Text
[2477] Nr. 731
Der Preußische Ministerpräsident an den Reichskanzler. 30. April 1932
Betrifft: Bekämpfung der Arbeitslosigkeit
Sehr verehrter Herr Reichskanzler!
Die Preußische Staatsregierung hat mich nach eingehenden Beratungen beauftragt, Ihnen, Herr Reichskanzler, folgende Stellungnahme zu übermitteln.
Die Staatsregierung hat die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und ihrer Ausstrahlung auf alle Zweige des Gemeinschaftslebens, auf Wirtschaft, öffentliche Finanzen und den psychischen Zustand des Volkes unausgesetzt mit Sorgfalt und Sorge beobachtet. Fast jede der großen Fragen, welche die Regierungen des Reichs und der Länder und die Gemeindeverwaltungen zu entscheiden haben, führt auf dieses Problem zurück, daß damit als das Zentralproblem unserer inneren Politik bezeichnet werden muß. Hierin glaubt die Staatsregierung mit der Reichsregierung einig zu sein.
Dieses Problem kann, auch hierüber dürfte Einigkeit bestehen, nicht nur mit finanziellen Mitteln gelöst werden. Das würde nur zu immer höheren Lasten führen. Es kommt vielmehr in erster Linie darauf an, mit durchgreifenden Maßnahmen die Menschen an die Arbeit zu bringen. Das ist aus volkswirtschaftlichen und moralischen Gründen in gleicher Weise notwendig. Dabei kann auf eine Verminderung der Arbeitslosigkeit durch internationale Änderung der Konjunktur nicht gewartet werden. Ein erheblicher Teil der Arbeitslosigkeit ist überdies die natürliche Folge der fortschreitenden Rationalisierung, der Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch die Maschinen.
Die Preußische Staatsregierung hält zu diesem Ziele in erster Linie eine andere Verteilung der vorhandenen Arbeit durch eine systematische Kürzung der Arbeitszeit unter Rückführung der Arbeitslosen auf die dadurch freiwerdenden Arbeitsplätze für notwendig. Alle anderen Mittel versprechen für sich allein keinen genügenden Erfolg. Die Kürzung muß nach Ansicht der Staatsregierung soweit gehen, daß dadurch die überwiegende Zahl von Arbeitslosen Arbeit erhält. Es genügt daher nicht, daß für einige, meist schon kurzarbeitende Industrien die wöchentliche Arbeitszeit auf 40 Stunden festgesetzt wird. Die Kürzung muß vielmehr tunlichst allgemein angeordnet werden. Ausnahmen müssen besonderen Richtlinien der Reichsregierung und im einzelnen Fall der örtlichen Stelle vorbehalten werden.
Die Kürzung kann ferner, um ihren Zweck zu erreichen, nicht bei 40 Stunden halt machen, sie muß vielmehr darüber hinausgehen. Ob die Kürzung bei der Tagesschicht, bei der wöchentlichen Arbeitszeit oder im Wege des Krümpersystems1[2478] durchgeführt wird, kann dem einzelnen Betriebe überlassen bleiben. Aber nur gleichzeitige generelle Anordnung kann die erforderliche schlagartige Wirkung haben, die sich insbesondere auch in den Ersparnissen der öffentlichen Haushalte an Unterstützungsbeiträgen äußert.
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Krümpersystem war eine verkürzte militärische Ausbildung in Preußen von 1808–1812. Dadurch konnte die im Pariser Vertrag von 1808 festgelegte Höchstgrenze von 42 000 Mann eingehalten und zugleich eine Reserve von 150 000 Mann geschaffen werden. Hier ist vermutlich „job sharing“ gemeint, also die Besetzung einer Arbeitsstelle mit zwei Arbeitskräften.
Die Preußische Staatsregierung verkennt nicht, daß hierbei schwere Opfer von allen Seiten gefordert werden. Sie ist aber der Auffassung, daß ohne eine solche rigorose Maßnahme der große Zweck nicht erreicht werden kann. Dadurch werden nicht nur Arbeitslose in die Arbeit zurückgeführt, sondern auch die noch in Arbeit Stehenden vor der schweren Sorge des Ausscheidens soweit als möglich befreit.
Daneben muß sofort ein möglichst umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm, unter besonderer Berücksichtigung der ländlichen Siedlung in den östlichen Landesteilen, durchgeführt werden. Hierin weiß sich die Staatsregierung mit der Reichsregierung einig. Vor allem ist auf diesem Gebiete an Arbeiten zu denken, die von der öffentlichen Hand zu finanzieren sind. Hierbei würde man mit verhältnismäßig geringen zusätzlichen Mitteln eine Fülle von Arbeitskräften der Arbeit wiedergeben können, wenn man als Grundlage der Finanzierung des Arbeitsbeschaffungsprogramms diejenigen Beträge nehmen würde, welche bisher an Arbeitslosenunterstützung der verschiedensten Art völlig unproduktiv aufgewandt worden sind. Deshalb dürften selbstverständlich diese Arbeiten nur von Arbeitslosen ausgeführt werden, und zwar in erster Linie von solchen, die am längsten arbeitslos sind. Auch Maßnahmen der Arbeitsbeschaffung sollten, soweit möglich, nicht einzeln und nacheinander, sondern gleichzeitig in großem Maße einsetzen. Die Staatsregierung weist jedoch eindringlich darauf hin, daß durch diese Maßnahmen allein, ohne gleichzeitige systematische Kürzung der Arbeitszeit, kein ausreichender Erfolg erzielt werden kann.
