Text
[946] Nr. 212
Informationsbericht des Redakteurs der Dienatag1 Falk über eine Besprechung des Reichskanzlers mit dem Vorsitzenden der DVP Dingeldey am 16. November 19322
- 1
Dienst nationaler Tageszeitungen (Nachrichtenkorrespondenz, Berlin), gegr. 12.5.30; Redakteure: Dertinger, Kausch und Falk. Näheres dazu in: NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit. Edition und Dokumentation, S. 60 ff.
- 2
Nach einer undatierten, nicht signierten diesbez. „Aufzeichnung“ der Rkei begann die Besprechung um 15 Uhr. Text der Aufzeichnung: „Nachdem der Herr Reichskanzler seine Ansichten über die Lage dargelegt hatte, erklärte sich Abg. Dingeldey namens seiner Partei bereit, das gegenwärtige Kabinett und auch eine von ihm geführte Regierung der nationalen Konzentration zu unterstützen. Der Reichskanzler führte aus, daß nach den Absagen, die ihm von großen Parteien erteilt worden seien, er die Absicht habe, den Weg für Verhandlungen durch seine Demission freizugeben. Auch Herr Dingeldey hielt dies für zweckmäßig. Er äußerte allerdings die Befürchtung, daß daraus doch eine Koalition des Zentrums mit der nationalsozialistischen Partei entstehen könnte, die er als wenig wünschenswert bezeichnete.“ (R 43 I/1309, S. 394).
ZSg. 101/25, Bl. 300–306 Durchschrift
[Stellung der Parteien zum Papenkabinett; Hindenburg lehnt Berufung Hitlers zum Reichskanzler ab; Handlungsmöglichkeiten des Reichspräsidenten; Kontingentierungsfrage; Gefahr eines Generalstreiks]
Streng vertraulich!
Die Aussprache Papen–Dingeldey ergab folgendes Bild: Die Entscheidung über das Schicksal der Regierung und den weiteren Kurs liegt nicht bei Papen, sondern einzig und allein bei Hindenburg. Zentrum und Nazis stehen zwar ebenso wie die Deutschnationalen auf dem Standpunkt, daß in der nächsten Zeit nur noch autoritär regiert werden könne, jedoch lehnen Zentrum und Nazis nach wie vor Papen als Kanzler einer Präsidialregierung ab. Völlige Uneinigkeit besteht aber über den sachlichen Aufgabenkreis. Zentrum und Nazis lehnen den wichtigsten Teil des Papen-Programms ab, die Nazis übrigens nicht nur den sozialpolitischen Teil der Notverordnungen, sondern auch grundsätzlich das Steuer-Rückvergütungssystem3. Hindenburg hält dagegen an den bisherigen Maßnahmen Papens, insbesondere an dem Wirtschaftsprogramm unbedingt fest, ist also nur unter der Voraussetzung bereit, einen anderen Mann als Papen mit der Regierungsbildung zu betrauen, wenn die sachliche Linie gewahrt bleibt, was natürlich nicht ausschließen würde, daß man in dem einen oder anderen Punkte zu unwesentlichen Zugeständnissen bereit sein würde. Die Taktik von Zentrum und Nazis läuft darauf hinaus, Papen völlig beiseite zu schieben und direkt zum Reichspräsidenten vorzustoßen. Diese Taktik wird wirkungsvoll unterstützt durch die Linkspresse, die ebenfalls den Eindruck zu erwecken versucht, als ob es sich bei den heutigen Schwierigkeiten lediglich um die Person[947] Papens handle. In Wahrheit bildet jedoch die Person Papens überhaupt kein Hindernis, sondern die Schwierigkeiten werden durch die Uneinigkeit der Parteien hervorgerufen, die sich lediglich in der Ablehnung Papens einig sind, dagegen sich nicht über eine positive neue Lösung verständigen können. Papen erklärte ausdrücklich, daß es ihm mit seiner Versicherung, abtreten zu wollen, wenn an seiner Stelle ein anderer Kanzler in der Lage sei, unter Wahrung des Papen-Programms die Tolerierung einer Mehrheit zu erhalten, ernst sei. Jedenfalls legen Regierung und Reichspräsident größten Wert darauf, daß in der Öffentlichkeit Klarheit darüber geschaffen wird, daß im Interesse von Staat und Wirtschaft das Papen-Programm und die letzten Notverordnungen bleiben müssen, daß es aber keineswegs lediglich um die Person des Herrn von Papen geht. In diesem Zusammenhang ist darauf zu verweisen, daß weit unangenehmer als ein Mißtrauensvotum vor allem die Ablehnung der Notverordnung sein würde, durch welche der Reichskommissar für Preußen eingesetzt und der Dualismus Reich–Preußen beseitigt worden ist4. Der Reichspräsident wird es auf keinen Fall zulassen, daß diese Dinge wieder rückgängig gemacht werden.
