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[1480] Nr. 453
Politische Besprechungen mit dem österreichischen Bundeskanzler. 22. und 24. Februar 1930
R 43 I/111, Bl. 137-157, hier: Bl. 137-157 Abschrift als Umdruck1
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Auf Vorschlag von StS Pünder (an das AA am 10. 4.; R 43 I/111, Bl. 104, hier: Bl. 104) wurde das österreichische Protokoll zur Grundlage dieser Niederschrift gemacht, die am 4. 6. vom AA übersandt wurde (R 43 I/111, Bl. 136, hier: Bl. 136).
Anwesend: deutscherseits: Müller, Curtius; StS Pünder, v. Schubert; MinDir. Köpke, Ritter; Gesandter Graf Lerchenfeld; von Österreich: BK Schober; Generalsekretär Peter; Sektionschef Schüller; Gesandter Junkar, Frank.
[22. Februar 1930, 17 Uhr:]
Reichskanzler Müller eröffnet mit einer kurzen Begrüßungsansprache und fährt dann fort: Es freut mich besonders, feststellen zu können, daß sowohl Österreich als auch das Deutsche Reich sich trotz der Schwierigkeiten in den letzten Jahren so gefestigt haben, daß von ihnen heraus das Gefüge des Staates nicht ernsthaft angegriffen werden kann. Mit gewisser Sorge haben wir die Entwicklung der Verhältnisse in Österreich verfolgt und zum Teil gefürchtet, daß unter Umständen Rückwirkungen auf das Deutsche Reich eintreten könnten. Mit um so größerer Freude können wir feststellen, daß es unter der Führung des Herrn Bundeskanzlers Dr. Schober gelungen ist, alle Gefahren von Österreich abzuwenden. Es ist damit ein für alle Mal bewiesen, daß Österreich imstande ist, sich aller Gegner, die es von innen heraus bedrohen könnten, gleichviel von welcher Seite, zu erwehren2. Das Ziel der deutschen Politik ist die Herbeiführung einer zunehmenden Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten, so daß Deutschland und Österreich für alle Zukunft verknüpft wären.
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Über die innenpolitische Lage nach der Juli-Revolte 1927 hatte das AA geurteilt: „Auf innenpolitischem Gebiet ist in Österreich das wichtigste Ereignis in den vergangenen Monaten die Durchführung der Verfassungsreform auf verfassungsmäßigem Wege gewesen, ein Erfolg, der zweifellos in erster Linie dem staatsmännischen Geschick des Bundeskanzlers Schober zu verdanken ist. – Damit scheint die Gefahr einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Heimwehr und Sozialdemokratie auf absehbare Zeit behoben“ (12.2.30; R 43 I/111, Bl. 53-72, hier: Bl. 53-72).
Was unsere gemeinsame Arbeit auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiete anbelangt, so kann ich in der ersteren Richtung darauf hinweisen, daß bei uns die erste Lesung des Strafgesetzbuches zu Ende geführt worden ist, so daß auf dem Gebiete der Rechtsangleichung ein wichtiger Schritt nach vorwärts getan ist. Ich sehe darin die Bürgschaft für immer engere Beziehungen unserer beiden Staaten, auch auf dem Gebiete der Politik und Wirtschaft3.
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Im gleichen Sinn hatte sich auch das AA geäußert, das in dieser Zusammenarbeit eine Vorbereitung für den Anschluß erblickte (12.2.30; R 43 I/111, Bl. 53-72, hier: Bl. 53-72).
[1481] Bundeskanzler Schober:
Ich schließe mich der Auffassung des Herrn Reichskanzlers bezüglich des Zieles der beiderseitigen Politik an.
Ich danke für die freundlichen Worte, die Sie, Herr Reichskanzler, bezüglich der Entwicklung in Österreich gefunden haben. Ich möchte hier im vertrauten Kreise offen sagen, daß die inneren Schwierigkeiten deshalb im Sommer des abgelaufenen Jahres so bedrohlich erschienen, weil die damalige Regierung sich überhaupt nicht darum bekümmert hat. Die Gefahr war in Wirklichkeit gar nicht da, es wurde aber dieser Anschein erweckt, weil von Regierungswegen nichts dagegen geschah, und weil man es dem Polizeipräsidenten, nämlich mir, überließ, dagegen Stellung zu nehmen4. Es war ganz unnatürlich, daß die Regierung zu allem geschwiegen hat, was im Lande vorging. Aber es war gewiß nicht so gefährlich, als es aussah. Es bedurfte nur einer wirklichen Regierung, ja sogar nur einer Regierungserklärung, um die Ruhe wiederherzustellen. Die gegenwärtige österreichische Regierung basiert auf einer Koalition, aber diese Koalition will keinen Kampf um jeden Preis, sondern sie sucht, geführt von der nichtpolitischen Regierung, auf dem Wege der Vereinbarung die Zukunft Österreichs weiter zu entwickeln.
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Schober war von 1922 bis 1929 Polizeipräsident von Wien gewesen und hatte in dieser Eigenschaft die Juli-Revolte von 1927 niedergeschlagen, die sich gegen das fünfte Kabinett Seipel gerichtet hatte.
