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Nr. 225
Staatssekretär Meissner an Adolf Hitler. 22. November 19321
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Abgedr. u. a. auch in Horkenbach 1932, S. 388 f.; Schultheß 1932 f.; Ursachen und Folgen, Bd. VIII, Dok. Nr. 1913 b (Auszug); Huber, Dokumente, Bd. 3, Dok. Nr. 488; Hubatsch, Hindenburg und der Staat, Dok. Nr. 97.
R 43 I/1309, S. 469–475 Abschrift2
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Von Meissner am 22. 11. an den RK „zur vertraulichen Kenntnisnahme“ übersandt (R 43 I/1309, S. 467).
[Unterschied zwischen Präsidialkabinett und parlamentarischer Regierung; Auftrag Hindenburgs an Hitler zur Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung]
Sehr verehrter Herr Hitler!
Auf Ihr gestriges Schreiben3 beehre ich mich, im Auftrage des Herrn Reichspräsidenten folgendes zu erwidern:
Der Herr Reichspräsident sieht den Unterschied zwischen einem Präsidial-Kabinett und einer parlamentarischen Regierung in folgenden Merkmalen:
1) Das Präsidial-Kabinett – aus der Not der Zeit und dem Versagen des Parlaments geboren – wird in der Regel die notwendigen Regierungs-Maßnahmen ohne vorherige Zustimmung des Parlaments auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung in Kraft treten lassen. Es bezieht seine Machtvollkommenheiten also in erster Linie vom Reichspräsidenten und braucht das Parlament im allgemeinen nur zum Sanktionieren oder Tolerieren dieser Maßnahmen.
Eine parlamentarische Regierung muß alle Gesetzesentwürfe vor dem Inkrafttreten den gesetzgebenden Körperschaften zur Beratung und Genehmigung vorlegen; sie bezieht ihre Machtvollkommenheiten also ausschließlich von einer parlamentarischen Mehrheit.
Daraus ergibt sich, daß der Führer eines Präsidialkabinetts nur ein Mann des besonderen Vertrauens des Herrn Reichspräsidenten sein kann.
2) Das Präsidial-Kabinett muß überparteilich geführt und zusammengesetzt sein und ein vom Reichspräsidenten gebilligtes, überparteiliches Programm verfolgen.
[993] Eine parlamentarische Regierung wird in der Regel von dem Führer einer der für eine Mehrheits- oder Koalitionsbildung in Frage kommenden Parteien und aus Mitgliedern dieser Parteien gebildet und verfolgt im wesentlichen Ziele, auf die der Reichspräsident nur in geringem Maße und nur mittelbaren Einfluß hat.
Hiernach kann ein Parteiführer, noch dazu der Führer einer die Ausschließlichkeit seiner Bewegung fordernden Partei, nicht Führer eines Präsidialkabinetts sein.
3) Reichskanzler Brüning hat bei seiner ersten Berufung ein ausgesprochen parlamentarisches, auf die Parteien gestütztes Kabinett gebildet, das sich erst allmählich zu einer Art Präsidialkabinett verwandelt hat, als der Reichstag bei der Gesetzgebung versagte und Herr Brüning sich das Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten in weitestem Maße erworben hatte. Die verschiedenen Änderungen in der Besetzung seines Kabinetts im Laufe seiner Regierungszeit wurden in erster Linie durch den Wunsch des Herrn Reichspräsidenten herbeigeführt, diese Umwandlung seines Kabinetts zum Präsidialkabinett auch in der persönlichen Zusammensetzung in Erscheinung treten zu lassen und den Schein einer Zentrumsvorherrschaft durch entsprechende personelle Änderungen zu vermeiden.
Auf ähnlichem Wege könnte naturgemäß auch eine von Ihnen geführte parlamentarische Regierung im Laufe der Zeit sich zum Präsidialkabinett wandeln.
4) Das Kabinett Papen war ein reines Präsidialkabinett, das nur zurückgetreten ist, weil es eine Mehrheit im Parlament zur Duldung seiner Maßnahmen nicht finden konnte. Ein neues Präsidialkabinett wäre also nur dann eine Verbesserung, wenn es diesen Mangel beseitigen könnte und gleichzeitig die Eigenschaften des Kabinetts Papen (überparteiliche Führung und Zusammensetzung ohne Parteiprogramm und Besitz des besonderen Vertrauens des Herrn Reichspräsidenten) besäße.
5) Nach diesen Ausführungen kann es sich bei dem Auftrag des Herrn Reichspräsidenten an Sie, sehr verehrter Herr Hitler, nur um die Bildung eines parlamentarischen Mehrheits-Kabinetts handeln. Der Herr Reichspräsident hat sich zu diesem Versuche entschlossen, nachdem seine Besprechungen mit den Parteiführern die Möglichkeit der Bildung einer Mehrheit im Reichstag für ein von Ihnen geführtes Kabinett ergeben und Sie selbst in der Besprechung am 19. November die Schaffung einer Mehrheit für eine von Ihnen gebildete Regierung und für ein dieser zu erteilendes Ermächtigungsgesetz für aussichtsreich gehalten haben4. Die von dem Herrn Reichspräsidenten Ihnen auf Ihre Frage mitgeteilten „Voraussetzungen“ für eine solche Regierungsbildung stehen mit einer parlamentarischen Lösung nicht im Widerspruch. Der Herr Reichspräsident hat in Festhaltung der von seinem Amtsvorgänger wie auch von ihm stets geübten Staatspraxis bisher jedem Kabinett gewisse grundsätzliche Forderungen auferlegt; im übrigen haben auch die Besprechungen des Herrn Reichspräsidenten mit den Parteiführern erkennen lassen, daß gegen diese Forderungen grundsätzliche[994] Widerstände nicht bestehen. Falls indessen eine der von Ihnen bekanntgegebenen Voraussetzungen des Herrn Reichspräsidenten für die Regierungsbildung sich als entscheidendes Hindernis zur Erreichung einer sicheren Mehrheit erweisen sollte, so würde das Gegenstand der erbetenen Berichterstattung über den Erfolg Ihrer Feststellungen sein.
Mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung bin ich
Ihr sehr ergebener
gez. Dr. Meissner