Hindenburg lehnt heute noch stärker denn je eine Berufung Hitlers zum Reichskanzler ab. Dabei läßt man sich in der Wilhelmstraße von der Überlegung leiten, daß, wenn Hitler Reichskanzler ist, und der alte Herr eines Tages nicht mehr leben sollte, Hitler nicht nur gleichzeitig Reichspräsident, sondern auch Oberbefehlshaber der gesamten Wehrmacht sein würde. Man hat zu Hitler nicht das Vertrauen, daß er stark genug sein würde, sich dann der Einflüsse der radikalen Elemente seiner Partei zu erwehren. Papen erklärte z. B., daß Röhm ganz bewußt und konsequent auf eine solche Situation hinsteuere. Die Taktik der Nazis bezweckt also, wenn sie auf der Forderung bestehen, Hitler zum Reichskanzler zu machen, dadurch eine Situation zu schaffen, die etwa den Reichspräsidenten zwingen würde, den Reichskanzler mit Hilfe der bewaffneten Macht verhaften zu lassen, oder die, wie gesagt, auf ganz lange Sicht gesehen dem Reichskanzler Hitler als Parteichef die Möglichkeit geben würde, bei einem Ableben des alten Herrn die Wehrmacht in die Hand zu bekommen. Während bei Hitler angenommen werden kann, daß er persönlich nicht von vornherein im Falle einer Kanzlerschaft illegale Absichten verfolgen würde, würde das jedoch bei Strasser, wenn dieser Kanzler werden sollte, absolut der Fall sein. Strasser wird auch in der Wilhelmstraße als ein brutaler Willensmensch und ausgesprochener Machtpolitiker gewertet, der nicht wie Hitler unter einer gewissen Labilität des Charakters leidet. Papen hat dann gegenüber Dingeldey 3 Möglichkeiten erörtert, die für eine Lösung denkbar wären:
1. Hindenburg beauftragt einen Vertrauensmann, wofür dem Amte nach etwa der Reichstagspräsident in Betracht käme, mit der Aufgabe, den Boden für eine nationale Konzentrationsregierung auf breiter Grundlage, aber mit Präsidialcharakter zu ebnen. Bei der scharfen parteipolitischen Einstellung Görings ist jedoch anzunehmen, daß dieser einen solchen Auftrag von vornherein ablehnen würde.
2. Das Kabinett Papen läßt es im Reichstag auf ein Mißtrauensvotum ankommen;[948] die Regierung würde dann zurücktreten. Der Reichstag würde daraufhin abermals aufgelöst, und wenn dann neue Verhandlungen mit den Parteien ergebnislos verliefen, würde die Regierung Papen die Geschäfte mit außerordentlichen Vollmachten weiterführen.
3. Die Regierung Papen demissioniert und macht damit dem Reichspräsidenten den Weg für neue Kombinationen frei.
Wie Dingeldey mitteilte, besteht darüber hinaus auch zur Zeit noch ein klein wenig Hoffnung dafür, daß eine Art Waffenstillstandsabkommen getroffen wird, derart, daß die Parteien vom Zentrum bis zu den Nazis mit einer Vertagung des Reichstages bis etwa April einverstanden sind, um der Regierung ein ruhiges Arbeiten über den Winter zu ermöglichen. Der Kaufpreis für einen solchen Waffenstillstand würde aber unter allen Umständen der Kopf Papens sein. Maßgebende Kreise bei den Nazis sind nämlich, wie der Kanzler erklärte, auf Grund der letzten Wahlergebnisse, insbesondere auch nach dem Ausfall der jüngsten Wahlen in Sachsen5, sehr nachdenklich geworden. Es ist daher nicht ganz ausgeschlossen, daß die Nazis ein Interesse daran haben könnten, mit der Regierung einen mehrmonatigen Waffenstillstand zu schließen in der Hoffnung, daß dann im Frühjahr, falls die Arbeitslosigkeit bis dahin nicht fühlbar zurückgegangen sein würde, ihre große Stunde gekommen sei. Bemerkenswert ist, daß auch das Zentrum sich in seiner oppositionellen Haltung, durch die es sich isoliert sieht, nicht mehr sehr wohl fühlt, und aus diesem Grunde auch nicht abgeneigt sei, in dieser Richtung auf die Nazis einzuwirken. Wie Dingeldey erklärte, würde in diesem Falle Papen jedoch nicht durch Schleicher ersetzt werden. Schleicher kommt als zukünftiger Reichskanzler bei allen Kombinationen gegenwärtig nicht mehr in Betracht. Man tippt vielmehr auf Bracht, jedoch wird auch Schacht oder Gessler genannt.