Zunächst möchte ich auf eine Frage der äußeren Politik übergehen und über meine Reise nach Rom einige Worte sagen. Ich kann mich darauf berufen, daß ich durch die beiderseitigen Gesandten der deutschen Regierung vom 1. Tage meiner Regierung an die nötigen Informationen gegeben habe, weil mir daran liegt, daß nicht das leiseste Mißverständnis darüber auftauchen kann. Die Romreise war die notwendige Folge der Spannung zwischen Italien und Österreich, die dadurch entstanden war, daß ein österreichischer Bundeskanzler seinerzeit gewagt hatte, im Nationalrat ein Wort zu Gunsten Südtirols zu reden5. Diese als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Italiens aufgefaßte Rede hatte zur Folge, daß der italienische Gesandte abberufen wurde, und daß sich Italien weiter durch zwei Jahre gegenüber jedem Versuch Österreichs, eine Anleihe zu bekommen, ablehnend verhielt, wodurch unsere Wirtschaft förmlich ausgeblutet wurde. Auch ein Entschuldigungsschreiben des damaligen Bundeskanzlers hatte nur die Rückkehr des Gesandten zur Folge6, nicht aber eine Änderung des Verhaltens Italiens bezgl. der Anleihe. Noch im Herbste 1929 standen wir vor derselben Situation, denn Italien war noch nicht zu bewegen, seine Pariser Vertreter anzuweisen, die Zustimmung Italiens zur Anleihe zu erklären. Nun hatte Italien im Frühjahr 1929 wissen lassen, es wäre nicht abgeneigt, Österreich zu helfen, wenn der Bundeskanzler einen Besuch in Rom mache und durch diesen Akt dokumentiere, welch großen Wert Österreich darauf lege, wieder in Gnaden aufgenommen zu werden. Der damalige Bundeskanzler7 entschloß sich dazu, und es waren auch alle Vorbereitungen zur[1482] Reise getroffen, als im April die Demission der Regierung dazwischen kam. Seinem Nachfolger8 ging es ebenso; bis die Sache von Neuem so weit gebracht war, mußte auch er seine Demission geben. Gleich als ich die Kanzlerschaft übernahm, erhielt ich die Einladung, nach Rom zu kommen. Ich habe mich auf den Standpunkt gestellt, daß ich in Rom nichts zu tun habe, weil ich an den früheren Vorfällen, die die Verstimmung in Italien ausgelöst hatten, nicht beteiligt gewesen sei. Ich könne nur dann nach Italien gehen, wenn ich Anlaß hätte, mich zu bedanken. Ich bin mit diesem Standpunkte nicht sofort durchgedrungen, und dies war auch der Grund, warum die Pariser Konferenz auseinanderging, ohne daß von Rom aus an die italienischen Vertreter eine Weisung zum Einlenken erging9. Erst Anfang Dezember erklärte die italienische Regierung, sie sei nunmehr bereit, ihre Zustimmung zur Anleihe zu geben, wenn ich meinen Besuch in Rom in Aussicht stelle. Ich habe das getan, und mit diesem Tag ist auch eine Wendung in der Haltung Italiens eingetreten. Sogar in der Südtiroler Frage zeigte sich eine geringere Empfindlichkeit. Während früher jede Äußerung, auch halbamtlicher Funktionäre zu Rekriminationen benutzt wurde, hat sich das gebessert. Endlich hat Italien in der Südtiroler Frage auch insofern eingelenkt, als es nur verlangt hat, daß die Regierungsstellen selbst sich jeder öffentlichen Behandlung dieser Angelegenheit enthalten. Ich habe dann meinerseits die Mitteilung gemacht, daß ich erst dann nach Rom gehen werde, wenn ich auch im Haag spüren werde, daß sich diese Zustimmung auswirkt10. Ich habe dies alles Herrn Reichsminister Curtius im Haag mitgeteilt, weil ich mich erkundigen wollte, ob ich damit nicht gegen die Interessen des Deutschen Reiches verstoße, und wir haben über dieses Thema wiederholt gesprochen. Der Zeitpunkt meines Besuches in Rom wurde schon im Haag festgesetzt.
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Gemeint ist wohl die Rede Rameks vom 17.2.26 (Schultheß 1926, S. 191).
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Der ital. Gesandte Auriti war am 6.7.28 nach Wien zurückgekehrt, nachdem seit Februar 1928 wieder Kontakte zwischen Wien und Rom aufgenommen worden waren.
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Ignaz Seipel.
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Ernst Streeruwitz.
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Gemeint sind die Verhandlungen über die Ostreparationen.
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Österreich hatte auf Grund der Völkerbundsanleihe von 1922 und der Vereinbarungen über die Lebensmittelschulden aus der Zeit nach dem Waffenstillstand bis 1967 keine Reparationen zu zahlen, war aber in der Auflegung von Anleihen behindert. Im Haag erreichte Österreich die Befreiung von Reparationsschulden überhaupt und die Beseitigung aller Hemmnisse für Anleihen. Die Staats- und Privatschulden zwischen Österreich und seinen Gläubigern wurden aufgehoben und die Liquidationen österreichischen Eigentums eingestellt. Dazu hatte das AA bemerkt: „Die verhältnismäßig gute Behandlung, die Österreich im Haag erfahren hat, wäre nicht erfolgt, wenn die Hauptgläubigermächte nicht mit Deutschland zum Abschluß gekommen wären“ (12.2.30; R 43 I/111, Bl. 53-72, hier: Bl. 53-72).
Meine Besprechungen mit dem italienischen Ministerpräsidenten haben sich in einer Linie bewegt, die mich in keiner Weise nötigte, irgend eine Zusicherung oder Bindung zu übernehmen. Ich betonte, daß wir an der Neutralität festhalten wollen und uns in kein politisches System hineinziehen lassen können und nur wünschen, die Spannungen und Empfindlichkeiten mit der großen Macht im Süden, mit der wir auf gutem Fuß leben wollen, zu beseitigen. Mussolini versicherte, daß er meinen Standpunkt vollständig begreife und gutheiße. Es war damit die Möglichkeit geboten, eine Aussprache über die noch anhängigen Wirtschaftsfragen zu führen mit dem Ergebnisse, daß der italienische Ministerpräsident seine Bereitwilligkeit zeigte, auf unsere Wünsche einzugehen.[1483] Die Details dürften hier nicht von Interesse sein. Ich habe dann am Schluß dieser Aussprache erwähnt, daß ich wohl noch Dinge auf dem Herzen hätte, die ich aber nach den Erfahrungen, die frühere österreichische Bundeskanzler gemacht hätten, nicht gut vorbringen könne. Mussolini, der offenbar gleich verstand, was ich meinte, erwiderte darauf, wenn es dem österreichischen Bundeskanzler vielleicht nicht anstehe, darüber zu sprechen, so könne doch Herr Schober Herrn Mussolini als Freund davon in Kenntnis setzen. Dadurch bekam ich die Gelegenheit, das uns allen am Herzen liegende Schicksal Südtirols zu behandeln, und ich habe erfreulicherweise auch da bei Mussolini insoweit Verständnis gefunden, als er manche der von mir behaupteten Härten bezweifelte und sich dann allgemein bereit erklärte, die Verhältnisse nach und nach zu bessern. Die heute in den Zeitungen veröffentlichte Amnestie wurde mir schon während meines Aufenthaltes in Rom als Sympathiebeweis angekündigt11. Ich möchte diese Bemerkungen über Rom mit der nochmaligen Versicherung schließen, daß ich keinerlei Bindung, nicht einmal andeutungsweise, eingegangen bin, daß wir vollkommen als gleichwertige Partner miteinander gesprochen haben und daß bei diesen Unterredungen auch die Sympathie für das Deutschtum als solches zum Ausdruck gekommen ist. Mussolini unterbrach meine in französischer Sprache begonnenen Ausführungen mit der Bemerkung, daß ich mit ihm auch deutsch sprechen könne. Wiederholt erklärte er, welche Sympathien er für die Deutschen empfinde.
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Durch diese Amnestie wurde die Polizeiaufsicht über zahlreiche Südtiroler aufgehoben.
