Text
Nr. 197
Der Bayerische Ministerpräsident Held an den Reichskanzler. München, 8. November 1932
Betrifft: Reichsreform.
Am 29. und 30. Oktober 1932, wenige Tage nach der Verkündung des Urteils des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich vom 25.10.19321, durch das die Maßnahmen des Reichs gegenüber Preußen vom 20. Juli 1932 nur zum Teil als mit der Reichsverfassung vereinbar bezeichnet wurden, hat das Reich eine Reihe neuer, das Verhältnis zu Preußen noch tiefer berührender Maßnahmen getroffen. Es wurden 3 neue Stellvertreter des Reichskommissars für Preußen, darunter der Reichsernährungsminister, ernannt und mit der Leitung preußischer Ministerien betraut. Zwei Stellvertreter, nämlich die Leiter des Preußischen Finanzministeriums und Innenministeriums, wurden zugleich für die Dauer ihrer Betrauung mit diesen Aufgaben zu Reichsministern ohne Geschäftsbereich ernannt. Gleichzeitig hat die geschäftsführende kommissarische Regierung auf Grund der Dietramszeller Notverordnung einschneidende Veränderungen in der Organisation der Preußischen Ministerien verfügt2.
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Zum Urteil des Staatsgerichtshofs s. Anm 2 zu Dok. Nr. 177.
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Vgl. dazu Dok. Nr. 179, P. 4 und Dok. Nr. 181, P. 1, dort bes. Anm 3.
Zweck und Folge der neuen Maßnahmen ist die noch straffere Zusammenfassung der Reichsregierung und der Preußischen Staatsregierung. Außer der früher geschaffenen Verbindung an der Spitze, welche die angestrebte Gleichschaltung der Politik im Reich und in Preußen völlig gewährleistete, ist eine mehrfache Querverbindung zwischen der Reichsregierung und den preußischen Fachministerien hergestellt worden. Der Bayerischen Staatsregierung ist bekannt, daß die Reichsregierung diese Regelung als ein Provisorium bezeichnet, das sein Ende mit der ordnungsgemäßen Bildung einer neuen Regierung in Preußen finden soll. Demgegenüber ist hier lediglich darauf hinzuweisen, daß die Dauer des Provisoriums nicht vorausgesehen werden kann und daß die Umbildung[890] der Ministerien als Teil der Umbildung der Staatsverwaltung notwendigerweise als Dauereinrichtung gedacht ist. Es soll hier auch nicht weiter erörtert werden, ob die neuen Maßnahmen auf einer genügenden Rechtsgrundlage beruhen. Die Bayerische Staatsregierung hat ihren grundsätzlichen Standpunkt dem Herrn Reichspräsidenten und dem Herrn Reichskanzler bereits am 29. Oktober 1932 zur Kenntnis gebracht3. Sie hat sich dabei ausschließlich von dem gesamtdeutschen Interesse an einer rechtlich einwandfreien und innerlich gesunden verfassungspolitischen Entwicklung im Reich und von dem damit untrennbar verknüpften Interesse aller Länder leiten lassen. Auch wenn man die getroffene Regelung nur als eine vorübergehende Umgestaltung betrachten will, ist durch sie in dem Kräfteverhältnis, wie es die bundesstaatliche Struktur des Reichs bedingt, eine grundlegende Veränderung eingetreten. Das Reich hat die gesamte preußische Vollzugsgewalt an sich genommen, und Preußen ist mit seinen wichtigsten leitenden Staatsorganen in die Zentralgewalt des Reiches eingegliedert worden. Bei dieser Umwälzung sind die außerpreußischen Länder vor vollendete Tatsachen gestellt worden, ohne daß sie Gelegenheit zur vorherigen Stellungnahme gehabt hätten. Diese Gelegenheit mußte ihnen gegeben werden, weil der jetzt in Preußen auf unbestimmte Dauer geschaffene Zustand, mag man seine Rechtsgrundlage und seinen Rechtsbestand noch so verschieden beurteilen, mit dem Verfassungsgrundgesetz der Trennung der Staatsgewalt im Reich und in den Ländern (s. Art. 5 RVerf.) nicht im Einklang steht4.
