2.210 (mu21p): Nr. 210 Besprechung über den Stand der Reparationsverhandlungen in Paris. 24. Mai 1929, 21 Uhr

Zum Text. Zur Fußnote (erste von 4). Zu den Funktionen. Zum Navigationsmenü. Zum Navigationsbaum

 

Bandbilder:

Kabinett Müller II. Band 1 Hermann Müller Bild 102-11412„Blutmai“ 1929 Bild 102-07709Montage  von Gegnern des Young-Planes Bild 102-07184Zweite Reparationskonferenz in Den Haag Bild 102-08968

Extras:

 

Text

RTF

Nr. 210
Besprechung über den Stand der Reparationsverhandlungen in Paris. 24. Mai 1929, 21 Uhr

R 43 I /277 , Bl. 338-340

Anwesend: Müller, Hilferding, Stresemann, Curtius, Wirth; StS v. Schubert; MinDir. Ritter, Dorn, Schäffer; Protokoll: MinDir. v. Hagenow.

Nach Eröffnung der Besprechung durch den Reichskanzler wurden die in der Anlage beigefügten Fernsprüche […] vorgelesen1. Im Anschluß hieran erklärte der Reichskanzler, daß zu entscheiden sei die Frage, ob man Dr. Schacht[686] die erbetene Handlungsfreiheit einräumen solle, oder ob man Dr. Schacht zurücktreten lassen und einen Ersatzmann stellen solle. Unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen halte er den Rücktritt Schachts nicht für erträglich.

1

Kastl und Schacht hatten durch Fernschreiber mitgeteilt, daß die alliierten Ziffern eine Erhöhung der Young-Annuitäten um 52,8 Mio RM für 37 Jahre vorsähen. Diese Erhöhung werde von ihnen abgelehnt. Schacht habe Young erklärt, daß er sein Amt zur Verfügung stellen werde, wenn auf dieser Zahl bestanden werde. Die RReg. solle einen Ersatzmann ernennen, falls sie die Zahlen annehmen wolle. Young habe einen Rücktritt Schachts für unerwünscht erklärt und die Abfassung verschiedener Berichte der Staaten erwogen, über deren Verwendung die Regierungen entscheiden könnten. Kastl und Schacht hatten sich für ihre Entscheidung Handlungsfreiheit erbeten. In einem weiteren Fernschreiben hatten sie erklärt, sie hätten die Freiheit, auf den deutschen Vorschlag von Annuitäten in Höhe von 1650 Mio RM zurückzufallen oder sich den amerikanischen Ziffern anzuschließen (R 43 I /277 , Bl. 342 f.).

Reichswirtschaftsminister Curtius sprach sich dafür aus, Dr. Schacht die erbetene Handlungsfreiheit zu gewähren. Allerdings sei er sich nicht ganz im klaren darüber, ob Dr. Schacht die Handlungsfreiheit nur wünsche hinsichtlich der Zahlen, oder ob er allgemein auch hinsichtlich der Vorbehalte Handlungsfreiheit haben wolle2. Nach seiner Meinung müsse man Dr. Schacht heute Abend per Fernspruch die Handlungsfreiheit zusichern, morgen aber durch Chiffre-Telegramm gewisse Erläuterungen geben. Er lege Wert darauf, daß in den Sachverständigenverhandlungen die von Dr. Schacht betonten Vorbehalte gesichert werden. Daher glaube er, daß es notwendig sei, in dem Chiffre-Telegramm motivierte Wünsche hinsichtlich der Vorbehalte zu äußern; außerdem schlage er vor, den deutschen Sachverständigen nahezulegen, daß in dem Bericht allseitig zum Ausdruck gebracht werde, daß zur Lösung der noch offenen Fragen alsbald die politische Konferenz zusammentrete. Diesen Zusammentritt der politischen Konferenz müsse man als eine Selbstverständlichkeit darstellen.

2

In ihrem ersten Fernschreiben hatten die beiden Delegierten erklärt, daß von den Alliierten keine stichhaltigen Einwände gegen die Vorbehalte des deutschen Memorandums vorgebracht worden seien, so daß die Vorbehalte kein Anlaß zum Scheitern der Konferenz sein könnten (R 43 I /277 , Bl. 342 f.).

Der Reichsminister des Auswärtigen sprach sich auch für Gewährung der Handlungsfreiheit aus, brachte aber hierbei zum Ausdruck, daß seines Erachtens nach dem Telegramm die Handlungsfreiheit nur hinsichtlich der Ziffern erbeten sei. Man könne den Sachverständigen beim gegenwärtigen Stand der Verhandlungen nicht zumuten, hinsichtlich der Zahlen noch weitere Zugeständnisse zu machen. Da die Fragen doch noch vor eine politische Konferenz kämen, halte er es für zweckmäßiger, nicht weitere Zugeständnisse zu machen, um dann noch auf der politischen Konferenz einen gewissen Spielraum zu haben.