Anschließend an diese Ereignisse in Rom würde ich es für gut halten, wenn wir uns darüber einigen wollten, in welcher Weise wir beide unsere nationalen Interessen betätigen sollen. Ich denke an ein gewisses gemeinsames Vorgehen in der Südtiroler Minderheitenfrage, aber auch in anderen Minderheitenfragen, die beide Staaten berühren (z. B. Tschechoslowakei) damit wir in einer Linie zusammenwirken.
Ich hielte es überhaupt für richtig, daß wir die Innigkeit unseres Verhältnisses auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß wir bezgl. der Außenpolitik einen möglichst engen ständigen Gedankenaustausch in einfacher Form pflegen. Die anderen Staaten setzen das, obwohl es nicht immer zutrifft, schon längst als selbstverständlich voraus.
Ein Wort möchte ich auch über Coudenhove und die Paneuropabewegung verlieren. Die nationalen Kreise bei uns sehen die Sache nicht gern, und es wurden deswegen wiederholt gegen uns Vorwürfe erhoben. Es besteht nun die Idee, Wien zum Mittelpunkt der Paneuropaidee zu machen.
In gewissem Zusammenhange mit meiner Romreise steht auch die Absicht Österreichs, bei sich ergebender Gelegenheit anstelle des Söldnerheeres wieder das Milizsystem einzuführen. Ein darauf abzielender Versuch wurde von uns schon im Jahre 1922 unternommen. Wir wollten damals Frankreich, England und Italien von der Notwendigkeit dieser Einführung schon aus Gründen der Kostenersparnis überzeugen, erfuhren jedoch eine glatte Ablehnung. Man entgegnete uns, dies sei ausgeschlossen, weil es nur einer Verstärkung des deutschen Heeres[1484] gleichkäme. Ich habe nun jetzt beim italienischen Ministerpräsidenten angeklopft, wie sich Italien dazu stellen würde, wenn Österreich einen neuerlichen Versuch unternähme. Mussolini erklärte, daß auf Seiten Italiens kein Widerstand geleistet werden wird, er rate mir aber, diese Sache ja nicht vor Liquidierung der Anleihe vorzubringen, um nicht neuerlich in Frankreich Argwohn zu erwecken. Wir würden nur gern wissen, wie sich das Deutsche Reich zu diesem Gedanken stellt.
Ich möchte noch die Frage der Entwaffnung der privaten Formationen erwähnen, die auch im Deutschen Reiche Resonnanz hat. Auch darüber habe ich mich mit dem Herrn Reichsaußenminister schon im Haag verständigt. Dort wurde zuerst die Zumutung an mich gestellt, eine Erklärung gegen den Anschluß abzugeben, was ich direkt und entschieden abgelehnt habe. Dann verlangte man, ich solle eine Erklärung über die Entwaffnung in Österreich abgeben. Ich habe auch dies abgelehnt mit dem Bemerken, daß ich nicht der Statthalter der Entente in Österreich sein könne; ich würde aber aus Eigenem das Nötige vorkehren, weil auch nach meiner Auffassung der Zustand, daß zwei bewaffnete Gruppen einander feindlich gegenüberstehen, für den Frieden und die Ruhe des Landes nicht unbedenklich sei. Sollte die Befreiung vom Pfandrecht und Reparationen aber von der von mir verlangten Erklärung abhängig gemacht werden, wäre ich vielleicht gezwungen, sie abzugeben, würde aber dann sofort nach meiner Rückkehr nach Wien meine Demission geben. Man hat sich schließlich mit meiner Versicherung begnügt, daß ich die Ordnung dieser Angelegenheiten als meine eigene Pflicht ansehe. Wir haben uns dann geeinigt, daß ich dem Generalsekretär des Völkerbundes einen Brief schreibe, in dem ich mich verpflichte, die Bestimmungen des Friedensvertrages genau durchzuführen. Eine von mir in Aussicht genommene Gesetzesvorlage, die ich in nächster Zeit einbringen will, wird zum Beweise meiner Absicht dienen und die beiden Formationen ihres gefährlichen Charakters dadurch entkleiden, daß ihnen die Waffen weggenommen werden.
Die wirtschaftlichen Fragen möchte ich vorläufig beiseite lassen, damit wir zuerst über die politischen sprechen können.
Reichskanzler Müller:
Wir haben uns über die Erfolge Österreichs in Italien sehr gefreut. Die Beziehungen zu Südtirol haben auch in Deutschland starke Wellen geschlagen, die wir öfter beruhigen mußten, um unsere Beziehungen zu Italien nicht zu verschlechtern. Was die prinzipielle Seite der Minderheitenfrage betrifft, so haben wir immer auf derselben Linie gearbeitet. Ich erwähne die Rede, die der frühere Bundeskanzler Seipel auf der Völkerbundstagung in Genf ganz im Sinne unserer Anschauungen gehalten hat12. Diese Frage wirkt natürlich auch[1485] auf unser Verhältnis zur Tschechoslowakei ein, mit der wir im allgemeinen gute und korrekte Beziehungen haben, die aber manchmal eine Störung durch Rückwirkungen in der öffentlichen Meinung erfahren.
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Der RK bezieht sich auf die Rede, die Seipel am 8.9.28 in Genf gehalten hatte. Zu ihr war damals vom AA bemerkt worden: „In überaus geschickten Worten, deren sachliche Schärfe stark wirkte, verteidigte der Bundeskanzler sodann die Rechte der Minoritäten ‚gleichgültig, ob ihnen ein solches Recht garantiert ist oder nicht‘ – eine unzweideutige Anspielung auf Südtirol. Er erklärte, daß das Minderheitenproblem unter der Überhitzung des Nationalgefühls in vielen Staaten besonders zu leiden hätte. Im Völkerbund vermeide man es leider, von diesen Dingen öffentlich zu reden, oder man tue so, als ob alles in schönster Ordnung wäre. Er müsse aber leider feststellen, daß in der Minderheitenfrage zwischen den einzelnen Staaten kein Einvernehmen bestehe. Er wolle aber in dieser Frage keinen bestimmten Antrag einbringen, aber er müsse den Völkerbund darauf hinweisen, daß das Recht in der Sache der Minderheiten auf der Seite der Minderheiten sei. Man müsse dieses Problem regeln, damit nicht in Zukunft der Frieden bedroht werde. Mgr. Seipel erntete mit seiner kühnen Rede, die, soweit sie sich auf die Minderheitenfrage bezog, die Ausführungen des RK wirkungsvoll unterstützte, großen Beifall bei den meisten Delegationen“ (Runderlaß vom 10.10.28; R 43 I/494, Bl. 199-220, hier: Bl. 199-220).