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Hierzu in R 43 I/1883 (S. 131) eine nicht signierte, vom Büro des RPräs. am 29.10.32 an die Rkei übermittelte Aufzeichnung folgenden Wortlauts: „Der Bayerische Ministerpräsident Held teilte telephonisch nachstehenden Beschluß des Bayerischen Ministerrats mit der Bitte um Vorlage beim Herrn Reichspräsidenten mit: ‚Der Bayerische Ministerrat hat sich soeben auf Grund der ihm zugegangenen Mitteilungen mit den Plänen der Reichsregierung wegen der Neugestaltung Preußens befaßt. Nach seiner Überzeugung enthalten die Pläne schwere Eingriffe in die verfassungsmäßige Stellung aller deutschen Länder gegenüber dem Reich und untereinander. Das Vorgehen der Reichsregierung bildet eine schwere Enttäuschung für alle, die im Vertrauen auf die Erklärungen der Reichsregierung damit gerechnet haben, daß eine Reichsreform nur auf gesetzlichem Wege und nur nach Verhandlungen mit den Ländern eingeleitet wird. Der Bayerische Ministerrat bittet deshalb den Herrn Reichspräsidenten, keine Entscheidung zu treffen, bevor nicht mit den übrigen deutschen Ländern verhandelt worden ist.‘“ Unter der Aufzeichnung vermerkte der RK eigenhändig: „Mit MinPräs. Held telep[honisch] besprochen.“ Über den Inhalt dieses Gesprächs konnten aktenmäßige Unterlagen nicht ermittelt werden. WTB meldete am 29.10.32 u. a.: Der RPräs. habe nach Erhalt der Mitteilung aus München „den Reichskanzler damit beauftragt, den Bayerischen Ministerpräsidenten darüber aufzuklären, daß der Beschluß des Bayerischen Gesamtministeriums von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei. Die Maßnahmen des Reichs hielten sich völlig innerhalb der Befugnisse, die dem Reichskommissar durch das Urteil des Staatsgerichtshofs zuerkannt seien.“ (WTB Nr. 2312 in R 43 I/1883, S. 129). – Zu den erwähnten Verhandlungen des bayer. Ministerrats und allgemein zur Reaktion Bayerns auf die Reichsreformpläne der Papenregierung vgl. Schnitzer, Das Ringen der Regierung Held um die Stellung Bayerns im Reich, S. 247 ff.; Wiesemann, Die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme in Bayern 1932/1933, S. 120 ff.
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Art. 5 RV: „Die Staatsgewalt wird in Reichsangelegenheiten durch die Organe des Reichs auf Grund der Reichsverfassung, in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt.“
Außerdem haben die Maßnahmen in politischer, finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht ein so bedeutendes Übergewicht der zusammengelegten Reichsgewalt und preußischen Staatsgewalt geschaffen, daß die notwendige Folge, wenn kein Ausgleich geboten wird, die Erdrückung der übrigen deutschen Länder und der Einheitsstaat mit preußischer Spitze, mit anderen Worten[891] der großpreußische Einheitsstaat ist. Vor einer solchen verfassungspolitischen Entwicklung hat Bayern oft genug gewarnt. Bayern hat für den Fall einer Verbindung zwischen der Reichsgewalt und preußischen Staatsgewalt, auch wenn sie nicht verfassungsrechtlich, sondern auf andere Weise und in der Form einer Personalunion geschaffen werden sollte, stets die Forderung geltend gemacht, daß mindestens gleichzeitig mit einer solchen Verbindung ausreichende Sicherungen für die außerpreußischen Länder als Gegengewicht geschaffen werden müssen. Auf die Verhandlungen der Länderkonferenz vom 16. Januar 19285 und auf die dem Herrn Reichskanzler übergebenen Forderungen Bayerns vom 20. August 19326 (Ziff. III) wird Bezug genommen. Die Forderungen sind von den