- 5
Gemeindewahlen vom 13.11.32, bei denen die NSDAP erneut Verluste hinnehmen mußte. Zum Ergebnis s. Horkenbach 1932, S. 378.
Bei alledem muß man sich klar darüber sein, daß, wenn Papen fortgeschickt wird und etwa durch einen neuen Zentrumsmann ersetzt werden würde, dies als ein Zeichen von Schwäche ausgelegt werden könnte und der Stellung des Reichspräsidenten nicht förderlich wäre. Auf der anderen Seite ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Dinge sich in völliger Öffentlichkeit abspielen und daß, wenn eine normale Lösung nicht denkbar ist, dann aber auch psychologisch eine Situation geschaffen wird, welche dem Volke begreiflich macht, daß der Reichspräsident im Interesse des Staates nicht anders handeln konnte, als gegen die Parteien und die Verfassung zu entscheiden. Darum empfiehlt es sich auch für die Rechtspresse, nicht schon heute von Staatstreich und dergl. zu reden, um von vornherein den Eindruck zu vermeiden, als ob der Verfassungskonflikt lediglich im Interesse einer bestimmten politischen Klique erstrebt worden sei. Auch Papen betonte, daß die Ausschaltung des Parlaments sehr überlegt erfolgen und psychologisch gut vorbereitet sein müsse. Papen erklärte in diesem Zusammenhang, daß er z. B. in diesem Sinne auf Herrn von Stülpnagel von der Börsenzeitung einwirken werde, und das gegenüber Herrn Hugenberg schon getan habe, dessen Presse sich in der letzten Zeit sehr töricht[949] über Dinge, an die man wohl denken muß, über die man aber nicht sprechen darf, laut geäußert habe.
Objektiv gesehen ergibt sich nach meiner persönlichen Auffassung folgendes: Wenn die Bildung einer nationalen Konzentrationsregierung daran scheitert, daß der Reichspräsident nicht gewillt ist, Hitler den Kanzlerposten anzubieten, und wenn auch sonst keine andere Regierung möglich ist, welche auf der sachlichen Grundlage des Papen-Kabinetts weiter arbeiten will, dann müßte sich für den Reichspräsidenten aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber Hitler mit zwingender Logik die Folgerung ergeben, den Sprung über die Verfassung zu machen. Die Entscheidung darüber wird wohl in der nächsten Woche fallen müssen.
Zum Schluß gab Dingeldey noch einige Äußerungen Papens zu konkreten Fragen wieder, welche Dingeldey an den Kanzler gestellt hatte.
1. Auf die Frage Dingeldeys, warum die Reichsregierung nicht auf den Staatsgerichtshof dahin eingwirkt habe, daß sein Urteil in der Preußenfrage erst nach den Wahlen bekannt gegeben wird, erwiderte Papen, daß Bumke die Reichsregierung ursprünglich davon verständigt hätte, daß das Reich hundertprozentig Recht bekommen würde; andernfalls hätte die Reichsregierung in dem von Dingeldey geäußerten Sinne gehandelt.
2. Papen gab zu, daß in der Kontingentsfrage nicht nur schwere psychologische Fehler gemacht worden seien, indem man das Ausland monatelang beunruhigt habe, bevor überhaupt irgendwelche Entscheidungen getroffen wurden. Papen erklärte, daß man aber auch in sachlicher Hinsicht von vornherein etwas über das Ziel hinausgeschossen sei. Papen sprach sich jedenfalls gegenüber Dingeldey in scharfen Worten gegen den Reichsernährungsminister von Braun aus. Von Papen erklärte wörtlich, daß die Kontingentspolitik ihre Grenze dort finde, wo durch sie die Exportindustrie Aufträge verliere und eine Vermehrung der Arbeitslosigkeit die Folge sein würde, wodurch dann andererseits durch Ausfall von Kaufkraft die Interessen der Landwirtschaft geschädigt würden6. Papen werde jedenfalls nicht dulden, daß aus der Kontingentspolitik eine Prestigefrage der Ressorts gemacht wird. Dingeldey hatte den Eindruck, daß Papen eher Herrn von Braun fallen lassen wird, als sich die Kontingentsforderungen des Reichslandbundes zu eigen zu machen.