Wir sind durchaus einverstanden, daß der gegenseitige Gedankenaustausch noch inniger als bisher gestaltet wird. Man glaubt in Paris, daß wir stets unter einer Decke arbeiten, was aber tatsächlich nicht immer der Fall ist.
Was die Paneuropabewegung anbelangt, so haben wir die Arbeit Coudenhoves, soweit sie propagandistischer Art ist, nicht behindert, ja sogar mit Sympathie verfolgt. Praktisch hat sie allerdings nicht die Bedeutung, die Coudenhove ihr zuschreibt und wir hoffen, daß der Anschluß früher kommt als Paneuropa.
Zur Frage der Miliz haben wir im Einzelnen noch nicht Stellung genommen. Wir müßten auch jedes Aufsehen vermeiden, weil diese Einführung bei uns eine ganz andere Rückwirkung in der öffentlichen Meinung, besonders in Frankreich, hätte. Wir leiden ebenso wie Sie darunter, daß wir ein sehr teures Heer haben. Übrigens bewegt sich nach Ansicht der militärischen Sachverständigen die Entwicklung in der Richtung zum Kaderheer. Uns fehlt dazu allerdings das französische Reserveoffizierskorps, Waffen, Tank, schwere Artillerie und Flugzeuge. Da wir große Vorsicht üben müssen – die Tinte der letzten Noten über die Entwaffnung ist noch nicht trocken –, können wir im Detail noch keine Stellung beziehen.
Reichsminister Curtius:
Ich möchte an die Spitze stellen, daß ich die erste Gelegenheit im Haag benutzt habe, um gerade Sie, Herr Bundeskanzler, aufzusuchen. Nicht nur wegen der speziellen Fragen, wie Romreise und anderes, sondern aus tieferliegenden Gründen. Wir sind seit Jahr und Tag infolge der Entwicklung, in die wir hineingestellt wurden, auch mit unseren physischen Kräften durch die Reparations- und Räumungsfrage ganz in Anspruch genommen. Ich bin daher in meiner kurzen Amtszeit im Auswärtigen Amte noch nicht dazu gekommen, mich mit den anderen wichtigen Problemen zu beschäftigen. Dazu gehört eine Reihe von Fragen, die uns auch gefühlsmäßig naheliegen. Ich glaube, daß gerade die heutige politische Aussprache die Anknüpfung bilden soll, um das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich zu vertiefen und den intensiveren Gedankenaustausch anzubahnen, den Sie in den Mittelpunkt gestellt haben. Wir wollen versuchen, auch geeignete Formen dafür zu finden. Ich hoffe, daß ich, wenn das gegenwärtige Stadium der Reparations- und Räumungsfrage erledigt sein wird,[1486] die Entlastung finden werde, um mich allen diesen anderen politischen Problemen widmen zu können.
Eine gemeinschaftliche Behandlung der Minderheitenfrage ist sehr zweckmäßig. Es würde sich darum handeln, die Erfahrungen gegenseitig auszutauschen und zu unternehmende Schritte vorerst miteinander zu besprechen. Es wäre ganz gut möglich, daß sich die beiderseitigen Referenten in Minderheitenfragen in gewissen Fristen treffen.
Wir waren über die Romreise nie beunruhigt und haben nie gefürchtet, daß Sie Bindungen übernehmen könnten, die Ihnen oder uns unangenehm wären. Wir freuen uns, daß für Sie jetzt die Möglichkeit besteht, mit Italien freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, was auch uns nur von Nutzen sein kann.
Ich möchte einiges über die deutsche Politik sagen. Ich sagte vorher, daß die Reparations- und Räumungsfrage uns vollständig in Anspruch genommen hat. Ich nehme an, daß wir in wenigen Wochen hier zu einer endgültigen positiven Entscheidung gelangen. Trotz der schweren Lasten werden wir uns aus vielen anderen Gründen entschließen, den Young-Plan anzunehmen, ebenso auch das polnische Liquidationsabkommen. Bezgl. des letzteren hat man gelegentlich wohl mißverstanden, warum wir es getätigt haben. Wir sind zwar aus dem Young-Plan heraus in dieser Beziehung in eine Zwangslage versetzt worden, aber wir haben mit diesem Liquidationsabkommen nur Verhandlungen mit den Polen fortgesetzt, die seit dem Jahr 1926 laufen, aber immer wieder, zuletzt noch im Frühjahr 1929, unter ungünstigen Bedingungen abgebrochen wurden. Wir haben sie aus der Notwendigkeit, die sich aus dem Young-Plan ergab, neu knüpfen können und sind unter dem gemeinsamen Drucke zu einem Ergebnis gekommen, das uns volkspolitische Vorteile gegenüber finanziellen Leistungen unsererseits bietet. 12 000 deutsche Siedlerstellen im Umfange von 50 000 ha und mit ca. 80 000 Deutschen wären sonst verloren gewesen. Wir glauben, daß wir in weitem Umfange für die Sicherung des Deutschtums etwas getan haben. Auch ein Handelsvertrag wird hoffentlich kommen. Normale Wirtschaftsbeziehungen und die Erhaltung der Reste des Deutschtums in Polen betrachten wir als erste Grundlage für eine weitere zielvolle Politik gegenüber Polen. Es handelt sich daher um keine Gesamtbereinigung der zwischen uns und Polen schwebenden Fragen, und es ist ganz unrichtig, wenn die Sache von französischer Seite als eine Art Ost-Locarno dargestellt wird. Angesichts der Grenzverhältnisse können unsere Beziehungen zu Polen nicht derartige sein. Ich werde bei der zweiten Lesung noch einmal ausführlicher darüber sprechen, habe aber schon bei der ersten Lesung betont, daß wir keine Ansprüche aufgegeben haben und keinen anderen Kurs steuern wollen. Wir werden unzweifelhaft das Ziel der Änderung unserer unmöglichen Grenzverhältnisse im Osten weiter verfolgen müssen. Wir werden auch vor dem Völkerbundrat die Minderheitsbeschwerden vertreten, und der von Polen versuchten Entdeutschung weiter entgegenarbeiten.