besonnenen Anhängern einer näheren Verbindung zwischen dem Reich und Preußen ohne Rücksicht auf ihre sonstige Einstellung zur Frage der Reichsreform stets als berechtigt anerkannt worden. Selbst der Erneuerungsbund7 hat sich ihrer grundsätzlichen Berechtigung nicht verschließen können. Auch der jetzige Herr Reichsminister des Innern hat bei seiner Rede zur Verfassungsfeier vom 11. August 1932 erkennen lassen, daß nach seiner Auffassung bei einer zweckentsprechenden Regelung des Verhältnisses zwischen dem Reiche und Preußen eine ausgleichende Besserstellung der anderen Länder im Gesamtleben Deutschlands durchaus möglich und festlegbar sei8. Im Gegensatz hierzu sind die Maßnahmen vom 29. und 30. Oktober 1932 getroffen worden, ohne daß auf diese wichtigen Zusammenhänge Rücksicht genommen wurde. Damit ist eine Lage geschaffen worden, aus der es im gesamtdeutschen Interesse nur den einen Ausweg gibt, daß den außerpreußischen Ländern gegenüber der eingetretenen Gleichgewichtsverschiebung durch Einräumung der verlangten Sicherungen ein festerer Boden gegeben wird. Die Bayerische Staatsregierung ersucht ergebenst, hierwegen das Erforderliche einzuleiten. Sie ist bereit, in Verhandlungen einzutreten.
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Über die Verhandlungen der Länderkonferenz vom 16.–18.1.28 (insbes. zur Rede Helds vom 16. 1.) s. Die Länderkonferenz, hrsg. vom RIMin. 1928, S. 24 ff.; ferner: Länderkonferenz am 16., 17. und 18. Januar 1928 im Kongreßsaal des Reichskanzlerhauses, gedr. in der Reichsdruckerei „Nur zum Dienstgebrauch“ (Aktenexemplar in R 43 I/1875, Bl. 188 ff.); zum Ergebnis der Konferenz s. auch diese Edition: Die Kabinette Marx III/IV, Dok. Nr. 394–398.
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Dok. Nr. 108.
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Vgl. Anm 6 zu Dok. Nr. 180.
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Hierzu s. Anm 2, 5 und 13 zu Dok. Nr. 108.
Neben den Sicherungen muß zum Ausgleich gegen die geschaffene Gleichgewichtsverlagerung ein Weiteres geschehen, nämlich die endliche und endgültige Abdrosselung der Aushöhlungspolitik gegenüber den Ländern. Hierwegen wird besonders auf das Schreiben an den Herrn Reichskanzler vom 13. November 1931 Nr. 29325 Bezug genommen9. Für die seitherigen Eingriffe des Reichs in die Hoheitsgebiete der Länder wurde vorwiegend geltend gemacht, daß das Reich keinen genügenden Einfluß auf den Vollzug seiner Maßnahmen habe, besonders nicht in dem größten deutschen Lande Preußen. Dieser Grund ist jedenfalls für die Dauer der gegenüber Preußen getroffenen Maßnahmen zweifellos hinfällig geworden. Deshalb stellt die Bayerische Staatsregierung das weitere ergebenste Ersuchen, die Reichsregierung möge verbindlich erklären, daß[892] künftighin Eingriffe in die Zuständigkeiten und die Selbständigkeitsrechte der Länder vermieden bleiben.
Um eine baldige Stellungnahme darf ergebenst gebeten werden10.
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Hierzu vermerkte Wienstein unter dem 18.11.32: Das Schreiben Helds sei „inhaltlich mit den Minsterpräsidenten von Bayern, Sachsen, Baden und Württemberg am 11. November d. Js. in der Reichskanzlei eingehend erörtert worden [s. dazu Dok. Nr. 203] und hat auch weiterhin den Gegenstand von Aussprachen des Reichsministers des Innern mit den Länderregierungen gebildet. Eine auch nur formelle Empfangsbestätigung ist deshalb (Entscheidung des Herrn Staatssekretärs) nicht nötig.“ (R 43 I/1883, S. 181).
Dr. Held