3. Auf die Vorhaltungen Dingeldeys, daß die Ernennung Popitzs zum preußischen Finanzminister und gleichzeitig zum Reichsminister ohne Portefeuille ungeschickt gewesen sei, weil Popitz für Süddeutschland wie das rote Tuch wirke (die scharfen Angriffe, die Held gegen Papen richtete, nachdem dieser noch einige Tage vorher in München sich einträchtig mit Held ausgesprochen hatte, werden nicht zum wenigsten darauf zurückgeführt), erwiderte Papen, daß der Aufgabenkreis von Popitz streng begrenzt worden sei, d. h. daß sich seine Tätigkeit in erster Linie auf die Regelung der preußischen kommunalen Finanzen zu erstrecken hätte. Popitz hätte das preußische Finanzministerium nur unter der Bedingung übernommen, daß er auch gleichzeitig Reichsminister ohne Portefeuille wird.
[950] 4. Auf den Einwand Dingeldeys, daß die Berufung des deutschnationalen Professor Kähler zum Preußischen Kultusminister zu bedauern sei, da dieser Mann noch nicht einmal guter Durchschnitt sei, und in der Öffentlichkeit durch diese Berufung vielfach der Eindruck erweckt worden sei, als ob die Regierung Papen kulturelle Rückständigkeit auf ihr Programm geschrieben habe, antwortete Papen, daß er zugebe, daß für diesen Posten eine Persönlichkeit von Format hätte gewählt werden müssen. Der ursprünglich in Aussicht genommene Oberpräsident von Hessen, Herr von Hülsen, der überall als ausgezeichneter Anwärter gilt, hätte jedoch den Posten abgelehnt. Papen versicherte aber, daß er sich mit allen Mitteln gegen Bestrebungen auf kulturellen Rückschritt einsetzen werde. In diesem Zusammenhang gab Papen ferner zu, daß alles getan werden müsse, um auch nicht im mindesten den Eindruck zu erwecken, als ob das Kabinett Papen gewissermaßen ein Filialbetrieb von Hugenberg sei. Papen erklärte vielmehr, daß er sich absolut darüber klar wäre, daß Herr Hugenberg ein sehr gefährlicher Bundesgenosse ist, an dem sich jeder, der sich mit ihm einließe, oder mit ihm verbünde, die Finger verbrennen würde.
Papen äußerte sich dann auch zu Dingeldey noch über die Möglichkeit eines Generalstreiks, mit dem die Regierung durchaus für den Fall rechnet, daß sie gezwungen wird, den Boden der Verfassung zu verlassen. Man ist sich darüber klar, daß ein solcher Generalstreik heute anders verlaufen würde, als etwa seinerzeit im Fall des Kapp-Putsches. Die Pläne der Eisernen Front sehen z. B. vor, daß bei einem Generalstreik im wesentlichen nur die wichtigsten Schlüsselstellungen in den öffentlichen Betrieben usw. lahmgelegt werden sollen. Ferner werden passive Resistenz und Sabotage-Akte eine wichtige Rolle spielen. In Berlin haben bereits gestern Funktionärsbesprechungen der Freien Gewerkschaften stattgefunden, in denen Vorbereitungen für einen evtl. Generalstreik getroffen werden sollten. Der Reichsregierung wäre es selbstverständlich höchst unerwünscht, wenn im Falle eines solchen Generalstreiks Kommunisten, Sozis, Christliche Gewerkschaften und Nazis geschlossen gegen die Regierung auftreten und das Volk zum Bürgerkrieg aufhetzen würden. Aus diesem Grunde würde es die Regierung nicht ungern sehen, wenn es gelingen könnte, z. B. das Zentrum zu einer etwas freundlicheren Haltung gegenüber der Regierung zu veranlassen, etwa dadurch, daß man den Reichsarbeitsminister Schäffer durch eine dem Zentrum nahestehende Persönlichkeit ersetzen würde, wofür jedoch nicht Stegerwald in Betracht käme.
Dr. Falk