Was die Tschechoslowakei betrifft, so sind wir gegenüber ihren Forderungen nach Verzicht auf private Ansprüche hart geblieben. Wir würden sonst sehr wesentliche Ansprüche aufgegeben haben. So haben wir unsere Ansprüche[1487] aus der Agrarreform aufrecht erhalten und uns bezüglich der heute noch strittigen Entschädigungen für 130 000 ha die Möglichkeit der Herbeiführung einer Entscheidung des Schiedsgerichts gewahrt. Bezgl. 150 000 ha haben wir uns mit den Tschechen verglichen. Die Tschechoslowakei hat ihre Stellung durch beide Haager Konferenzen nicht verbessert, sondern verschlechtert. Frankreich und England haben sie in auffallender Weise fallen gelassen und die Großmannssucht Benes’ hat einen sehr starken Dämpfer bekommen. Für uns und Österreich bedeutet dies eine sehr starke Entlastung. Wir haben uns auch gefreut, daß die Ostreparationen sowohl für Österreich und das Deutsche Reich als auch für Ungarn und Bulgarien günstig erledigt wurden. Wir hoffen, daß sich auch zwischen Rumänien und Ungarn eine Lösung finden wird. Wird nicht vielleicht die Kleine Entente durch die Lösung der Ostreparationsfrage auch stark entwertet werden? Ich habe dafür keine sicheren Anhaltspunkte, aber es scheint mir jedenfalls, daß durch die Entwicklung der allerjüngsten Zeit die Verhältnisse in der Nachbarschaft Österreichs aus einer gewissen Erstarrung in Fluß gekommen sind.
[Das Verhältnis Österreichs zu Ungarn, Jugoslawien und zur Tschechoslowakei wird erörtert.]
Reichskanzler Müller:
Ich glaube, daß wir die rein politischen Fragen damit abgeschlossen haben und zur Besprechung der wirtschaftlichen übergehen können13.
Bundeskanzler Schober:
Neben dem von Ihnen erwähnten Gebiete der kulturellen Zusammenarbeit sind unsere handelspolitischen Beziehungen gleichfalls von größter Wichtigkeit. In diesem Zusammenhange wird auch die Frage der Zollunion gestreift werden müssen.
Was den Handelsvertrag betrifft, so möchte ich vor allem betonen, daß man bei uns in Österreich erwartet, daß die noch bestehenden Schwierigkeiten beseitigt werden. Gerade nationale Kreise in Österreich wollen es nicht verstehen, warum ausgerechnet zwischen Deutschland und Österreich kein befriedigendes Ergebnis erzielt werden kann. Die Referenten und pflichtmäßigen Sachwalter der beiden Länder sind nicht sehr weit gekommen. Ich halte es für notwendig, daß man auch auf diesem Gebiete, aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, der bestehenden Schwierigkeiten Herr wird. Wenn wir natürlich auch nicht jetzt einen ganzen Handelsvertrag abschließen können, so müssen wir doch trachten, wenigstens einige wichtige Positionen vorwärts zu bringen.
Reichskanzler Müller:
Ich teile diese Auffassung schon wegen des Eindruckes in der öffentlichen Meinung. Wir müssen zusehen, daß wir über die sachlich noch vorhandenen Schwierigkeiten hinwegkommen. Wir haben uns auch mehrfach im Kabinett[1488] mit der Frage befaßt und hoffen, daß die paar Restpunkte jetzt doch einer Bereinigung entgegengeführt werden können14.
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Außer der Kabinettsbesprechung vom 20. 2. wurden zum österr. Handelsvertrag für die Zeit des Kabinetts Müller II keine weiteren Verhandlungen des Kabinetts ermittelt.
Sektionschef Schüller:
Uns interessiert zunächst ein Punkt. Bei uns wird gesagt, warum macht Ihr keine Zollunion? Die Handelskammern und anderen Korporationen und Vereinigungen sind der Ansicht, daß die Regierung nicht will. Nun wurde ja diese Frage zwischen uns schon seinerzeit in Wien besprochen. Nach unserer Auffassung ist eine Zollunion nicht durchführbar. Die Entente steht auf dem Standpunkt, daß sie genau so verboten ist wie der politische Anschluß. Dies war auch damals der Standpunkt der deutschen Regierung.
Staatssekretär v. Schubert
verweist auf die Bindung Österreichs durch die Genfer Protokolle15, worauf
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Das Genfer Protokoll vom 4.10.22 ließ Österreich die Freiheit für Finanz- und Handelsabkommen, solange dabei seine wirtschaftliche Unabhängigkeit erhalten blieb. Diese Bestimmung galt bis zum Jahr 1943. Die österreichischen Zölle unterlagen der Pfandhaftung für die Völkerbundanleihe.
Sektionschef Schüller
erwidert, daß sie keine stärkere Bindung enthalten als die Friedensverträge.
Reichsminister Curtius:
Ich zweifle nicht, daß die Entente die Friedensverträge zu unseren Ungunsten auslegen würde, aber man müßte doch schon bald Vorberatungen über die Zollunion pflegen. Wir müssen einmal darauf gefaßt sein, gemeinsam einen solchen Schritt zu tun. Ich sehe zwar gegenwärtig noch keine außenpolitische Konstellation, die ihn ermöglichen würde, aber wenn sich in der Zukunft eine solche ergibt, müssen wir schon gerüstet sein, damit wir nicht in große Verlegenheit kommen. Daher wären die Vorarbeiten schon im gegenwärtigen Zeitpunkte notwendig und wertvoll. Die schwierigen Fragen müßten langsam einer Klärung entgegengeführt werden. Meine Auffassung geht dahin, daß, so schwer auch die Erschütterungen hüben und drüben sein mögen, die Zollunion doch unser Ziel sein muß.
Sektionschef Schüller:
Wir werden selbstverständlich einer solchen Einladung zu Vorberatungen Folge leisten, wenn Sie glauben, daß die Realisierung des Gedankens im Bereiche der Möglichkeit liegt. Aber um eines möchte ich bitten, daß man das nicht die wirtschaftlichen Korporationen machen läßt. Wir erregen sonst nur Mißtrauen und Unruhe und machen in Wirklichkeit doch nichts. Ich kann mir von einem Versuche der Korporationen und Handelskammern, untereinander zu einer Einigung zu gelangen, gar keinen Erfolg versprechen. Was nicht vollständig[1489] geheim bleiben kann, ist uns sehr unsympathisch. Wenn etwas unternommen werden soll, dann wirklich ganz vertraulich und zwischen den Regierungen.
Ministerialdirektor Ritter:
Die Frage ist eingehend besprochen worden. Ich bin nicht für Vorarbeiten im gegenwärtigen Zeitpunkt. Auch wenn man solche Arbeiten bloß in den Ministerien macht, ist eine so große Zahl von Herren beteiligt, daß notwendigerweise die Öffentlichkeit davon erfährt und im Auslande eine Reaktion erfolgt, die die nachfolgende Arbeit nur erschwert. Ich glaube, daß man umgekehrt vorgehen muß. Wenn die politische Aktion möglich ist, so können die wirtschaftlichen Vorarbeiten in kürzester Zeit gemacht werden. Ich glaube nicht, daß da mehr als 6–8 Wochen notwendig sind. Ich möchte noch bezüglich der Genfer Bindung die Frage richten, wann sie abläuft.