Drittens muß sofort eine organisatorische Vereinfachung der Erwerbslosenfürsorge durchgeführt werden. Die Krisenfürsorge und die Wohlfahrtsfürsorge müssen vereinigt und nach vollständig gleichen Grundsätzen, insbesonders hinsichtlich der Bedürftigkeitsprüfung und der Unterstützungssätze für alle Personen, deren Unterstützungsanspruch gegen die Arbeitslosenversicherung fortgefallen ist, durchgeführt werden2. Dies kann nach Auffassung der Staatsregierung – vorbehaltlich einer Übergangsregelung für die zur Zeit in der Krisenfürsorge betreuten Personen – zweckmäßig nur bei den Gemeinden geschehen, die allein die erforderliche Sachkenntnis über die Familien- und Vermögensverhältnisse und über die Bedürftigkeit haben.
Bei Durchführung dieser Maßnahmen – Kürzung der Arbeitszeit, Arbeitsbeschaffung und organisatorische Vereinfachung der Erwerbslosenunterstützung – wird sich der Umfang der Arbeitslosigkeit und des Bedarfs an öffentlichen Mitteln erheblich senken, während er andernfalls noch steigen müßte. Diese Steigerung würde aber notwendig dazu führen, daß die Wirtschaft neu belastet werden müßte, da der bisherige Zustand ungenügender Gesamtfinanzierung zum Zusammenbruch führen würde.
[2479] Der Damm gegen die Flut der Arbeitslosigkeit ist zugleich das einzige Mittel, um die zweite große innerpolitische Frage, die Sanierung der Gemeindefinanzen zu lösen. Auch zu diesem Zweck sind die vorgeschlagenen Maßnahmen, durch welche die die öffentlichen Kassen schwer belastenden Unterstützungssummen in Arbeitslöhne umgewandelt würden, unerläßlich. Der Gesamtfehlbetrag der preußischen Gemeinden und Gemeindeverbände wurde bereits im Herbst 1931 für dieses Rechnungsjahr auf gegen ½ Milliarde geschätzt. Er hat sich trotz einschneidender Eingriffe, die sich im günstigen Sinne ausgewirkt haben, nicht verringert. Die dritte Besoldungskürzung3, die Entlastung infolge der Zinssenkung und die außerordentlich rigorosen Einsparungen, die bei den Gemeinden im Laufe des Rechnungsjahres 1931 eingetreten sind, (sie allein werden in Preußen auf 300 bis 400 Millionen im Jahresergebnis zu veranschlagen sein), werden für die Haushaltswirtschaft des Rechnungsjahres 1932 mehr als aufgehoben durch die zu erwartende Erhöhung der Zahl der Wohlfahrtserwerbslosen, durch den Rückgang des Gemeindeanteils an den großen Überweisungssteuern des Reiches und des Staates (insbesondere Einkommen- und Körperschaftssteuer sowie Hauszinssteuer), und durch den sehr starken Rückgang der eigenen Steuereinnahmen der Gemeinden. Auch für 1932 muß daher mit einem Gesamtdefizit von etwa einer halben Milliarde RM oder mehr allein für die preußischen Gemeinden und Gemeindeverbände gerechnet werden, das bei ungünstiger Entwicklung der Arbeitslosigkeit noch steigen würde.
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Siehe die Vo. zur Ergänzung der Ersten und Zweiten SparVo. vom 14.3.32 (Pr. Gesetzsammlung 1932, S. 123).
Solchen Fehlbeträgen mit ihrer verhängnisvollen Auswirkung auf die Kassenlage der Gemeinden kann, besonders wenn sie sich jetzt schon im dritten Jahre wiederholen, nicht mehr mit den bisherigen Mitteln der individuellen Beihilfen von Reich und Staat begegnet werden.
Auch wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen durchgeführt werden, ist eine andere Form der Finanzierung erforderlich, weil erfahrungsgemäß die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß zum großen Teil den in der Versicherung befindlichen, nicht den der Gemeinde zur Last fallenden Arbeitslosen zugute kommt. Der nach den vorgeschlagenen Maßnahmen notwendig bleibende verminderte Gesamtbedarf der bisherigen Krisen- und Wohlfahrtsunterstützung sollte nach Ansicht der Staatsregierung in der Hauptsache von den Haushalten der öffentlichen Verwaltung losgelöst werden. Das könnte geschehen, wenn er durch eine nach dem Bedarf veränderliche allgemeine Notabgabe gedeckt wird. Daneben wäre dann für die Krisenlohnsteuer kein Raum mehr. Die zweite Gehaltskürzung, welche bei den öffentlichen Beamten und Angestellten an die Stelle der Krisenlohnsteuer trat4, würde für sie die Notabgabe in entsprechendem Umfange ersetzen. Die Gemeinden (Fürsorgeverbände) würden einen bestimmten Beitrag zu leisten haben, der sich aber im Rahmen ihrer Kräfte halten würde.
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Vgl. die Zweite NotVo. zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen vom 5.6.31, RGBl. I, S. 279, hier Zweiter Teil, Kapitel I, Gehaltskürzung, S. 282, Dritter Teil, Kapitel III, Krisensteuer, S. 298.
Da die Durchführung der vorgeschlagenen Maßnahmen eine gewisse Zeit erfordert, müssen während der Übergangszeit finanzielle Maßnahmen getroffen werden, um die Gemeinden in den Stand zu setzen, daß sie bis dahin ihren Pflichten genügen.
[2480] Schnellste Entscheidung ist erforderlich. Besonders begrüßen würde ich es, wenn Sie die Güte hätten, bereits in den nächsten Tagen eine Chefbesprechung einzuberufen, in der der Staatsregierung Gelegenheit gegeben würde, ihre Vorschläge im einzelnen darzulegen5.
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Das Schreiben wurde von der Rkei nicht beantwortet.
In ausgezeichneter Hochachtung bin ich, Herr Reichskanzler,
Ihr
sehr ergebener
Braun