Der Reichsminister der Finanzen setzte auseinander, daß es sich seines Erachtens um folgende Fragen handele:

a)

Gewährung der Handlungsfreiheit an die Sachverständigen hinsichtlich der Ziffern.

b)

Im Falle der Ablehnung der Handlungsfreiheit: Rücktritt Schachts.

Nach seiner Meinung könne der Rücktritt Schachts innenpolitisch bei der ohnehin gespannten Situation nicht durchgehalten werden, insbesondere wenn bekannt würde, daß der Rücktritt Schachts auf einen Beschluß der Reichsregierung zurückzuführen sei.

c)

Einigung hinsichtlich der Vorbehalte.

[687] Er halte es für sehr erwünscht, daß hinsichtlich der Vorbehalte auf der Sachverständigenkonferenz eine Einigung erzielt werde. Er glaube nämlich, daß hinsichtlich der Vorbehalte auf der politischen Konferenz nichts zu erreichen sein werde, man gerate daher nur in eine unangenehme Situation, wenn die Sachverständigenkonferenz auf dem Gebiet der Vorbehalte keine Einigung bringe.

d)

Wird es gelingen, zu einer politischen Konferenz zu kommen? Hat Deutschland ein Druckmittel hierzu?

Er bezweifle es stark, daß Deutschland ein Druckmittel habe, das Zustandekommen der politischen Konferenz herbeizuführen. Aus diesen Erwägungen heraus schlage er vor, daß den deutschen Sachverständigen nahegelegt werde, in dem Bericht eine Empfehlung aufzunehmen, alsbald zur Lösung der Rechtsfragen eine politische Konferenz zusammentreten zu lassen. Mindestens müsse erreicht werden, daß auch die amerikanischen Sachverständigen eine solche Empfehlung in ihrem Bericht brächten. Daß die politische Konferenz zustande komme, sei zur Herbeiführung des Wirtschaftsfriedens unbedingt notwendig.

Der Reichswirtschaftsminister schloß sich den Ausführungen des Reichsministers der Finanzen an und bemerkte, daß es ihm allerdings zweifelhaft sei, ob die erbetene Handlungsfreiheit sich nur auf Ziffern erstrecken solle, ob nicht vielmehr durch den Fernspruch allgemeine Handlungsfreiheit erbeten werde.

Einigkeit bestand darüber, daß über die belgische Markfrage in der Erwiderung nichts gesagt werden solle, da der Fernspruch Kastl–Schacht in dieser Beziehung keine Frage enthalte.

Auf Grund des Ergebnisses dieser Besprechung wurde beschlossen:

I.

Nach Paris noch heute Abend folgenden Fernspruch zu geben: „Sie haben die von Ihnen gewünschte Handlungsfreiheit. Erläuterndes Chiffre-Telegramm folgt bis morgen früh.“3

II.

Folgendes Chiffre-Telegramm noch heute Abend an deutsche Botschaft Paris für deutsche Delegation abzusenden:

3

Text dieses Fernschreibergesprächs in R 43 I /277 , Bl. 347.

1.

Die gewünschte Handlungsfreiheit wird bestätigt.

2.

Billigen Eure Absicht, mit den Amerikanern in den Ziffern zusammenzugehen.

3.

Es4 wäre erwünscht, wenn die Frage der Vorbehalte noch im Bericht – soweit möglich – geklärt wird, Einheitsbericht auch bei getrennten Ziffern besser Grundlage für politische Konferenz bildet. Dabei steht für uns die Freistellung der Reichsbahn von äußeren Kontrollen und Pfandhaftung in erster Linie.

[688] 4.

Einleitung der politischen Konferenz würde wesentlich erleichtert, wenn in dem Bericht oder in den getrennten Berichten übereinstimmend die Notwendigkeit des unmittelbaren Anschlusses einer politischen Konferenz zur Erledigung der noch offenen Fragen und Herbeiführung des Wirtschaftsfriedens in der Welt stark unterstrichen würde. Die Notwendigkeit der Restlösung auf einer politischen Konferenz ergibt sich auch daraus, daß Quotenfrage rein politische Frage ist.

4

Im Chiffretelegramm war als Anfang dieses Punktes zunächst vorgesehen worden: „Da wir davon ausgehen, daß bei den Vorbehalten auf einer Regierungskonferenz weniger als dort jetzt erreicht werden kann, wäre es erwünscht, […]“. Der Satzanfang wurde ausgestrichen (R 43 I /277 , Bl. 348).

Extras (Fußzeile):