Sektionschef Schüller:
Vom Jahre 1934 an können wir die Anleihe konvertieren, so daß alle Bindungen wegfallen16. Was den Handelsvertrag anbelangt, so ist das bisherige Ergebnis der Verhandlungen sehr unbedeutend. Ohne in Details einzugehen, möchte ich nur sagen, daß wir immer den Wunsch gehabt haben, daß dieser Vertrag Verbesserungen zu Gunsten Österreichs bringt und uns eine etwas erhöhte Ausfuhr nach Deutschland ermöglicht. Die Verhandlungen waren erschwert und verzögert und wir sind nicht vorwärtsgekommen. Man muß mit der Sache ein Ende machen. Wenn wir uns nochmals zusammensetzen und wieder scheitern, würde dies einen entsetzlichen Eindruck machen. Wir haben uns ohnedies alle überschwenglichen Hoffnungen aus dem Kopf geschlagen und anerkennen gern Ihre Schwierigkeiten. Aber in zwei Punkten wäre doch ein etwas freieres Entgegenkommen Ihrerseits möglich.
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Richtig muß es wohl heißen 1943. Österreich sollte seine Schulden von 1943 an in 25 Jahresraten oder bei sofortigem Beginn in 40 Jahresraten zahlen (Aufzeichnung des AA vom 12.2.30; R 43 I/111, Bl. 53-72, hier: Bl. 53-72).
1. Wir geben zu, daß Deutschland an der Meistbegünstigung festhalten muß, aber es bindet sich in der Auslegung viel zu stark. Ich verstehe den Standpunkt der deutschen Regierung absolut nicht, daß das Kontingent für die Grenzsägen unter die Meistbegünstigung fällt. Wir hätten die Ausfuhrabgabe auf Rundholz aufgehoben, und Sie hätten die Begünstigung davon abhängig machen können. Die Menge, die wir verlangen, ist gleichfalls sehr geringfügig. Wir führen 50 000 Waggon aus und verlangen ein begünstigtes Kontingent für 3800. Sie haben uns 600 angetragen.
2. Wir wünschen, daß man uns in österreichischen Sonderartikeln, wo wir der Hauptwettbewerber sind, entgegenkommt und die Situation für uns nicht noch verschlechtert. Ich denke da z. B. an Sensen und Berndorfer Artikel. Die Österreicher wollten einzelne Zölle gegen Deutschland erhöhen. Wir haben auf sehr tiefem Niveau angefangen und erst allmählich adaptiert. Ich gebe zu, daß das für die deutschen Unterhändler nicht angenehm ist. Auf der anderen Seite stehen wir vor Novellen des Parlaments, denen wir Rechnung tragen müssen.[1490] Wir werden aber daran den Vertrag nicht scheitern lassen, allerdings nur unter der Bedingung, daß man uns für österreichische Spezialitäten ein etwas größeres Geschäft in Deutschland ermöglicht. Es handelt sich um eine ganz geringfügige Sache. Unsere Wünsche erstrecken sich auf eine gegenwärtige Ausfuhr von ungefähr 20 000 000 Mark, die sich, wenn unsere Wünsche erfüllt werden, vielleicht um 10 Millionen erhöhen wird.
Ministerialdirektor Ritter:
Ich wußte nicht, daß hier Einzelheiten besprochen werden sollen. Wir haben für einige Grenzsägen schon einen Ausweg gefunden, wenn auch nicht für alle17. Bezüglich des allgemeinen Schnittholzzolles werden wir Ihnen entgegenkommen, wobei allerdings unsere Vorschläge an die Voraussetzungen gebunden sind, daß Sie keine Ausfuhrabgabe für Rundholz erheben. Was die österreichischen Zollerhöhungen anbelangt, so erkenne ich ohne weiteres an, daß Österreich sehr tief angefangen hat. Aber es handelt sich natürlich um das Ausmaß. Wenn Sie sagen, daß die Verhandlungen daran nicht scheitern werden, so eröffnet dies eine bessere Perspektive. Von österreichischer nicht amtlicher Seite ist gesagt worden, man verstehe dieses Petit nicht, das darauf hinausläuft, daß man sich von dem Endziele einer Zollunion entfernt und durch Zollerhöhungen künstlich Industrien, die doch nicht lebensfähig sind, hochzüchtet. Unsere Stellung gegenüber unseren Interessenten ist dadurch nicht erleichtert worden. Bezüglich ganz spezieller Sonderartikel werden wir Ihnen entgegenkommen.
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Für zwei österr. Bezirke in Tirol und Salzburg hatte der HPA der RReg. ein Schnittholzkontingent von etwa 6000 Tonnen zu zwei Drittel des allgemeinen Zollsatzes anbieten wollen (Kabinettsvorlage des AA vom 15.2.30; R 43 I/1105, Bl. 112 f., hier: Bl. 112 f.).
Sektionschef Schüller:
Ich werde mich mit Ministerialdirektor Ritter zusammensetzen, damit wir zu einem Ergebnis kommen, wenigstens soweit, daß wir in einem Communiqué sagen können, die Schwierigkeiten seien überwunden.
Bundeskanzler Schober:
Nach den Ausführungen des Herrn Ministerialdirektors Ritter erscheint es mir geradezu unbegreiflich, daß man bei so geringen Differenzen bisher nicht weitergekommen ist. In einem Falle handelt es sich ja nur um eine Interpretationsfrage. Ich muß bitten, daß die Regierung selbst eingreift, um die Bedenken der Referenten zu zerstreuen. Ich halte es für ganz unmöglich, daß wir nach zweimaliger Verschiebung der Verhandlungen wieder erfolglos auseinandergehen. Es muß schon jetzt der Öffentlichkeit mitgeteilt werden können, daß alle Hindernisse behoben sind und die Delegationen Mitte März daher alle noch offenen Fragen erledigen werden.
Reichsminister Curtius:
Wir haben im Haag schon besprochen, daß die schwierigen Fragen politisch aus dem Weg geräumt werden. Ich glaube, es würde nicht zweckmäßig sein,[1491] zu sagen, daß die offiziellen Verhandlungen Mitte März fortgesetzt werden, sondern die Wendung „im Anschluß an die Genfer Besprechungen“ wäre vorzuziehen. Was nun die Schwierigkeiten anbelangt, die noch zu überwinden sind, so liegen sie, wie ich glaube, in der Vieh- und Holzfrage. Von den beiden anderen Fragen war ich bisher nicht der Meinung, daß eine politische Entscheidung noch notwendig wäre. Was die Hauptfrage, die Viehfrage, anbelangt, so glaube ich, daß sie gelöst ist18.
