielle Zusammenarbeit" als Kontaktpersonen gewonnen worden, notierte die KD Güstrow fünf Jahre später.
Trotz dieses erheblichen Aufwandes scheiterte die KD jedoch bei der AufklärungAufklärungAufklärung hatte innerhalb des MfS unterschiedliche Bedeutungen: des Vorfalls. Zwar sei eine abschreckende Wirkung festzustellen – seit Anfang 1983 hatte es keine weiteren Schmierereien gegeben –, doch habe man die Täter nicht fassen können. Ein wenig hilflos klingt die "Tätercharakteristik", die das MfS erarbeitet hatte. Danach handele es sich – wenig überraschend – vermutlich um eine Person, "die von einer verfestigten ideologischen Position (faschistisches Gedankengut) und angeregt durch Sendungen westlicher Massenmedien bewußt in ihrem Handeln" vorgegangen sei.