Sektionschef Schüller:
In der Holzfrage haben wir noch keinen Antrag, den wir annehmen könnten. Mit dem allgemeinen Zoll von 85 [Pfennig] werden wir uns abfinden. Wenn wir die Ausfuhrabgabe für Rundholz aufheben, sind wir bei diesem Zolle schlechter gestellt als früher. Die Differenzen, die noch bestehen, beziehen sich auf die Grenzsägen. Da wollen wir, daß ein Kontingent von 3800 Waggon, also der dreizehnte Teil unserer Ausfuhr, begünstigt behandelt wird. Man könnte die Grenzkontingente mit dem Nachlaß der Rundholzabgabe verbinden. Was die industriellen Positionen anbelangt, so sind die zwei Fragen eigentlich eine einzige. Wenn wir die Ausfuhrmöglichkeit für unsere Spezialartikel bekommen, so können wir uns auf den Standpunkt stellen, daß wir von Erhöhungen absehen. Wir wollen ja nur eine Besserung der Situation für uns in einem sehr bescheidenen Umfange.
Ministerialdirektor Ritter:
Sie sollen einen etwas günstigeren Handelsvertrag bekommen, aber daß die Kompensation für Zollermäßigungen nur in der Abstandnahme von Zollerhöhungen Ihrerseits bestehen soll, ist nicht gut möglich. Unser Entgegenkommen wird natürlich auch davon abhängen, wie Sie sich zu unseren Forderungen stellen.
Reichskanzler Müller:
Praktisch handelt es sich zunächst darum, wie man die Sache weiterbringt. Wenn es nicht gelingt, in den nächsten Tagen ein beruhigendes Communiqué hinauszugeben, ist ein sehr schlechter Eindruck unvermeidlich.
Bundeskanzler Schober:
Eines ist sicher, daß die Öffentlichkeit es absolut nicht verstehen würde, wenn Konzessionen deshalb verweigert würden, weil sie auch Opfer bedeuten. In Österreich erwartet man, daß ein Übereinkommen zustandekommt. Wenn es nichts beinhaltet, würde ich lieber darauf verzichten.
Reichskanzler Müller:
Ich bin auch der Meinung, daß die Entscheidungen so weit vorbereitet sein müssen, daß das Endergebnis zum Greifen nahe erscheint. Wir müssen gewiß den äußersten Versuch machen, die Schwierigkeiten zu überwinden.[1492] [Vertagung auf den 24. 2., 11 Uhr und Vereinbarung des Pressecommuniqués.]
[24. Februar 1930, 11 Uhr:
Zunächst wird das Projekt eines Tauernkraftwerkes der A.E.G. behandelt. Danach gibt MinDir. Ritter bekannt, daß die Frage des österr. Holzexports gelöst worden sei. Es schließt sich eine Erörterung über die Einrichtung eines dt. Zollamts in Wien und österr. Zollämter in Berlin und München an.]
Reichsminister Curtius:
Ich muß noch einmal auf die Frage der Zollunion zurückkommen. Als ich Wirtschaftsminister war, habe ich mit Staatssekretär Trendelenburg wiederholt diese Frage besprochen. Wir müssen in Europa die Zollgrenzen überwinden. Es frägt sich nun, auf welchem Wege. Zu einer Zollunion von ganz Europa wird es ohne Zweifel niemals kommen. Es gilt auch hier der Satz „qui trop embrasse mal étreint“. Man muß das Nächstliegende zusammenfügen. Aus solchen Gedankengängen heraus ist es wohl notwendig, daß wir gerade mit Österreich diesen Plan besprechen und uns über seine Voraussetzungen klar werden. Nun haben Sie ja berichtet, daß in Österreich selbst diese Gedanken in Wirtschaftskreisen sehr lebhaft erörtert werden. Das Gleiche ist übrigens auch bei uns der Fall. Ich verweise auf die Tagung der deutsch-österreichischen Arbeitsgemeinschaft im vorigen Herbst in Düsseldorf. Ich möchte daher noch einmal zur Erwägung anheimstellen, ob nicht doch Vereinbarungen bezgl. Vorarbeiten denkbar wären. Das Argument, daß so etwas nicht geheim bleibt, kann ich nicht gelten lassen. Wenn wir eine Denkschrift machen, wird nichts in die Öffentlichkeit dringen. Es wären daher folgende Gesichtspunkte maßgebend:
1. Eine Zuziehung der Wirtschaftskreise ist überflüssig. Wir haben Wirtschaftssachverständige in den Ämtern selbst und können Experten von außen gänzlich entbehren. Wir können uns daher in jedem Fall im Rahmen der Ämter zusammensetzen, und es ist nicht nötig, irgend einen Menschen der Wirtschaft heranzuziehen. In dieser Art kann die Sache ganz vertraulich behandelt werden.
2. Es bestehen doch nun gute Gründe für die Annahme, daß die Friedensverträge kein entscheidendes Hindernis sind. Eine kündbare oder befristete Zollunion kann, wie Riedl in seiner Denkschrift ausgeführt hat, nicht als Aufgeben der Unabhängigkeit angesehen werden. Selbstverständlich ist dies nicht die Auffassung unserer Gegner. Wenn aber die Rechtslage zum mindesten zweifelhaft ist, können wir diese These gegen die Auffassung unserer Gegner vertreten. Selbstverständlich muß der günstige Moment für diesen Kampf gewählt werden und es ist auch politische und diplomatische Vorbereitung erforderlich.
3. Die wirtschaftliche Möglichkeit muß, darüber waren wir uns ja schon Samstag [22. 2.] im Klaren, natürlich auch vorbereitet werden. Aber trotz gewisser Sorgen um die Vernichtung einzelner wirtschaftlicher Existenzen, die unvermeidlich ist, sehe ich doch vom Standpunkte der deutschen Gesamtwirtschaft keinerlei Hindernisse. Das müßte man natürlich im einzelnen auch prüfen.[1493] Ich wäre dankbar, wenn wir uns heute auf irgend eine Weise verständigen könnten, ob und wie die ganze Arbeit in Angriff genommen werden kann. Ich meine, daß sie nicht auf die lange Bank geschoben werden soll, denn oft entwickeln sich die Verhältnisse ungeheuer schnell. Wenn die gesamt-europäische Konstellation eine Lücke bietet, müssen wir sofort hineinstoßen können.
Bundeskanzler Schober:
Ich greife diese Anregung nicht nur mit dem Herzen, sondern auch mit dem Verstande auf. Es ist ganz natürlich, daß wir unsere Vorarbeiten mit größter Beschleunigung, aber ganz vertraulich und von Regierung zu Regierung, in Angriff nehmen. Gewisse Vorarbeiten sind bereits geleistet worden, die man vielleicht heranziehen könnte. Natürlich müßten auch die wirtschaftlichen Verhältnisse geprüft werden.
Sektionschef Schüller:
Ich habe schon im Jahre 1918 in Salzburg eine Zollunion mit Deutschland abgeschlossen19. Dieser Entwurf als solcher ist natürlich unverwendbar, kann aber immer noch die Grundlage für unsere Arbeiten abgeben. Technisch ist die Sache heute leichter geworden, da nicht mehr das große Österreich-Ungarn, sondern nur das kleine Österreich als Vertragspartner gegenübersteht. Es kämen bei dieser Überprüfung folgende Fragen in Betracht:
- 19
Schüller bezieht sich auf die dt.-österr. Wirtschaftsverhandlungen im Frühsommer 1918 (Schultheß 1918 II, S. 38).
1. Da der deutsche Zolltarif ja im Falle einer Zollunion als gemeinsamer zu gelten hätte, müßte Österreich sich fragen, welche Änderungen des deutschen Zolltarifs es verlangen muß. Diese Arbeit, die auf österreichischer Seite zu machen ist, verlangt die Untersuchung durch einen einzigen Fachmann. Der Mann, der den Zolltarif macht, kann ganz allein den deutschen Zolltarif von diesem Gesichtspunkte aus durchsehen.
2. Der innere Verkehr zwischen den beiden Staaten. Im Jahre 1918 war die Lösung die, daß man der schwächeren österreichischen Wirtschaft eine Übergangszeit ermöglicht hat. Es waren zeitlich begrenzte und bescheidene Zwischenzölle vorgesehen, um die Anpassung zu ermöglichen. Die Österreicher sollten durch fünf Jahre einen Zwischenzoll erhalten, der der Differenz zwischen dem deutschen und österreichischen Zoll entspricht. Ob und in welchem Maße das noch notwendig ist, weiß ich nicht. Auch hier sind die Verhältnisse bedeutend vereinfacht. Immerhin werden solche Maßregeln nicht entbehrt werden können. Auch diese Arbeit kann von ein oder zwei Personen geleistet werden. Dieser Teil ist vielleicht der schwierigste, weil man nicht zu weit gehen darf, ohne den Gesamteindruck zu stören.
3. Zollverwaltung. Da haben wir ein gemeinsames Zollgesetz gemacht. Bei uns ist es in Kraft gesetzt worden und, wie ich glaube, auch im Deutschen Reiche. Da besteht also schon die Einigung. Die gegenseitige Kontrolle der Zollverwaltungen bietet gar keine Schwierigkeiten. Das macht man am besten mit gegenseitigen Bereisungen. Das wirkliche Problem ist, wie man Änderungen[1494] des bestehenden Zustandes behandelt: z. B. bei Änderung eines Zollsatzes. Bei jeder Änderung müßte die Art der Zusammenarbeit gefunden werden. In dem Salzburger Entwurf ist dafür Vorsorge getroffen worden. Wir Österreicher hatten auf diesem Gebiete durch unser Verhältnis mit Ungarn reiche Erfahrungen. Man muß hier sehr vorsichtig sein, um nicht etwas zu machen, woraus sich dann später ständige Schwierigkeiten und Reibungen ergeben. Die Sache ist natürlich leichter, wenn längere Ruheperioden kommen, als gegenwärtig, wo wir ständig Zollerhöhungen haben. Die Frage der Handelsvertragsverhandlungen mit dritten Staaten ist auch nicht schwierig. Wir sind jetzt kleiner geworden und können daher weniger Ansprüche stellen. Die ganze Frage der Zollverwaltung wäre daher zunächst von deutscher Seite zu beurteilen.
4. Für die Frage der Teilung der Zolleinnahmen ist im Salzburger Protokoll auch eine Lösung gefunden. Man kann das Verhältnis des letzten Jahres als Schlüssel nehmen und für die weitere Entwicklung Merkmale suchen, nach denen beurteilt werden kann, ob der Verkehr gestiegen ist.
Bundeskanzler Schober:
Die Ausführungen des Herrn Ministers Curtius und des Herrn Sektionschefs Schüller haben sich gegenseitig ergänzt und uns das richtige Bild geliefert. Wir haben die drei Grundprinzipien und dann die vier Hauptfragen für die Durchführung gehört. Durch die Änderung der österreichischen Verhältnisse ist die Frage gegenüber dem Jahre 1918 in vielen Punkten wesentlich erleichtert worden.
Reichsminister Curtius:
Es wären vielleicht auch noch andere Dinge in den Kreis der Erwägung zu ziehen, wie die Frage der Monopole und andere. Was die Rechtsfrage anbelangt, so wäre ein Gutachten darüber auszuarbeiten, ob die Ausführungen Riedls bezgl. der Zollunion auf Kündigung oder auf beschränkte Zeit zutreffend sind und vertreten werden können.
Sektionschef Schüller:
Die Rechtsfrage dreht sich darum, ob man behaupten kann, daß wir durch eine Zollunion mit Deutschland die Unabhängigkeit verlieren. In Wirklichkeit ist dies eine rein politische Frage. Daß wir die Zollunion mit Zustimmung des Völkerbundsrates machen können, steht außer Zweifel. Ohne Völkerbundsrat nur, wenn wir die Unabhängigkeit nicht aufgeben. Man kann nun gewiß nicht sagen, daß zwei Staaten, die miteinander eine Zollunion schließen, deswegen allein schon ihre Unabhängigkeit aufgeben. Die These der Entente besteht aber darin, daß ein kleiner Staat seine Unabhängigkeit verliert, wenn er mit einem großen eine Zollunion schließt. Es handelt sich daher vor allem um die Frage, wann der Zeitpunkt gekommen ist, daß wir diese These mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen können.
Reichskanzler Müller:
Ich stelle als Ergebnis fest, daß Einigung darüber erzielt worden ist, daß die Frage der Zollunion geprüft werden soll. Dabei soll deutscherseits das[1495] Riedlsche Gutachten und beiderseits das Salzburger Protokoll nachgeprüft werden20.
- 20
Riedl war an den Salzburger Verhandlungen 1918 beteiligt gewesen. Österr. Handelskreise hatten im Januar 1926 sein damaliges Gutachten wieder aufgenommen.
[Danach werden Benes’ Pläne einer Donauföderation besprochen. Der RK verliest abschließend das vereinbarte Communiqué.]